Kerry, go away

Bilanz Seit fast einem Jahr pendelt der amerikanische Außenminister zwischen Israelis und Palästinensern hin und her. Dem Frieden aber sind beide Seiten nicht näher
Ausgabe 16/2014

Bitte, John Kerry, hören Sie auf, zwischen uns und den Palästinensern hin und her zu rennen. Es ist genug. Machen Sie Urlaub, ruhen Sie sich aus. Schauen Sie uns lieber aus der Ferne zu. Lassen Sie uns allein.

Man hätte uns eigentlich von Anfang an allein lassen sollen, ohne die Hilfe der Amerikaner, der Europäischen Union und all der anderen Weltverbesserer. Wir allein mit dem Mittelmeer auf der einen und den Bergen auf der anderen Seite. Allein mit unseren Nachbarn, den Ägyptern, Jordaniern, Syrer und Libanesen. Und den Palästinensern, jenen Menschen gleich nebenan, die wir hinter Mauern in ein Land gesperrt haben, das von Straßen, die nur wir benutzen dürfen, nun wie von Furchen durchzogen ist. Wir haben es mit rotgedeckten Häusern übersät, in denen nur wir wohnen. Wir haben ihre Straßen mit Checkpoints abgeriegelt, die „unsere Kinder“ bewachen, damit ihre Kinder nicht herüberkommen können.

Wenn wir uns selbst überlassen wären, würde dieses falsche Ritual, das sich Friedensverhandlung nennt und inzwischen zu einem Selbstzweck geworden ist, vielleicht endlich ein Ende haben. Trotz all des Herumgerennes, hochöffentlich und inoffiziell, haben doch alle bemerkt, was im Hintergrund wirklich passiert ist: Benjamin Netanjahu und seine Regierungskoalition haben weitere umfangreiche Siedlungen in den besetzten Gebieten beschlossen. Nur das schafft konkrete Fakten; nicht die Gespräche oder die Freilassung palästinensischer Gefangener. Wir würden wahrscheinlich ein ganzes Gefängnis freilassen, wenn man uns nur weiter an diesem größenwahnsinnigen Land Israel bauen ließe. Wir glauben nämlich, wir könnten die Anderen austricksen und tun doch nichts anderes, als unsere eigenen Bürger für dumm zu verkaufen.

Herr Kerry, Sie hatten wahrscheinlich geglaubt, dass Millionen Menschen hier in Israel gegen diese neuen Siedlungspläne protestieren würden, auch weil sie irrsinnig teuer sind. Dass sie es satt haben, weiter die ständig steigenden Lebenshaltungskosten aufzubringen, die oft unerschwinglich gewordenen Mieten zu bezahlen; dass sie dieser immer angespannten Sicherheitslage überdrüssig sind und auch wollen, dass wieder mehr in die Infrastruktur und das Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystem investiert wird. Doch das ist nicht passiert. Und eine Umfrage nach der anderen zeigt, dass die Menschen hier glücklich sind, dass sie immer wieder denselben Premierminister wählen würden.

Sie sehen also, sehr geehrter Herr Kerry, wir brauchen keine Hilfe. Auch wenn sich unter dieser dünnen Oberflache erschreckende Risse in der Gesellschaft zeigen: Immer mehr Familien sind von Armut bedroht. Die Gier der Reichen wächst ebenso wie der Rassismus gegenüber Migranten und arabischen Mitbürgern. In der politischen Elite breitet sich Korruption aus, die Knesset wird des Öfteren zum Schauplatz hemmungsloser Hetze.

Der Staat der Juden, der einst den Verfolgten Zuflucht bieten, ein souveränes und freies Gebilde all seiner Bürger sein wollte, ist zu einem isolationistischen und ausgrenzenden „jüdischen Staat“ geworden, der sich von einer rassistischen, konservativen, orthodox-religiösen Weltsicht leiten lässt, die nationalistisch gefärbt ist. Es ist nicht einfach, das zu erkennen. Denn wenn unsere Politiker nach Amerika reisen, erzählen sie anschaulich von einem florierenden Land voller Innovationen, fest auf dem Boden der Bibel stehend, aber den Kopf voll mit Hightech-Ideen. Wir könnten hier im Paradies leben, wären nicht die heimtückischen Palästinenser, die antisemitischen Europäer, die iranischen Atomanlagen und Ihre erbärmliche Obama-Regierung, sagen sie.

