Kein Nullsummenspiel

Festung Europa Die EU braucht ein gemeinsames Asylgesetz. Die Regierungschefs dürfen sich ihre Agenda nicht von den Populisten diktieren lassen, die europaweit in den Parlamenten sitzen

Die europäischen Versprechen, Menschen in Not zu helfen, wurden in jüngster Zeit gründlich auf die Probe gestellt und Europa hat bei dieser Prüfung kollektiv versagt. Wir brauchen dringend ein gemeinsames Asylverfahren, das die Verantwortung zwischen den EU-Mitgliedern wieder ins Gleichgewicht bringt.

Im historischen Vergleich ist die Zahl der Asylsuchenden, die heutzutage in Europa ankommen, gering. An einigen Grenzübergängen herrscht allerdings ein gewaltiger Druck und es fehlt an der nötigen Ausstattung, um die Anträge korrekt zu bearbeiten. Das ist ungerecht gegenüber den Asylsuchenden wie auch gegenüber einer Öffentlichkeit, die sich darauf verlassen können muss, dass das System denjenigen hilft, die der Hilfe am meisten bedürfen.

Die Gründe dafür, dass die Verhandlungen über ein EU-weites, einheitliches Asylgesetz zu langsam vonstatten gehen, liegen im ökonomischen Klima begründet, das gegenwärtig in Europa herrscht. Während die Krise dazu geführt hat, dass die Europäische Union seit vielen Monaten vornehmlich mit sich selbst beschäftigt ist, haben die Aufstände in Nordafrika und anderswo viele dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Ist Europa willens und in der Lage, sich auch weiterhin derjenigen anzunehmen, die des Schutzes bedürfen und gleichzeitig seine eigenen wirtschaftlichen Probleme zu bewältigen?

75 Prozent der Anträge wurden in sechs Ländern gestellt

Gewisse Zahlen geben Anlass zur Sorge: In den ersten drei Quartalen des Jahres 2011 wurden 75 Prozent aller Asylanträge in der EU in nur sechs Mitgliedsländern gestellt. Eines davon war mit 20.000 Anträgen das Vereinigte Königreich. Das sind zwar eine Menge, aber nur halb so viele wie in Frankreich oder Deutschland und immer noch weniger als in Belgien oder Schweden. Von den über 700.000 Menschen, die vor der Gewalt in Libyen flohen, sind viele in den Flüchtlingslagern benachbarter Länder gelandet. Von den 8.000, die nach Einschätzung der UN ganz besonders dringend der Hilfe bedürfen, konnten die EU-Staaten sich nur zur Aufnahme von 400 durchringen. Das Nicht-EU-Land Norwegen allein hat fast genau so viele aufgenommen.

2011 haben über 50.000 Migranten das Mittelmeer in klapprigen Schiffen in Richtung Europa überquert. Viel zu viele sind bei dem Versuch ums Leben gekommen: Neuste Zahlen der UN sprechen von ungefähr 1.500. Diejenigen, die Lampedusa oder Malta erreichten, mussten dort bleiben, obwohl die Auffanglager völlig überfüllt waren. Andere Mitgliedstaaten halfen Italien und Malta kaum, sich um diese Menschen zu kümmern. So wurden von Malta aus wurden lediglich 300 Flüchtlinge in anderen EU-Staaten aufgenommen. In Großbritannien waren es lediglich 10. Gleichzeitig gehört das Vereinigte Königreich aber auch zu den zehn Ländern, die auf eine lange Tradition der Neuansiedlung von Flüchtlingen innerhalb des UN-Systems zurückblicken können. So nahm das Land 2010 720 solcher Flüchtlinge auf, die in Länder gestrandet waren, in denen sie keine Zukunft hatten – die zweithöchste Zahl innerhalb der EU.

In vielen EU-Mitgliedsländern ist die Stimmung inzwischen allerdings sehr negativ und in den nationalen Parlamenten sitzen so viele populistische und ausländerfeindliche Parteien wie seit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Erwartungsgemäß nutzen sie die gegenwärtige Krise, um den Einwanderern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die europäischen und nationalen Regierungschefs dürfen sich von dieser populistischen Rhetorik nicht die Agenda diktieren lassen. Denn entgegen dem, was uns die Xenophoben Glauben machen wollen, liegt die Zahl der Asylbewerber in Europa weit niedriger als noch vor zehn Jahren und es kann nicht die Rede davon sein, dass Europa in seiner Asylpolitik besonders offen wäre. In Kenia allein leben mehr Flüchtlinge als in den 27 Ländern der EU.

Trotzdem können unvorhersehbare Ereignisse wie etwa der so genannten arabische Frühling die Aufnahmekapazitäten einzelner Länder übersteigen. Europa muss deshalb darauf vorbereitet sein, die einzelnen Mitgliedsländer zu unterstützen, damit die Menschen würdevoll aufgenommen werden können.

Die EU hat sich ein Ultimatum gesetzt

Trotz der gemeinsamen Mindeststandards führen die Asylverfahren einiger Länder zu unhaltbaren Aufnahmebedingungen und die Standards für die Gewährung des Flüchtlingsstatus variieren zwischen den einzelnen Ländern gewaltig. Das ist nicht hinnehmbar, denn schließlich haben alle EU-Mitglieder die selben internationalen Konventionen unterschrieben und teilen die selben Werte. Wir brauchen gemeinsame, hohe Standards und eine stärkere Kooperation, um gewährleisten zu können, dass Asylbewerber in einem offenen und fairen Verfahren gleichberechtigt behandelt werden – unabhängig davon, wo sie ihren Antrag stellen.

Zu diesem Zweck tastet sich die EU seit über zehn Jahren in Richtung einer gemeinsamen Asylpolitik vor und hat sich für 2012 ein Ultimatum gesetzt, um ein gemeinsames Verfahren zu implementieren. Aber nach wie vor kommen die Verhandlungen nur langsam voran. Die Gespräche müssen intensiviert werden.

Ich bin davon überzeugt, dass wir ohne Abstriche in der Lage sind, mit unseren wirtschaftlichen Schwierigkeiten fertig zu werden und gleichzeitig unseren Idealen der Offenheit, Toleranz und Solidarität treu zu bleiben. Unser Engagement kann kein Nullsummenspiel sein. Ich erwarte, dass in diesem Jahr alle Minister ihre Versprechen einhalten, sich zu gegenseitiger Hilfe bereit erklären und das gemeinsame Verfahren schließlich in Kraft setzen.

Cecilia Malmström

ist EU-Kommissarin für innere Angelegenheiten. Am vergangenen Mittwoch traf sie sich mit den Innenministern der Mitgliedsländer, um auf das im Text genannte Ziel hinzuarbeiten.


Eine kritische Berichterstattung zur Asylpolitik der EU findet sich unter anderem hier

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Cecilia Malmström | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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