Das erste Kunstwerk, das Karen Green nach dem Selbstmord ihres Mannes David Foster Wallace am 12. September 2008 schuf, war eine Vergebungsmaschine. Im ordentlichen, weißen Atelier ihres Hauses nördlich von San Fransisco erklärt sie mir, wie die Maschine funktionierte - und in welcher Hinsicht nicht.
„Vor Davids Tod“, erzählt sie, “habe ich mit dem fünf Jahre alten Sohn eines Freundes, der eine Galerie in der Nähe von meiner besaß, an verschiedenen Maschinen gearbeitet.“ Darunter waren unter anderen eine Maschine, die aus Schinken wieder ein Schwein herstellen konnte und eine ausgetüftelte Apparatur zum Entkernen von Datteln. Am Tag, an dem ihr Mann sich erhängte, arbeitete sie an einer politischen Maschine mit einem bunten Zirkuszelt, Elefanten und Eseln. Nach diesem Tag konnte sie lange Zeit überhaupt keine Kunst machen, sie fragte sich gar, ob sie dies überhaupt jemals wieder können werde. Doch schließlich wagte sie sich vorsichtig an den versöhnenden Heath-Robinson’schen Apparat. Der sei „zwei Meter lang, höllisch schwer und voller verrückter Plastikteile“ gewesen. Die dahinter stehende Idee war, dass die Anwender auf einen Zettel schreiben konnten, was sie verzeihen, oder wofür sie um Vergebung bitten wollten. An einem Ende der Maschine wurde der Zettel dann eingezogen und am anderen Ende in Stücke zerrissen wieder ausgespuckt – fertig und verziehen!
Green stellte die Maschine in einer Galerie unweit des Ortes Claremont vor Los Angeles aus, in dem sie und Wallace während der vier Jahre ihrer Ehe gelebt hatten. Sie sei fasziniert gewesen von dem Effekt, den die Maschine auf die Ausstellungsbesucher gehabt habe, erinnert sie sich: „Das war schon seltsam. Es sah nach Spaß aus, wenn es dann aber soweit war, dass die Leute ihren Zettel einwerfen sollten, bekamen sie Angst. Als ob sie dächten: „Was, wenn es funktioniert und ich wirklich meinen schrecklichen Eltern oder wem auch immer verzeihen muss?“
Bollwerk gegen die Rollenzuschreibung
Sie selbst hat die Maschine letztlich – außer für ein paar Testzwecke – nicht benutzt. Sie war davon ausgegangen, dass sie nach der Vernissage noch einmal zurückkehren würde, stattdessen fuhr sie aber in ihr neues Zuhause nahe des Ortes, in dem sie aufgewachsen war und blieb dort. Die Maschine überlebte die Ausstellung übrigens nicht. Sie konnte all die Vergebungswünsche nicht bewältigen und wurde schließlich verschrottet. „Vergeben ist nie so einfach, wie wir es gern hätten“, meint ihre Schöpferin dazu. „Anscheinend sollen ziemlich viele Leute geweint haben.“
Wenngleich die Magie der Apparatur bei Green nicht funktionierte, brachte sie die Künstlerin doch immerhin zurück ins Studio, wo sie seither versucht, sich dem zu stellen – oder ein Bollwerk gegen das zu errichten – was zu der bestimmenden Tatsache ihres Lebens geworden ist – der Rolle, die inbrünstige, besessene Leser ihres verstorbenen Mannes ihr zugeteilt haben. „Ich soll mich wohl zusammenreißen und die professionelle Witwe geben“, lacht sie kurz auf. „Das fällt mir sehr, sehr schwer. An einem Tag ist man noch das Paar, das sich in seinem kleinem Haus die The Wire-DVD-Kollektion zum dritten Mal anguckt und die Hunde ihren Schabernak treiben lässt und plötzlich soll man als die Witwe eines großartigen Autors funktionieren. So war unser Leben zu Davids Lebzeiten aber nicht. Meine Gefühle für ihn waren nicht anders, als wenn ich mit einem netten Schullehrer verheiratet gewesen wäre. Bis jetzt habe ich all das im Grunde genommen von mir fern gehalten.“
Jetzt – damit meint sie auch, dass am 15. April Wallaces unvollendeter Roman The Pale King (dt.: "Der bleiche König") weltweit unter großem öffentlichen Aufsehen publiziert werden wird. Der bleiche König war das „große Ding“, an dem Wallace in den letzten zehn Jahren seines Lebens gearbeitet hatte. Es sollte der viel erwartete Nachfolger des 1000-seitigen düster-komischen Meisterwerkes Infinite Jest (dt. Unendlicher Spaß) sein, das Wallace mit 34 Jahren zu dem Autor gemacht hatte, der wohl am ehesten in der Lage gewesen wäre, die Möglichkeiten und Sprache des amerikanischen Romanes neu auszuloten.