Also lassen Sie uns einfach allein und warten Sie ab, was passieren wird. Wir werden schon nicht zusammenbrechen. Nur „der Konflikt“ wird dann mit noch größerer Brutalität ausgetragen, die Armee wird weniger moralisch, weniger intelligent und die Regierung noch korrupter werden. Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer. Und die Reste dessen, was man heute noch als souveränes Israel bezeichnen kann, werden von einem radikalen und gewaltsamen religiösen Nationalismus aufgefressen werden.

Ja, Herr Kerry, das klingt schrecklich. Aber wenn das unsere Wahrheit ist, dann sollte sie lieber jetzt gesagt werden und nicht erst, wenn es zu spät ist. Dann ist diese Wahrheit gefährlich geworden, dann sind die Menschen hier am Ende eines Weges angekommen, der sie ins Desaster geführt hat. Man sollte diese Wahrheit jetzt sagen, einen Moment vorher. Denn jetzt können wir noch nach einem Ausweg suchen.

Avirama Golan, geb. 1950, ist Mitherausgeberin der Tageszeitung Haaretz. Die Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin gehört zu den bekanntesten Persönlichkeiten Israels. Ihr Roman Die Raben erschien im Suhrkamp Verlag

kurze Chronik der jüngsten Friedens-verhandlungen

Juli 2013: Barack Obama hatte schon im März für neue Verhandlungen geworben. Außenminister John Kerry eruierte daraufhin in sechs Reisen vertraulich das Vorgehen. Nachdem die Knesset beschloss, nach und nach 104 palästinensische Gefangene freizulassen (insgesamt: fast 5.000), ist der Weg für Direktgespräche frei. Das erste Treffen findet Ende Juli 2013 statt.

September: Nach einem Treffen von Kerry und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in New York sind beide Seiten nun zu intensiveren Gesprächen bereit. Tzipi Livni leitet die israelische Delegation, Saeb Erekat die palästinensische. Die Verhandlungspunkte: die Grenzfrage, die Besiedlung der West Bank, der Status von Jerusalem und die Situation der palästinensischen Flüchtlinge.

November: Nach Berichten über den Bau tausender neuer Wohnungen in israelischen Siedlungen drohen die Palästinenser mit dem Abbruch der Verhandlungen. Netanjahu ordnet daraufhin den rechten Bauminister Uri Ariel an, die Pläne zu überprüfen. Kerry selbst ist von der Ankündigung überrascht worden und kritisiert Israel. Das Israelische Zentralbüro für Statistik gibt bekannt, dass der Ausbau der Siedlungseinheiten 2013 gegenüber dem Vorjahr um 123 Prozent zugenommen hat. Ende November einigen sich zudem die 5+1-Staaten in Genf im Atomstreit mit dem Iran. Für Netanjahu ist das ein „historischer Fehler“.

Dezember: Noch einmal werden 26 Langzeithäftlinge freigelassen, im Oktober waren es knapp 50. In Ramallah empfängt man sie begeistert und Abbas bezeichnet sie als Helden. Netanyahu kommentiert das scharf: „Mörder sind keine Helden“. Am 31. Dezember versammelt sich das palästinensische Kabinett demonstrativ im Jordantal; Kerrys Sicherheitsplan für das Gebiet kritisieren sie als einseitig.

April 2014: Trotz seiner Ankündigung ist es Kerry bislang nicht gelungen, einen Rahmenvertrag zu präsentieren. In Israel hatte es zudem eine Debatte gegeben, weil sich Verteidigungsminister Jaalon über Kerry lustig gemacht hatte. Am 1. April sagt der seine Reise schließlich ab, nachdem Abbas entgegen der Absprache die Aufnahme Palästinas in 15 UN-Organisationen beantragt hat. Vor einigen Tagen nun gab Kerry Israel und seinen Siedlungsaktivitäten die Schuld an der sichtlich verhärteten Situation. kap

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Avirama Golan | The Guardian

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