Als sie zwölf war, wollte Josiane Nizomfura ihren Vater wenigstens einmal zu Gesicht bekommen. Also schlich sie sich aus der Schule und ging zu einer öffentlichen Gerichtsverhandlung, bei der ihre Mutter gegen ihn aussagte. Levine Mukasakufu hatte Josiane nie etwas über die Umstände ihrer Geburt erzählt. „Ich habe es nicht fertiggebracht, also erfuhr sie es von den Nachbarn.“ Die kleine, zarte Levine, die in ihrem traditionellen Wickelrock wie ein leuchtend bunter Vogel wirkt, ist eine der etwa 500.000 ruandischen Frauen, die 1994 während des Völkermords vergewaltigt wurden.
Die damals 21-Jährige musste sich zusammen mit anderen Mädchen aus dem etwa 150 Kilometer südlich der Hauptstadt Kigali gelegenen Kibilizi auf dem Sportplatz ihres Dorfs versammeln. Die Interahamwe-Miliz der Hutu-Extremisten, die Hunderttausende Tutsi töteten, trieb ihre Opfer in die umliegenden Bananenhaine und Hirsefelder, wo die Mädchen mehrfach vergewaltigt wurden. „Mit dem Recht, uns zu schänden, wurden vom Anführer einige Milizionäre belohnt, die besonders grausam gemordet hatten“, erinnert sich Levine. „Ich konnte meine Tochter Josiane nicht lieben. Ihr Vater hatte meine Familie getötet. Ich wollte auch sie töten.“
Scham und Wut
Als Levine herausfand, dass Josiane ihr bei ihrer Aussage vor Gericht zugesehen hatte, schlug sie einen Abend lang auf sie ein. Das war kein Zufall. Nachdem Levine vergeblich versucht hatte, das Kind abzutreiben, richtete sich ihre Aggression nach der Geburt immer wieder gegen Josiane. „Wenn sie sich nicht benahm, sagte ich: ‚Du bist wie dein Vater. Du bist eine Interahamwe. Das ist ein Tutsi-Haus. Du gehörst nicht hierher. Irgendwann jage ich dich weg!‘“
Auch wenn es bisher in allen afrikanischen Kriegen zu Vergewaltigungen kam, waren sie in Ruanda besonders weit verbreitet. Die Konsequenzen sind bis heute spürbar. Der Internationale Strafgerichtshof zu Ruanda (ICTR) kam zu dem Schluss, dass sexuelle Gewalt einen integralen Bestandteil des Genozids darstellte. „Vergewaltigungen sollten die Seele und den Lebenswillen der Tutsi-Minderheit zerstören“, urteilten die Richter des Tribunals über einige der angeklagten Hutu-Führer, die den Genozid in der Region Butare, zu der Kibilizi gehört, organisierten.
Die Vereinten Nationen gingen zunächst davon aus, es seien bei Vergewaltigungen während des Genozids zwischen April und Juni 1994 etwa 5.000 Kinder gezeugt worden, doch der Survivors Fund – eine britische Hilfsorganisation, die in Ruanda tätig ist – schätzt die Zahl auf gut 20.000. Anders als all jene Kinder, die der Massenmord zu Waisen gemacht hat, haben die Kinder vergewaltigter Mütter keinen Anspruch auf Unterstützung durch die Regierung. Viele leben in Armut. Programme haben sich tendenziell auf das Leid und die seelische Not der missbrauchten Frauen konzentriert. Den Kindern, die oftmals mit der Ablehnung durch die Familie und der Stigmatisierung durch die Gesellschaft aufwuchsen, wird nur wenig Beachtung geschenkt. Da sich die ethnische Zugehörigkeit in Ruanda nach dem Vater richtet, nennen die überlebenden Tutsi diese Kinder oft „Interahamwe“ und „Sohn“ oder „Tochter einer Schlange“. Angehörige der Hutu-Vergewaltiger versuchen hingegen, die Kinder gegen die Mütter aufzubringen, wenn die vor Gericht gegen ihre Väter aussagen und diese ins Gefängnis bringen.
Die Therapeutin Marie Josée Ukeye betreut in Kibilizi 22 vergewaltigte Frauen und zwölf Kinder. Sie meint, die Kinder litten größtenteils unter Verhaltensstörungen, die nur in jahrelanger Gruppentherapie geheilt werden könnten. „Die heranwachsenden Mädchen schämen sich und übernehmen oft die Pein ihrer Mütter, während die Jungen zu Ausbrüchen neigen.“ Ukeye hat selbst den Genozid überlebt und trifft sich seit sieben Jahren zweimal pro Woche mit etlichen Gruppen. Sie hilft den Frauen, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben, weil sich nur so Bedrängnis und Wut überwinden lassen. Es geht dabei um Menschen wie Epiphane Mukamakombe, die mehrere Abtreibungsversuche unternommen hat, bevor sie ihren Sohn Olivier Utabazi zu Welt brachte, was so viel bedeutet wie „Er gehört zu ihnen“. Als er ein Baby war, weigerte sich Epiphane, ihm die Brust zu geben, und versuchte, ihn zu töten. Er überlebte irgendwie.
Der inzwischen 19-Jährige sagt, er könne verstehen, weshalb seine Mutter so grausam zu ihm gewesen sei. Es gelinge ihm aber nicht, seinen Vater zu hassen. „Einerseits werfe ich ihm vor, dass er meine Mutter vergewaltigt und sie dann mit mir allein gelassen hat. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob er wirklich ein schlechter Mensch ist.“ Als Kind war Olivier mürrisch und aggressiv. Vor einem Jahr nun hat seine Mutter das Geld zusammengekratzt, um ihm ein Studium zu ermöglichen. Seither träumt der junge Mann von einem besseren Leben als Ingenieur. Doch fühlt er sich nach wie vor nicht in der Lage, die Vergewaltigung seiner Mutter zu verstehen. „Vielleicht wollten sie meine Mutter töten, und dann sagte mein Vater eben: ‚Wenn du uns gegenüber gefällig bist, lassen wir dich am Leben. Es liegt an dir.‘“ Mehr als die Frage, was damals wirklich passiert ist, würden ihn seine eigenen Identitätsprobleme beschäftigen. Sie würden ihn nach wie vor belasten. „Jedes Mal, wenn ich beim Ausfüllen eines Formulars den Namen meines Vaters eintragen muss, erfassen mich Scham und Wut.“
Für Oliviers Mutter waren die vergangenen 20 Jahre ein einziger Kampf, die schiere Existenz des Sohns zu akzeptieren. „Ich spürte oder glaubte, dass er ein Interahamwe ist“, schildert Epiphane ihre Situation. Mit der Zeit jedoch wurde ihr bewusst, dass ihr außer diesem Sohn nichts geblieben war. Ihre gesamte Familie wurde im April 1994 ausgelöscht. Sie habe noch immer Angst vor dem Clan der Männer, die sie einst vergewaltigten. Sie hätten ihr Haus mit Steinen beworfen und eine Kuh vergiftet, sagt sie. „Olivier gibt mir trotz allem ein Gefühl, geschützt zu sein, auch wenn er die meiste Zeit an der Universität ist. Die Liebe zu ihm kam spät, aber sie kam, als mir bewusst wurde, dass Gott mir dieses Kind geschenkt hat und es die einzige Familie ist, die mir geblieben ist. Ich kann ihm nicht vorwerfen, unter welchen Umständen er geboren wurde.“
Tradiertes Trauma
Einmal in der Woche kommen die Frauen zusammen, um gemeinsam ihre kleinen Grundstücke am Rande des Dorfs Kibilizi zu bewirtschaften. Vornübergebeugt sammeln sie Bohnen zum Trocknen, lachen, reden, genießen die Gesellschaft und das Wissen, mit ihrem Schicksal nicht allein zu sein. Als arme Selbstversorger können es sich die wenigsten leisten, fremde Arbeitskräfte einzustellen. Und selbst wenn sie es könnten, würden sie dergleichen nicht tun. Wer dann für sie arbeite, der könne ja mit ihren Vergewaltigern verwandt sein. Das Stigma dieses Schicksalsschlags schwindet nie. Noch heute gibt es Hutu-Nachbarn, die sie manchmal als Huren beschimpfen.
Manche Frauen sind über ihrem Unglück verrückt geworden, andere haben ihr Trauma an die Kinder weitergegeben. Epiphanie Kanziga kann sich nicht mehr erinnern, wie oft sie vergewaltigt wurde. Die Tochter, die sie daraufhin zur Welt brachte, nannte sie Adeline Uwasi – „die ihres Vaters“. Mutter und Tochter leben heute zusammen in einem Haus, das aus einem Zimmer besteht. Wenn es regnet, wird der Boden zur Schlammbrühe. Eine verwitterte alte Sitzbank aus einem Bus, bei der bereits die Federn herausragen, dient als Sofa. Als Adeline Uwasi drei Jahre alt war, ließ Epiphanie sie einmal im Wald allein, weil sie glaubte, der Genozid werde von Neuem ausbrechen und die Tochter müsse versteckt werden. Ein anderes Mal schlug sie dem Kind mit einem spitzen Stock auf den Kopf und verletzte es so schwer, dass es ins Krankenhaus gebracht werden musste.
Wege zur Toleranz
Heute trägt Adeline Uwasi eine schicke, königsblaue Schuluniform. Sie träumt davon, nach Europa zu gehen und Arbeit bei einer Bank zu finden. Nur ist sie in der Schule zurückgefallen und spricht so monoton und leise, dass es schwerfällt, ihr zuzuhören. Männern kann sie nur schwer Vertrauen entgegenbringen, in jedem sieht sie einen potenziellen Lügner. „Ich glaube nicht, dass sie Liebe in sich tragen“, sagt Adeline, während sie auf ihre Füße hinabblickt.
An einem Sonntag versammeln sich die Dorfbewohner vor dem Gemeindevorstand von Kibilizi und bereiten eine Neubestattung der Erschlagenen vor. Vor 20 Jahren haben sich an dieser Stelle Hutu-Führer und Interahamwe getroffen, um Massaker zu planen, die allein in dieser Gegend über 3.000 Menschen das Leben gekostet haben.
Noch heute findet man Gebeine in Wäldern, Sümpfen oder Latrinen. Wenn das geschieht, leitet Levine Mukasakufu die Exhumierung und hebt die mumifizierten Leichen mit weißen Gummihandschuhen in grobe, weiß lackierte, mit Kreuzen versehene Holzsärge. Es ist ein Anblick, wie es ihn häufig während der vergangenen Jahre gegeben hat. Unter Planen lagern Dutzende von Körpern, oft noch in der Position, in der sie erstarrten, als der tödliche Hieb einer Machete traf. Manche haben die Hände erhoben, als wollten sie um Gnade flehen. Bei den Gebeinen eines Kinds sind die Knie angewinkelt wie im Schlaf. Eine der Frauen bricht zusammen und beginnt zu schreien, doch Levine bleibt hart. Sie scheint fest entschlossen, diese letzten Toten nach so langer Zeit endlich ordentlich zu bestatten.
Anders als andere Tutsi-Frauen hat sie nach der Vergewaltigung noch fünf Kinder bekommen. Ihre Tochter Josiane, die zur Verhandlung gegangen war, um ihren Vater zu sehen, ist zu einer selbstbewussten jungen Frau geworden, fast doppelt so groß wie die eigene Mutter. Beide haben einen Weg gefunden, sich gegenseitig zu tolerieren. Die Tage, in denen sie sich verwünscht haben, sind fast vorbei.
„Sexuelle Gewalt ist ein unvergleichliches Verbrechen“, meint Marie Josée Ukeye. „Sie trifft einen Menschen überall – sie verletzt seine Seele, schändet seinen Körper und stigmatisiert ihn als soziales Wesen.“ Doch sei sie zuversichtlich, dass die Kinder ihren eigenen Weg gehen können, wenn sie lernen, mit ihrem Schicksal umzugehen. „Ich habe gesehen, was für ein großes Unglück es ist, das Kind einer vergewaltigten Mutter zu sein. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass Menschen in der Lage sind, selbst die schlimmsten Erfahrungen zu verarbeiten und trotz misslichster Voraussetzungen etwas aus ihrem Leben zu machen. Wir sind nicht zum seelischen Leiden verurteilt, sondern haben ein wenig Hoffnung auf Glück, wenn wir die Vergangenheit hinter uns lassen.“
Lindsey Hilsum ist britische Fernsehjournalistin und regelmäßige Autorin der Sunday Times und des Guardian Übersetzung: Holger Hutt
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