Keiner wird gewinnen

Patt Israel und die Hamas stehen sich unversöhnlich gegenüber. Am meisten leidet die Zivilbevölkerung
Ausgabe 29/2014
Israelische Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen
Israelische Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen

Foto: Jack Guez / AFP

In einer Seitenstraße des Al Shati-Flüchtlingscamps hat gerade eine Warnrakete auf dem Dach des Hauses von Alaa Hadeedi „angeklopft“. Über die Straße zieht Nebel aus dünnem Rauch. Ein paar Krankenwagen warten etwa 100 Meter entfernt, dahinter sammeln sich Nachbarn, um zuzusehen. Plötzlich ein Rufen, jemand muss das Geräusch eines zweiten Geschosses gehört haben – diesmal das richtige. Die Zuschauer weichen erschrocken zurück. Alaa Hadeedis Haus verschwindet krachend in einer Wolke aus Rauch, Beton und gesplittertem Holz.

Wer ist dieser Alaa Hadeedi? Hamas-Mitglied oder -Kommandeur? Tatsächlich handelt es sich um einen Taxifahrer, der nicht zu Hause ist, als die Rakete einschlägt. Da er Benzin in seinen Haus gelagert hat, steigt nach der Detonation ein orangefarbener Feuerball auf.

Offenbar beschießt die israelische Armee ziemlich wahllos Häuser im Gazastreifen. Nach Angaben der hier ansässigen Menschenrechtsgruppe Al Mezan sind bis zum letzten Wochenende 869 Gebäude bei Angriffen zerstört oder beschädigt worden. Etwa 180 Menschen, viele davon Zivilisten, haben das nicht überlebt. Damit die Zahl nicht ins Uferlose steigt, wird „angeklopft“, wie israelische Militärs den Abschuss von Warnraketen nennen, um das Risiko von so genannten Kollateralschäden einzudämmen. Wie gut ihnen das gelingt, zeigen die steigenden Opferzahlen.

Etwa anderthalb Kilometer von Alaa Hadeedis Haus entfernt, aber immer noch im Viertel Al Shati, untersucht Nasser Tatar die Ruinen seines Hauses und seiner Privatpraxis. Tatar ist Generaldirektor des Schifa-Hospitals, des größten Medizin-Zentrums im Gazastreifen. Er sei am Sonntagabend gerade zu seiner Familie zurückgekehrt, nachdem er eine Woche lang durchgearbeitet habe. Das Krankenhaus sei völlig überlastet, die Ressourcen gingen zur Neige. „Wir hatten Dutzende von Toten und Hunderte von Verletzten. Ich musste im Krankenhaus bleiben. Es war kurz nach dem Fastenbrechen gegen 20.00 Uhr, als mein Neffe anrief, um mir zu sagen, die Israelis hätten telefonisch durchgegeben, dass in zehn Minuten mein Haus zerstört werde. Tatsächlich blieben uns weniger als zehn Minuten. Ich habe meine Familie schnell rausgeholt und die Nachbarn gewarnt. Dann schlugen zwei Raketen ein.“

Nasser Tatar watet durch die Trümmer, nimmt ein Buch hoch, das auf seinem nun staubbedeckten Schreibtisch liegen geblieben ist, und betrachtet den Krater in der Mitte des ausgebrannten Gebäudes. „Ich kann mir nicht erklären, warum sie das getan haben“, sagt der 59-Jährige. „Ich bin seit 25 Jahren Arzt, war Kardiologe, dann Chef der Kardiologie und Generaldirektor des Schifa-Hospitals. Ich habe versucht, über verschiedene Kanäle herauszufinden, warum das passiert ist. Ich erhielt keine Antwort.“

Zehn Minuten Zeit

Am gleichen Tag warnt Israel alle Bewohner im Norden – von wo aus angeblich besonders viele Raketen abgeschossen werden –, sich vor einem Großangriff in Sicherheit zu bringen. In einem Gebiet, in dem zwischen 70.000 und 100.000 Menschen leben, löst diese Ankündigung Entsetzen und Panik aus. Im Dorf Al Tatra, das etwa zwei Kilometer von der israelischen Grenze entfernt liegt, ist die 34-jährige Hinab Abu Halma trotz allem geblieben. „Wir sind Landwirte, ich muss meinem Bruder helfen, das Korn zu wässern, sonst ist alles verloren. Natürlich haben wir Angst. Es ist ja kaum noch jemand hier.“ In der Nähe detoniert eine Panzergranate. Hinab drückt sich aufrecht gegen eine Wand und bricht in Tränen aus. Ein Angebot, sie mit zurück nach Gaza-Stadt zu nehmen, wird nicht angenommen. „Mein Bruder ist noch hier“, sagt Hinab. „Ich weiß nicht, wo er abgeblieben ist. Ich muss abwarten, bis ich weiß, dass er in Sicherheit ist.“

