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Soziale Medien Menschen werden im Digitalen mit Likes gesteuert. Sie erzeugen ein Gefühl der Selbstkontrolle
Ausgabe 15/2017
Süchtig nach Feedback: ein Experiment mit einer Milliarde Menschen
Süchtig nach Feedback: ein Experiment mit einer Milliarde Menschen

Foto: Paul Morris/Bloomberg/Getty Images

Neulich betrat ich in New York im 18. Stock eines Hochhauses den Aufzug. Eine junge Frau, die sich bereits im Lift befand, beugte sich beschämt zu ihrem Kleinkind hinunter, das mich unterdessen angrinste. Als ich den Knopf für das Erdgeschoss drücken wollte, sah ich, dass bereits alle Knöpfe gedrückt worden waren. Kinder lieben es, auf Knöpfe zu drücken, aber sie drücken nur alle, wenn die Knöpfe auch aufleuchten. Von einem frühen Alter an verfügen die Menschen über einen Drang zu lernen. Und zum Lernen gehört, so viel Feedback aus der unmittelbaren Umgebung zu erhalten wie möglich. Der kleine Junge, mit dem ich im Fahrstuhl fuhr, grinste, weil er Feedback – in Form von Lichtern oder Geräuschen oder irgendeiner anderen Veränderung des Zustands der Welt – als angenehm empfand.

Doch die Suche nach positiven Reaktionen endet nicht mit der Kindheit. 2012 produzierte eine Agentur in Belgien eine Werbekampagne für einen Fernsehsender, die schnell virale Verbreitung fand. Die Produzenten der Kampagne platzierten einen großen, roten Knopf auf einem Ständer und stellten ihn in einem verschlafenen flämischen Städtchen auf einen malerischen Platz. Über dem Knopf hing ein großer Pfeil mit der einfachen Anweisung: „Push to add drama“. Auf der Aufnahme der Szenerie kann man das Strahlen in den Augen eines jeden Passanten erkennen, der sich dem Knopf nähert – dasselbe Strahlen, mit dem mich der kleine Junge im Fahrstuhl ansah, während seine Hand die Armatur mit den Knöpfen für die verschiedenen Stockwerke betatschte.

Psychologen versuchen schon seit langem zu verstehen, wie Tiere auf unterschiedliche Arten von Feedback reagieren. 1971 saß der Psychologe Michael Zeiler in seinem Labor drei hungrigen weißen Carneau-Tauben gegenüber. In diesem Stadium konzentrierte sich das Forschungsprogramm, an dem er arbeitete, auf Ratten und Vögel, verfolgte aber erhabene Ziele. Konnte das Verhalten von niederklassigen Tieren dem Staat etwas darüber beibringen, wie er seine Bürger zu wohltätigem Verhalten motivieren und von verbrecherischem abhalten könnte? Konnten Unternehmer überarbeitete Schichtarbeiter dazu motivieren, einen neuen Sinn in ihrer Arbeit zu finden? Konnten Eltern lernen, wie man die perfekten Kinder formt?

Bevor Zeiler die Welt verändern konnte, musste er herausfinden, wie man jemandem am besten eine Belohnung zukommen lässt. Eine Möglichkeit bestand darin, jedes wünschenswerte Verhalten zu belohnen, eine weitere, diese wünschenswerten Verhaltensweisen nach einem nicht vorhersagbaren Muster zu belohnen, um so eine Art jenes Zaubers zu schaffen, der Menschen dazu bringt, sich Lottoscheine zu kaufen. Die Vögel waren in dem Labor großgezogen worden, also kannten sie den Drill. Wenn sie etwas zu essen haben wollten, watschelten sie zu einem kleinen Knopf und pickten auf ihm herum, in der Hoffnung, dass dadurch ein Tablett mit Futter erscheinen würde. Manchmal programmierte Zeiler den Knopf so, dass er jedes Mal etwas zu essen zutage förderte, wenn die Vögel auf ihn pickten; bei anderen Versuchen programmierte er ihn so, dass er nur manchmal etwas zu essen herausgab. Manchmal pickten die Vögel vergeblich, der Knopf färbte sich rot und die Tiere gingen leer aus.

Unerwartete Belohnung

Es stellte sich heraus, dass die Vögel fast doppelt so oft pickten, wenn nicht sicher war, ob sie eine Belohnung erhalten würden. Ihr Gehirn schüttete weitaus mehr Dopamin aus, wenn die Belohnung unerwartet kam. Zeiler hatte etwas Wichtiges über positives Feedback herausgefunden: Weniger ist oft mehr. Seine Vögel waren dem Geheimnis des unregelmäßigen Feedbacks verfallen, so wie Menschen von der Ungewissheit des Spiels angezogen werden.

Jahrzehnte nachdem Zeiler seine Ergebnisse publiziert hatte, bereitete ein Team von Facebook-Entwicklern sich im Jahr 2012 darauf vor, ein ähnliches Feedback-Experiment mit mehreren hundert Millionen von Menschen durchzuführen. Die Seite hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 200 Millionen Nutzer – die Zahl würde sich im Verlauf der folgenden drei Jahre verdreifachen. Das Experiment nahm die Form eines täuschend einfachen Features an, das „Like-Button“ genannt wurde.

Der Einfluss des Like-Buttons auf die Psychologie der Facebook-Nutzung lässt sich kaum überbewerten. Was zu Beginn nur eine Möglichkeit dargestellt hatte, das Leben von Freunden passiv mitzuverfolgen, war nun komplett interaktiv und versprach genau die Art von unvorhersehbarem Feedback, das Zeilers Vögel motiviert hatte. Nun „zockten“ die Nutzer jedes Mal, wenn sie ein Foto, einen Link oder ein Status-Update teilten. Ein Post mit null Likes schmerzte nicht nur rein privat, sondern kam auch einer öffentlichen Schmach gleich: Entweder hatte man nicht genügend Online-Freunde oder, und das war noch schlimmer, die Freunde waren nicht gerade beeindruckt von dem, was man gepostet hatte. Wie die Vögel fühlen auch wir uns stärker zu Feedback hingezogen, wenn es nicht garantiert ist. Facebook hat als erstes großes soziales Netzwerk den Like-Button eingeführt. Mittlerweile verfügen andere über ähnliche Funktionen. Man kann Tweets auf Twitter liken und retweeten, ebenso Posts auf Google+, Einträge bei LinkedIn und Videos auf Youtube.

Der Akt des Likens ist zum Gegenstand von Debatten über Etikette geworden. Was bedeutet es, wenn man den Post eines Freundes nicht likt? Impliziert man, wenn man jeden dritten Post likt, dass die anderen schlecht sind? Liking wurde zu einer Form der grundlegenden sozialen Unterstützung – das Online-Pendant dazu, über den Witz eines Freundes zu lachen.

Der Webentwickler Rameet Chawla hat eine App entwickelt, die als Marketinginstrument, aber auch als ein soziales Experiment fungieren und zeigen sollte, welchen Effekt der Like-Button hat. Als er die App launchte, schrieb Chawla dazu auf seiner Homepage: „Man ist süchtig, kommt auf Entzug. Diese Droge treibt uns so sehr an, dass nur ein Hit wirklich eigenartige Reaktionen bei uns auslöst. Ich rede von Likes. Sie haben sich ganz unauffällig zur ersten digitalen Droge entwickelt, die unsere Kultur bestimmt.“

Chawlas App, die den Namen Lovematically trug, war so programmiert, dass sie automatisch jedes Bild likte, das im Newsfeed des Nutzers auftauchte. Abgesehen davon, dass er das wohlige Gefühl genoss, das entsteht, wenn man gute Laune verbreitet, bemerkte Chawla – der die ersten drei Monate der einzige Benutzer der App war – auch, dass die Leute sein Verhalten erwiderten. Sie likten auch mehr seiner Bilder. Im Durchschnitt gewann er pro Tag 30 neue Follower hinzu, während der gesamten Versuchsphase insgesamt fast 3.000. Am Valentinstag 2014 erlaubte Chawla 5.000 Instagram-Nutzern, eine Beta-Version der App herunterzuladen. Nach nur zwei Stunden schaltete Instagram Lovematically wegen Verletzung der Nutzungsbestimmungen des Netzwerkes ab.

Vom Stress erholen

„Mir war klar, dass Instagram die App blockieren würde“, sagt Chawla. „In der Drogen-Terminologie ist Instagram der Dealer und ich bin der neue Mann auf dem Markt, der die Droge kostenlos an die Leute verteilt.“

Es überraschte ihn allerdings schon, dass es so schnell passierte. Er hatte gehofft, wenigstens eine Woche Zeit zu bekommen. Aber Instagram schlug sofort zu.

Als ich 2004 für ein Aufbaustudium in die USA ging, war das Angebot an Online-Unterhaltung noch begrenzt. Es waren die Tage vor Instagram, Twitter und Youtube – und Facebook war Studenten in Harvard vorbehalten. Eines Abends stolperte ich über ein Spiel namens Sign of the Zodiac, das nur sehr wenig mentale Anstrengung erforderte.

Zodiac war ein einfacher Online-Spielautomat, den echten Spielautomaten in Casinos sehr ähnlich: Man entschied sich, wie viel man einsetzen wollte, drückte immer wieder einen Knopf und sah zu, wie die Maschine Gewinne und Verluste ausspie. Zuerst spielte ich, um mich vom Stress langer Tage zu erholen, an denen ich zu lange hatte nachdenken müssen. Doch das kurze „Ding“, das nach jedem kleinen Gewinn ertönte oder die längere Melodie, die bei jedem größeren zu hören war, schlugen mich schnell in ihren Bann. Irgendwann mischten sich Screenshots des Spiels in meinen Tag. Ich sah plötzlich fünf rosafarbene Skorpione, die sich aneinanderreihten, um den höchsten Jackpot zu signalisieren, gefolgt von der Jackpot-Melodie, die ich noch heute im Kopf habe. Ich hatte eine leichte Verhaltenssucht – die sensorischen Überbleibsel des willkürlichen, unvorhersagbaren Feedbacks, das auf jeden Gewinn folgte.

Meine Zodiac-Sucht war nichts Ungewöhnliches. Die Kulturanthropologin Natasha Dow Schüll untersuchte 13 Jahre lang Spieler und die Maschinen, die es ihnen angetan haben. Sie sammelte Beschreibungen von einarmigen Banditen von Spielexperten sowie gegenwärtigen und ehemaligen Spielsüchtigen, von denen ein paar sagten: „Slots sind das Crack unter den Spielen … elektronisches Morphium … Slots sind das beste Mittel, um spielsüchtig zu werden.“

Ein Klassiker, auch in puncto Suchtpotenzial: Tetris

Illustration: der Freitag

Auch wenn hier ein paar besonders pointierte Beschreibungen herausgesucht wurden, so drücken sie doch recht gut aus, wie schnell Menschen nach Spielautomaten süchtig werden können. Ich kann das beurteilen, denn schließlich wurde ich nach einem Automatenspiel süchtig, das noch nicht einmal richtiges Geld ausspuckte. Der bestätigende Sound eines Gewinns nach einer Reihe stiller Verluste reichte mir schon aus.

In den USA dürfen Banken nicht mit Geld aus Online-Glücksspiel arbeiten, was diese Form des Zockens quasi illegal macht. Nur sehr wenige Unternehmen sind bereit, sich zu widersetzen und die, die es wagen, sind schnell am Ende. Das hört sich gut an, aber freie und legale Spiele wie Sign of the Zodiac können ebenfalls gefährlich werden. Im Casino sind die Dinge so eingerichtet, dass der Spieler unterm Strich nie gewinnen kann, sondern immer die Bank. Doch in einem Spiel, in dem es nicht um Geld geht, muss die Bank nicht immer gewinnen.

David Goldhill, der Geschäftsführer des Game Show Network, das auch viele Online-Spiele produziert, sagte mir: „Da wir nicht der Beschränkung unterliegen, echte Gewinne ausschütten zu müssen, können wir bei 100 Dollar Einsatz 120 Dollar ausschütten. Kein echtes Casino könnte sich das länger als eine Woche lang leisten, ohne pleitezugehen.“ Da dem Spieler nie die Chips ausgehen, kann er das Spiel endlos weiterspielen. Ich habe Sign of the Zodiac vier Jahre lang gespielt und musste kaum einmal ein neues Spiel beginnen. Ich gewann gut 95 Prozent aller Spiele. Das Spiel war nur dann zu Ende, wenn ich essen, schlafen oder morgens in die Uni musste. Und manchmal selbst dann nicht.

Casinos gewinnen meistens, aber sie haben eine clevere Art, die Spieler davon zu überzeugen, dass das Blatt sich wenden wird. Frühe Spielautomaten waren unglaublich einfache Geräte: Der Spieler betätigte den Hebel des Automaten und setzte damit drei mechanische Walzen in Bewegung. Wenn zwei oder drei Walzen, nachdem sie wieder stehen geblieben waren, dieselben Symbole anzeigten, gewann der Spieler eine gewisse Anzahl von Münzen oder einen bestimmten Kredit. Heute ermöglichen Spielautomaten den Spielern, mehrere Gewinnlinien gleichzeitig zu spielen. Bei jeder Runde erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, wenigstens in einer Linie zu gewinnen, und die Maschine feiert mit, indem sie helle Lichter aufleuchten lässt und eingängige Melodien abspielt. Wenn man 15 Linien spielt und zwei davon gewinnt, macht man unterm Strich Verlust, genießt aber trotzdem die positive Reaktion, die auf einen Gewinn folgt – eine Art von Gewinn, die Schüll und andere Spielexperten als „als Gewinn getarnte Verluste“ bezeichnen.

Verluste, die als Gewinne daherkommen, zählen nur, weil die Spieler sie nicht als Verluste verbuchen, sondern als Gewinne. Das macht moderne Spielautomaten – und moderne Casinos – so gefährlich. Wie der kleine Junge, der im Aufzug alle Knöpfe drückte, entwachsen auch wir Erwachsenen nie der Begeisterung dafür, Lichter und Geräusche auszulösen. Wenn unser Gehirn uns davon überzeugt, dass wir gewinnen, selbst wenn wir eigentlich verlieren, wird es nahezu unmöglich, die Selbstkontrolle aufzubringen, um aufzuhören.

Der Erfolg eines Spielautomaten wird in der Zeit gemessen, die der Spieler an dem Gerät verbringt. Da die meisten Spieler umso mehr Geld verlieren, je länger sie spielen, ist die „Zeit am Gerät“ ein guter Indikator für Profitabilität. Videospiel-Designer verwenden eine ähnliche Maßeinheit, die erfasst, wie einnehmend und unterhaltsam ihre Spiele sind. Der Unterschied zwischen Casinos und Videospielen ist, dass viele Spieledesigner mehr am Spaßfaktor ihrer Spiele interessiert sind als daran, viel Geld zu machen. Bennett Foddy unterrichtet Game-Design am Game Center der New York University. Er hat eine Reihe von Gratis-Spielen entwickelt. Alle davon waren ihm eher eine Herzensangelegenheit als eine Möglichkeit, Geld zu verdienen.

„Videospiele funktionieren nach mikroskopischen Regeln“, erklärt Foddy. „Wenn der Cursor sich über ein bestimmtes Feld bewegt, erscheint ein Text oder erklingt ein Geräusch. Die Designer machen sich diese Form von Mikro-Feedback zunutze, um die Spieler dabeizuhalten.“

Ein Spiel muss diese mikroskopischen Regeln berücksichtigen. Denn Gamer brechen ein Spiel mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ab, das keine stetige Dosis kleiner Belohnungen bereithält, die im Kontext der Regeln des Spiels Sinn machen. Diese Belohnungen können so subtil sein wie ein „Ding“-Geräusch oder ein weißer Blitz, der jedes Mal erscheint, wenn ein Charakter sich über ein bestimmtes Quadrat bewegt. „Diese kleinen Häppchen Mikro-Feedback müssen unmittelbar auf den Auslöser folgen. Gibt es einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen einer Handlung und einem Geschehen, denke ich, dass ich Letzteres ausgelöst habe.“

600.000 Dollar pro Tag

Das Spiel Candy Crush Saga ist ein hervorragendes Beispiel. 2013, zur Zeit seiner größten Beliebtheit, hat es täglich 600.000 US-Dollar an Einnahmen generiert. Bis heute hat sein Entwickler, der Online-Spiele-Anbieter King, ungefähr 2,5 Milliarden US-Dollar an dem Spiel verdient. Zwischen einer halben und einer Milliarde Menschen haben sich Candy Crush Saga auf ihre Smartphones oder über Facebook heruntergeladen. Die meisten davon waren Frauen, was eher ungewöhnlich ist.

