Ein Geschäftsessen wurde abgesagt, ich verfügte über einen freien Nachmittag in New York. Mein Herausgeber bot mir ein Freiticket seines Unternehmens für das Museum of Modern Art an. Ich nahm es dankend an, fuhr mit dem Aufzug fast bis ins oberste Stockwerk und da war sie: Martin Kippenbergers Werkschau The Problem Perspective. Jahrelang habe ich Kippenberger gemieden und mir auch die Retrospektive geschenkt, die 2006 in der Tate Modern zu sehen war. Meister des Schocks? Doch wohl eher Meister des Schunds, dachte ich mir und wandte meine Augen ab, als würde der Mann sich entblößen, was er ja auch tut. Es stieß mich ab, wie Kritiker über ihn schrieben. Das hörte sich an, als sei seine Kunst nur eine Nebensache. Ich wollte sein schlechtes Verhalten, seine Erregtheit, seinen Exhibitionismus und seine selbstzerstörerische Art nicht gutheißen, also wandte ich mich ab. Heute bin ich älter und tapferer. Ich betrat die Moma-Ausstellung, als hätte ich ein Gewehr auf dem Rücken und ließ mir von Kippenberger einen Schlag direkt zwischen die Augen versetzen.
Kein männlicher Künstler, nicht einmal Rembrandt hat so viele Selbstportraits gemacht wie Kippenberger. Wohin ich meine Augen auch wandte, überall sah ich seine teutonische Maske, die mich blicklos aus steinernen Augen anstarrte. Kippenberger tat, was viele weibliche Künstler tun – er zog sich aus, putzte sich heraus, schlüpfte in verschiedene Rollen – verortete sich dabei aber stets in der Tradition der Malerei. Das Endergebnis ist keine Performance sondern ein Bild. Damit Kunst zur Anti-Kunst werden kann, muss sie zuerst festlegen, was Kunst ist, und Kippenbergers Verständnis von Kunst ist von Grund auf konservativ. Es gibt kaum einen gefeierten Künstler, zu dem sein Werk keine Referenzen aufzeigt und das auf eine unverhohlene und beunruhigende Weise, als wolle er das angesammelte Charisma kaputt schlagen, als sei Kunst zu nichts nutze – Scheiße, wie Freud dachte.
Die Kritiker erkannten zwar, dass er Spaß machte, aber nicht, dass es derselbe Spaß war, den Jugendliche haben, die Betonbrocken von Autobahnbrücken schmeißen. Indem er sich selbst als Picasso portraitiert, mit hängenden Männerbrüsten und einer Wampe, die aus viel zu großen Unterhosen quillt, sagt Kippenberger uns, dass die Kunst uns nirgendwohin geführt habe. Kritiker, die seine Seelenqual zu bloßer Respektlosigkeit heruntergespielt haben, müssen ihn zu immer verzweifelteren Mitteln getrieben haben. Und die ganze Zeit hindurch hat er sich zu Tode gesoffen.
Frauenfreie Zone
Wut, glühender Zorn und Verzweiflung trafen mich mit voller Wucht. Der Künstler musste mich einfach niedermähen, denn ich bin eine Frau. Kippenbergers Werk, obschon hoch sexualisiert, ist eine von Frauen freie Zone. Die Sexobjekte sind durchweg männlich, und trotzdem ängstlich, käuflich und entbehrlich. Kippenberger müht sich ab wie ein Mann, den das Entsetzen über seine eigene Sexualität versteinert hat und der immer wieder zu ihr zurückkehrt wie ein Hund zu seiner Kotze. Die krönende Ironie war, dass es sich bei vielen der Leute, die die Schau an diesem Tag in New York ehrerbietig anstarrten, um gut gekleidete, wohlgebildete Frauen mittleren Alters handelte.
Diese Ausstellung, die Kippenbergers Status hob wie keine andere, wurde mit Ann Goldstein und Ann Temkin von zwei Frauen kuratiert. Kippenberger hatte vier Schwestern, eine Galeristin und sein einziges Kind war ein Mädchen. Keine von ihnen hat sein Werk beeinflusst. Hier war er, die Frida Kahlo der Männlichkeit und schmiss mir eben diese Männlichkeit ins Gesicht, hartnäckig, unerbittlich und unnachgiebig. Die ganze Bandbreite sexueller Referenzen war da, all die Projektionen, all die Löcher und allesamt männlich.
Von New York aus reiste ich weiter nach Harvard. Der Kurator einer Ausstellung von Kate Millett in der Pierre Menard Gallery wollte unbedingt, dass ich mir diese anschaue. Pflichtgetreu rannte ich also durch den Regen um mir ein paar unbedeutende Werke unter dem Titel Oppression and Pleasure, Unterdrückung und Lust anzusehen. Wieder verlor ich völlig die Fassung, diesmal allerdings nicht aufgrund von Wildheit, Intensität oder Nihilismus. Dies war Frauenkunst mit aller Macht, albern und hemmungslos. 1977 hat Millett dieselbe Serie von Bildern schon einmal in der Levitan Gallery in New York ausgestellt, damals unter dem Namen The Lesbian Body. Die Bilder mögen damals schockierend oder überraschend gewesen sein, allerdings bezweifle ich das.
Es handelte sich zumeist um Variationen des Themas von Courbets L'Origine du Monde, wo aber bei Courbet der Pinsel vor Sehnsucht und Ehrfurcht erzitterte, herrschte hier rührselige Sentimentalität in Steinschnittlage: Arschbacken auseinander, Vagina entblößt, wobei die Darstellung der Vagina an nachgemachte orientalische Kaligraphie erinnerte. Es gab auch ein Diptychon einer Nahaufnahme mit derselben Perspektive, eine weitere Darstellung der Frau als Damm. Milletts jüngstes Werk war durch einen Gipskopf repräsentiert, der leicht an die junge Künstlerin selbst erinnerte, eine glänzende schwarze Perücke trug und mit dem Titel Domestiv Violence, Häusliche Gewalt versehen war. Ein in zwei verschiedenen Rosatönen – barbiefarben und dunkel-barbiefarben – gehaltener Screenprint zeigte zwei exakt identische und einander zugewandte Brustumrisse. Ich stöhnte laut auf.
Als Kippenbergers Mutter bei einem Verkehrsunfall starb, erbte er genug Geld, um davon leben zu können. Millett musste ihren Lebensunterhalt verdienen , indem sie mit Bücher schrieb, Weihnachtsbäume verkaufte und Ferien auf ihrem eigenen Bauernhof anbot,. Aber es gibt einen bedeutsameren Kontrast, der nicht in Bezug auf Talent zum Ausdruck gebracht werden kann. Kippenberger konnte immer an seiner Kunst arbeiten und produzierte unablässig seine fieberhaften männlichen Darstellungen, umgeben von Leuten, die ihm dabei halfen, die meisten von ihnen Frauen. An dieser Sache mit der Geschlechterpolitik ist mehr dran als wir bislang verstanden haben. Allein zu wünschen, dass Frauen ermächtigt werden oder so zu tun, als seien sie es bereits, allein, wird nicht ausreichen.
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