Wer aus Al Tatra fliehen musste, hat zumeist in einer der überfüllten UN-Unterkünfte in Gaza-Stadt Zuflucht gefunden. In der Olfaktorisch-Schule balancieren zehn- bis zwölfjährige Jungen gestapeltes Bettzeug auf ihren Köpfen. Vor einem zum Schlafsaal umgewandelten Klassenraum sitzt Schirach Salman (56) mit ihrer 15köpfigen Familie. „Wir haben auf dem Boden geschlafen“, erzählt sie. „Alle Zimmer waren voll, und wir hatten kein Bettzeug. Dennoch sind wir froh, hier gelandet zu sein. Unser Dorf liegt nun einmal nicht weit weg von der Grenze. Als von dort geschossen wurde, mussten wir unser Zuhause verlassen. Wir gehen erst zurück, wenn es vorbei ist.“

Nicht alle denken so. Noch in Al Tatra sitzt der 42jährige Klimaanlagen-Techniker Yasser Khedir vor seinem Laden, dazu der sechzehnjährige Sohn Farös und ein paar andere Jungen. Khedir erzählt von früheren Gaza-Kriegen, den Operationen Gegossenes Blei Ende 2008 und Wolkensäule im Jahr 2012. „Mein Neffe wurde 2012 gleich hier die Straße hoch getötet. Ich selbst habe im Dezember 2008 20 Tage in einer UN-Schule verbracht. Das wird sich nicht wiederholen. Ich habe mich dort gedemütigt gefühlt. Meine Frau und die anderen Kinder sind jetzt in Gaza-Stadt. Ich aber bleibe in meinem Geschäft. Wenn ich sterben muss, dann lieber zuhause.“

Vor ein paar Wochen traf ich im Militärhauptquartier in Tel Aviv einen hochrangigen Offizier. Das Gespräch kam auf die zu diesem Zeitpunkt bereits laufende Kampagne gegen die Hamas in der Westbank. Der Oberst sprach von „Normalität“. Schließlich kämpfe seine Armee schon seit vielen Jahren gegen die Hamas. Erst später, als ich noch einmal über seine Worte nachdachte, wurde mir bewusst, welche Frage ich hätte stellen sollen: Warum glaubt ihr, dass ein Krieg, den ihr nun zum dritten Mal führt, anders ausgeht als die beiden vorhergehenden Gaza-Operationen?

Das Paradoxe besteht doch darin, dass sich nichts ändern kann. Trotz der Rhetorik auf beiden Seiten wird Israel ebenso wenig gewinnen, wie die Hamas verlieren oder gar vernichtend geschlagen wird.

Viele israelische Politiker wissen zudem genau, dass eine Niederlage der Hamas, wie sie der israelischen Öffentlichkeit regelmäßig als unwiderruflich hingestellt wird, keineswegs im Interesse des Landes liegt. Käme es dazu, würde damit das Entstehen viel radikalerer Gruppen bewirkt. Es kämen Überzeugungstäter zum Zug, die sich nicht im geringsten an irgendwelche Vereinbarungen halten, weil sie daran nie beteiligt waren.

Alles wie gehabt

Als die von den USA verlangten Verhandlungen mit den Palästinensern Anfang April zusammenbrachen, hat Premier Benjamin Netanjahu augenscheinlich geglaubt, der Verzicht auf den Friedensprozess bedeute Rückkehr zum Status quo. Stattdessen sind die Spannungen eskaliert. Was also wird mit dem Blut all der Toten erkauft? Nicht das Ende des Konflikts, aber eine Phase der Ruhe für die Israelis, die nicht von Dauer sein wird, weil sich am Grundkonflikt nichts ändert. Politisch ist dafür gesorgt worden, dass Netanjahus wacklige Rechtsaußen-Koalition ein weiteres Jahr oder länger besteht.

Das heißt, eine weitere Gaza-Intervention endet wie die 2008 oder 2012. Die Führung Ägyptens wird wohl eine Waffenruhe vermitteln und darauf achten, dass die Hamas geschwächt, aber der eigene Anteil daran nicht allzu offensichtlich wird. So treibt dieser dümmste aller Nahost-Kriege seinem Ende entgegen – die israelischen Panzer werden in ihre Stützpunkte zurückrollen, die Mannschaften der Raketen-Basen in Gaza ihre Wunden lecken und Wandgemälde in Auftrag geben, damit die Gefallenen nicht dem kollektiven Gedächtnis entgleiten. Und die zivilen Todesopfer? Sie werden tot bleiben, weggeworfen in einem sinnlosen Schachspiel, das keinen Sieger kennt.

Peter Beaumont ist Israel-Korrespondent des Guardian

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Peter Beaumont | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden