Kein Ritt auf der Brechstange

Syrien Assad-Truppen sind in der Provinz Idlib auf dem Vormarsch. Dadurch ist das Verhältnis zwischen Moskau und Ankara belastet
Ausgabe 35/2019
Mit Khan Sheikhun hat die syrische Armee eher ein Schlachtfeld als eine Stadt erobert
Mit Khan Sheikhun hat die syrische Armee eher ein Schlachtfeld als eine Stadt erobert

Foto: Omar Haj Kadour/AFP/Getty Images, Karte: der Feritag

Präsident Assad ist seit einer Woche im Ringen um die Provinz Idlib, der letzten Rebellendomäne im Norden, einen Schritt weiter. Seine Truppen haben die Stadt Khan Sheikhun eingenommen und dort bisher stehende Dschihadisten zum Rückzug gezwungen. Größtenteils handelt es sich um Kombattanten der Al-Qaida nahestehenden extremistischen Gruppe Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS). Deren Führung teilt nun mit, Stellungen im Süden der Provinz bezogen zu haben und die auf jeden Fall halten zu wollen.

Auch wenn die Türkei als Reaktion auf das Vorrücken der Assad-Armee Panzer und gepanzerte Fahrzeuge bis weit in syrisches Gebiet rollen ließ, konnte das den Machtwechsel in Khan Sheikhun nicht aufhalten. Von Anfang an galt die Stadt als Schlüsselziel einer im April begonnenen Offensive, die trotz russischer Luftunterstützung zunächst nicht vorankam. Seit dem Fall von Khan Sheikhun ist nun allerdings eine Situation eingetreten, die bis zu 500.000 Menschen in die Flucht treibt. Der Zustrom aus dem Süden und der Mitte Idlibs sprenge die Grenzen ihrer Belastbarkeit, vermelden Hilfsorganisationen. Das gelte erst recht, seit mit der geschlossenen türkischen Grenze Flüchtlingen jeder Ausweg versperrt sei. „Die Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastrukturen nehmen weiter zu“, resümiert Rehana Zawar, die für Syrien zuständige Direktorin des International Rescue Committee. „Mindestens 45 Schulen wurden zerstört, bei Gesundheitszentren sieht es ähnlich aus.“ Auch Bäckereien und Marktplätze seien in Mitleidenschaft gezogen.

Noch stehen in Idlib islamistische Gruppierungen mit anderen Anti-Assad-Kämpfern in einer Front und beherrschen Teile der Provinz. Eben damit begründen Russland und die Führung in Damaskus ihr Ziel, den gesamten Nordwesten Syriens zurückzuerobern, in dem bis zu drei Millionen Menschen aus allen Landesteilen Zuflucht gesucht haben. Sie kamen als Binnenflüchtlinge zu allen Zeiten des 2011 begonnenen Bürgerkrieges, so aus der Stadt Homs, wo der Aufstand gegen Assad in den ersten Jahren der Schlacht um Syrien in Schwung kam. Ein Auskommen in Idlib suchten Tausende Ende 2016, als die Assad-Truppen die Metropole Aleppo wieder komplett beherrschten. Den letzten Zustrom gab es im April 2018, als die Rebellenbastion Ost-Ghouta bei Damaskus fiel. Manche der in Idlib Gestrandeten gingen Bündnisse mit Extremisten ein, um zu überleben. Auch das lässt viele jetzt um ihre Existenz fürchten und angebotenen humanitären Korridoren misstrauen.

Die Türkei will die Provinz militärisch nicht fallen lassen, schon um die eigene Grenze keinem erhöhten Flüchtlingsdruck auszusetzen. Das käme in einem Augenblick höchst ungelegen, in dem die türkischen Behörden begonnen haben, Syrer in Istanbul und anderen Städten festzunehmen, zu internieren und mit der anstehenden Abschiebung in ihr Herkunftsland zu konfrontieren. Was einmal mehr bedauern lässt, dass Ankara, Moskau und Teheran zwar auf eine politische Lösung in Idlib drängen, diese aber wegen sich widersprechender Interessen nicht zuwegebringen. Die im September 2018 zwischen Russland und der Türkei vereinbarte entmilitarisierte Pufferzone (s. Karte) hat kaum mehr Bestand, seit aus diesem Gebiet heraus die russische Luftwaffenbasis Hmeimim beschossen wurde, ein Verstoß gegen das Agreement mit der Türkei, die das eigentlich unterbinden wollte. Ein von türkischem Militär nördlich von Khan Sheikhun eingerichteter Beobachterposten liegt nun plötzlich mitten auf von der Assad-Regierung kontrolliertem Terrain. Die dort aushaltenden Soldaten werden nicht evakuiert, heißt es bisher aus Ankara, auch wenn ein für sie bestimmter Versorgungstross von der syrischen Luftwaffe angegriffen wurde. Doch steht völlig außer Frage, dass der Umgang mit derartigen Vorposten zur Sprache kam, als Erdoğan zu Beginn der Woche mit Wladimir Putin in Moskau verhandelte und man sich zusicherte, dass nichts aus dem Ruder laufen dürfe.

Schrittweises Vorgehen

Die Regierung Erdoğan hat das Anti-Assad-Lager in den frühen Jahren des Konflikts nicht nur lautstark, sondern auch durch Waffen und Transitkorridore für den Nachschub unterstützt. Inzwischen hat das Ansinnen Vorrang, die Kurden-Dynamik in Nordsyrien zu verändern und einen Autonomiestatus zu verhindern, der Vorstufe zu einem Kurdenstaat sein könnte. Russland und der Iran wollen stattdessen, dass sich der hohe Aufwand an militärischen und finanziellen Ressourcen zu Assads Verteidigung auszahlt. Sollte Damaskus die umkämpfte Provinz vollends zurückerobern, wäre damit viel für die Integrität des syrischen Staates erreicht. Vorerst sichert die Einnahme von Khan Sheikhun die Kontrolle über die Fernverkehrsstraße, die von Aleppo über Zentralsyrien nach Damaskus führt. Wird die Stadt gehalten, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die noch im Süden der Provinz stehenden HTS-Verbände eingekesselt und früher oder später aufgeben werden. Es wird offenbar, dass die Assad-Armee, statt eine Großoffensive zu starten, wie sie noch im April möglich schien, nunmehr schrittweise vorgeht. Sie wird sicher nur dann innehalten müssen, sollte das Verhältnis zwischen Ankara und Moskau über Gebühr belastet werden.

Martin Chulov ist Nahost-Korrespondent des Guardian

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Martin Chulov | The Guardian

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