Für Green gibt es viele Ungewissheiten in Bezug auf den Tod ihres Gatten. Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Dass Wallace wollte, dass The Pale King – auch in unvollendetem Zustand – veröffentlicht wird. „Er hinterließ seine Notizen und die fertigen Kapitel in einem ordentlichen Stapel in der Garage, in der er arbeitete. Und seine Lampen waren eingeschaltet und beschienen die Arbeit. Ich habe also keinerlei Zweifel daran, dass er es so wollte. So ordentlich hat David selten etwas hinterlassen.“
Die Existenz der Buches ist ein Wunder
Im Schock der unmittelbaren Trauer untersuchten Green und Wallaces langjährige Agentin Bonnie Nadell alles, was Wallace sonst noch geschrieben hatte, daraufhin, ob es in das Manuskript passen könnte. Das gesamte Material – Festplatten, Dateien, Notizbücher, Disketten – wurde Michael Pietsch, dem Freund und Lektor des Schriftstellers, überreicht, der die Aufzeichnungen in einem Seesack und zwei ausgebeulten Tüten mitnahm. „ Ich weiß, dass er wollte, dass Michael das Werk lektoriert,“ sagt Green. „Hat man die anderen Seiten gesehen, ist die Existenz des Buches eine Art Wunder. Nicht alles davon war getippt. Michael hat die Sachen sehr rasch abgeholt, ich habe ihm vollkommen vertraut. Als ich sie ihm gab, sagte ich einfach: „Eine schöne Scheidung wünsch' ich dir!“
Green hat das Buch erst eine Woche vor unserem Treffen gelesen. Sie hatte es zuvor schon einmal versucht, es aber nur bis auf die zweite Seite geschafft. Damals hatte die Lektüre sie so sehr mitgenommen, dass sie ihr Haus drei Tage lang nicht verlassen konnte. Diesmal hat sie es ohne Pause in ein paar Tagen heruntergelesen: „Es hat sogar Spaß gemacht, seine Gegenwart in meinem Kopf wieder zu spüren. Aber natürlich war es auch traurig, sich zu fragen, wie es weitergegangen wäre.“
The Pale King handelt von der Langeweile und davon, wie ein paar junge Amerikaner versuchen, deren Auswirkungen zu mildern, um es durch das Arbeitsleben zu schaffen (Wallace ist als Autor nie vor einer Herausforderung zurückgeschreckt). Der wichtigste Schauplatz sind die Büros des Finanzamtes in Peoria, Illinois. „Vielleicht geht Eintönigkeit mit physischem Schmerz einher“, schreibt Wallace einmal, „weil etwas Eintöniges oder Stumpfes nicht ausreichend Stimulation bietet, um von einem anderen, tieferen Schmerz abzulenken, der immer da ist, wenn auch nicht unmittelbar und nur schwach und von dem die meisten von uns sich unter Aufwendung ihrer gesamten Zeit und Energie abzulenken versuchen.“
An Wallace’ Schreiben wird immer wieder kritisiert, es fehle ihm bei allem einzigartigen Feuerzauber an Herz. Es sei etwas für junge Männer, die schlauer seien, als ihnen gut tue, geschrieben von einem jüngeren Mann, der viel schlauer gewesen sei, als ihm gut getan habe. Wie alle Zerrbilder ist auch dieses ungerecht – niemand kann Wallaces Werken vorwerfen, es gehe darin nicht stets um das Menschliche. Ein Körnchen Wahrheit steckt aber doch in dem Vorwurf. Auf die Frage, ob das Beste in Wallace immer Eingang in sein Schreiben gefunden habe, muss Green einen Augenblick überlegen. Mit überkreuzten Beinen sitzt sie in ihrem Lieblingsstuhl und hält sich an einer Tasse Kräutertee fest.
„Ich schätze, das hängt davon ab, wie man das Beste definiert“, sagt sie schließlich. „Ich sehe das allerdings nicht so. Die Stimme des Schriftstellers nahm ein Eigenleben an, was er glaube ich als sehr hemmend empfand. Ich denke, er hatte unter anderem damit zu kämpfen, auf diese Stimme einzuwirken. Nichts ist so schwer aufzugeben wie Klugheit – besonders für jemanden, der so klug ist, wie David es war. Es ist wie nackt sein, oder wie zu heiraten statt One-Night-Stands zu haben. Man will nicht für sentimental gehalten werden. Schriftsteller auf jeden Fall nicht.“
Mit Korrekturen zurück
Es war Karen Greens Kunst, die die beidenzusammenbrachte. Ihre erste Begegnung setzte den Ton für das, was folgen sollte. Sie wollte ihn umschreiben, einen glücklichen Ausgang möglich machen.
„Ich habe sein Buch Brief Interviews with Hideous Men (dt.: Kurze Interviews mit fiesen Männern) für einen Dollar in einem Second-Hand-Laden gefunden,“ erinnert sie sich. „Damals nahm ich Texte anderer Leute, zerstückelte sie und setzte sie zu etwas Neuem zusammen, schrieb ihre Geschichte mit den Worten um, die sei benutzt hatten. Ich las in dem Buch die Geschichte The depressed Person (dt.: Die depressive Person) und wollte unbedingt damit arbeiten.“
Während seines Studiums der Anglistik und Philosophie am Amherst College wurde Wallace erstmals wegen Depressionen im Krankenhaus behandelt. Seine erste literarische Veröffentlichung, die für das Amherst Magazine geschriebene Geschichte The Planet Trillaphon as ist stands in Relation to the Bad Thing war, wie ein großer Teil seines späteren Schaffens, in entfernter Form ein Bericht über sein eigenes Verhältnis zu der depressiven Erkrankung. Trillaphon ist der Name eines Antidepressivums, das „bad thing“ das weitgehend unbeschreibbare innere Empfinden, immer unter Wasser zu sein, das keine Oberfläche hat oder das „jede Zelle in deinem Körper durch und durch krank ist“. Die depressive Person, eine 1998 für das Harper Magazin verfasste noch klaustrophobischere Weiterentwicklung dieses Gedankens, ist aus dem Kopf einer namentlich nicht genannten Frau heraus erzählt, die jeden Tag auf’s Neue von einem Netz aus Freunden gestützt wird. Diese ermöglichen ihr überhaupt weiterzumachen, können aber, das weiß sie, ihre Anrufe nicht ertragen. Als Green die Geschichte las, wurde sie von dem starken Bedürfnis ergriffen, die Erzählung irgendwie zu retten, der depressiven Person das Atmen zu ermöglichen. Sie schrieb Wallace ein Fax, um ihn zu fragen, ob er etwas dagegen habe. Er antwortete ihr, das habe er nicht, wobei er gleichzeitig auch noch ihre Grammatik korrigierte.
Als das Kunstwerk fertig war, brachte sie es nach L.A., um es Wallace zu zeigen. „Ich glaube, er mochte es, auf diese Weise von fremder Hand bearbeitet zu werden“, meint sie heute. „Er ging sehr liebenswürdig damit um. Ich hatte das Ding immerhin ordentlich auf den Kopf gestellt. Ich hatte mir wirklich Mühe gegeben, aber an der Geschichte war dennoch nichts Glückliches. Es gab nichts, das man in etwas Schönes hätte umwandeln können.“
Zu welchem Ende hat sie sie gebracht?
„Ich kann mich nicht mehr genau an die letzte Zeile erinnern, aber ich glaube in etwa hieß es: „And then she felt like laughing and fucking.“ Sie lacht. „Das war ganz ehrlich das Beste, was ich rausholen konnte.“ Nach einer Weile fügt sie hinzu: „Wir waren eine Zeit lang nett zueinander und dann irgendwann richtig nett.“
Einfach mit dem Schreiben aufhören?
Eine ganze Zeit lang schien es, als habe Green einen ähnlichen Effekt auf Wallace gehabt, wie auf seine Geschichte. Im Juli 2005 schrieb er eine E-Mail an seinen Freund Jonathan Franzen, in der er selten nah dran war, sich Zufriedenheit zuzugestehen: „Karen tut, was sie kann, das Haus in Schuss zu bringen. Ich sitze in der Garage, die Klimaanlage läuft auf Hochtouren und ich arbeite sehr mäßig und stockend und (an manchen Tagen) mit großem Widerwillen und Ambivalenz und Schmerz. Es scheint, ich bin meiner selbst müde: Müde meiner Gedanken, Assoziationen, Syntax, meiner vielfältigen verbalen Angewohnheiten, die von einer Entdeckung zu einer Technik und schließlich einem Tick wurden. In Bezug auf die Arbeit eine sehr dunkle, in jeder anderen Hinsicht aber eine sehr lichte und schöne Zeit. Ingesamt fühle ich mich also, als ob es vorwärts geht und ziemlich glücklich.“
Eines der Dinge, über die Wallace gelegentlich in seinem Mails an den Freund sprach, war die Fantasie, mit dem Schreiben aufzuhören. Auch mit Green sprach er oft über die Möglichkeit, den Roman nicht zu schreiben, nicht in seiner klimatisierten Garage zu sitzen und sich mit „dem großen Ding“ abzumühen. Er hing sehr an seinen zwei Hunden, an manchen Tagen fragte er sich, ob er nicht ein Hundeheim eröffnen sollte. Vor allem, so scheint es, wollte er den endlosen Prozess der Auswertung, Revision und Analyse anhalten, der seinen Geist beschäftigte und der in seinen Büchern Ausdruck fand.
„Er sprach oft darüber“, entsinnt sich Green. „Ich denke, ihm war die Freude größtenteils abhanden gekommen. Er hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Studenten am Pomona College in Claremont, seine Arbeit als Professor dort gefiel ihm. Aber er gibt da diesen Ort, an den man gelangen kann, wenn man schreibt oder Kunst macht, einen vollkommen menschlichen Ort. Einen Ort, an dem man Zugang zu allem hat. Mit einem Gehirn wie dem seinen und der Art, wie es verschaltet war, fiel es ihm sehr schwer dorthin zu kommen. Er wurde zu sehr umhergetrieben. Manchmal war ihm eine knappe Abgabefrist eine Hilfe. Er schrieb für die New York Times ein Stück über Roger Federer. Das hat ihm wirklich Spaß gemacht, aber so etwas war selten.“
Wallace, so scheint es mir, versuchte verzweifelt, sich vor der Welt zu schützen – hatte er irgendwann einen Tod oder Verlust aus nächster Nähe miterlebt? Green schüttelt den Kopf: „Nein – seine Großmutter, seine Tante – aber nein. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass seine Hunde sterben könnten. Und nachts hat er mir immer gesagt: „Stirb nicht!“ Sie hält kurz inne und sagt dann: „Die Erinnerung daran ist nicht einfach. Es ist schwierig, zärtlich an Zärtlichkeiten zurück zu denken.“
Eines der vielen Dinge, vor denen sie vor der Veröffentlichung von The Pale King Angst hat, ist, dass das Buch als erweiterter Abschiedsbrief gelesen werden wird, als Erklärung für das Ende, das Wallace seinem Leben gesetzt hat. Glaubt sie, dass seine Krankheit und sein Schreiben denselben Ursprung hatten, dass das eine nicht ohne das andere zu haben gewesen sei?
Nein, sagt sie, aber sie bekomme E-Mails von Lesern, die an den hartnäckigen Mythos des gequälten Genies glauben wollten, den Schmerz als Vorraussetzung für Kreativität sehen, Wallace zu einer Art James Dean der Literatur machen wollten. „Die Leute begreifen nicht, wie krank er war. Dieses Monster hat ihn einfach aufgefressen. An einem bestimmten Punkt war alles der Krankheit untergeordnet. Nicht nur das Schreiben, sondern auch alles andere: Essen, Liebe, Zuflucht...“
In den Nachrufen wird Wallace oft mit den Worten zitiert, er wolle „versuchen, zu vermitteln, was es heißt ein Mensch zu sein oder bei dem Versuch sterben.“ Ist das Schreiben, die Kunst, jemals von größerem Wert als das Leben? Aus dieser Nähe natürlich nie.
Am nächsten Tag schreibt Green per E-Mail etwas, das vielleicht das Letzte ist, was sie zu dem Thema sagen möchte: „Davids Arbeit ist außergewöhnlich und Grund, gefeiert zu werden. Aber nicht von mir. Macht sein Tod es eindringlicher? Ja. Glaube ich, dass er es, wenn er weitergelebt hätte so eindringlich hätte werden lassen können, wie er es für angemessen hielt? Das glaube ich. Deshalb kann ich es nicht „feiern“...“
Ihre Email schließt mit einer Erinnerung an ihre erste Begegnung, an die Hoffnung auf ein anderes Schicksal: „Ich habe noch immer ein anderes Ende (für ihn, für mich): Darin kontrolliert er seine eigene verdammte Anrührbarkeit und gibt mir einen Gutenacht-Kuss.“
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