Wenn man sieht, wie einfach das Spiel ist, fällt es schwer, zu verstehen, wie ungemein erfolgreich es ist. Die Spieler versuchen, auf dem Bildschirm drei oder mehr gleiche Süßigkeiten in eine Reihe zu bringen, indem sie Süßigkeiten nach links, rechts, oben oder unten wischen. Gelingt es, solche Reihen zu bilden, werden die Süßigkeiten der Reihe „zerquetscht“ und verschwinden. Dann fallen neue Süßigkeiten von oben herab. Das Spiel endet, wenn sich der Bildschirm mit Süßigkeiten füllt und sich keine gleichen mehr zusammenbringen lassen. Foddy erklärt, für den Erfolg des Spiels seien nicht die Regeln verantwortlich, sondern der „Juice“. Juice steht für das Oberflächenfeedback. Es ist nicht wichtig für das Spiel, wohl aber für seinen Erfolg. Ohne Juice verliert das Spiel seinen Reiz.

„Neulinge im Bereich Game-Design vergessen oft den Juice“, erläuterte Foddy. „Wenn ein Spielcharakter durchs Gras läuft, sollte dieses sich unter seinen Füßen biegen. Das zeigt einem, dass das Gras echt ist und Charakter und Gras sich in der gleichen Welt befinden.“ Wenn man es bei Candy Crush Saga schafft, eine Reihe zusammenpassender Süßigkeiten zu bilden, ist ein animierendes Geräusch zu hören und die erzielte Punktzahl leuchtet bunt auf. Manchmal hört man sogar einen unsichtbaren Erzähler mit tiefer Stimme ein Lob aussprechen.

Wieviel „Juice“ hat Super Mario?

Illustration: der Freitag

Der Juice verstärkt das Feedback, soll aber auch eine Verbindung zwischen der realen Welt und der des Spiels sein. Das stärkste Vehikel für Juice dürfte die noch in den Kinderschuhen steckende Technologie der Virtuellen Realität (VR) darstellen. Diese versetzt den User in eine immersive Umwelt, durch die er sich bewegt, als befände er sich in der realen Welt. Bei weit entwickelter VR kommt multisensorisches Feedback in Form von taktilen, auditorischen und olfaktorischen Sinneseindrücken hinzu.

In einem Podcast aus dem vergangenen Jahr unterhält sich der Autor und Sportkolumnist Bill Simmons mit dem milliardenschweren Investor Chris Sacca, der in den Google-Anfangstagen als Mitarbeiter dabei war und in Twitter investiert hat, über seine Erfahrungen mit VR. „Ich sorge mich ein bisschen um meine Kinder“, sagt Simmons in diesem Gespräch. „Ich frage mich, ob die VR-Welt, in die man da abtaucht, der tatsächlichen nicht überlegen ist. Statt menschliche Interaktion zu erleben, kann ich einfach in die VR-Welt gehen und VR-Sachen tun und das ist dann das Leben.“

Sacca teilte diese Bedenken: „Einer der interessanten Aspekte der Technologie ist, dass die technischen Verbesserungen schneller vonstattengehen als unsere eigene physiologische Entwicklung. Wenn man sich Videos aus den Anfangstagen ansieht … da steht man zum Beispiel oben auf einem Wolkenkratzer und der eigene Körper lässt einen keinen weiteren Schritt machen. Der Körper ist überzeugt, dass er auf einem Wolkenkratzer steht. Dabei handelt es sich noch gar nicht um superimmersive VR. Auf uns kommen verrückte Zeiten zu.“

Bis vor kurzem wurden die Einsatzmöglichkeiten der VR vor allem im Bereich der Computerspiele verortet. Dies änderte sich im Jahr 2014, als Facebook Oculus Rift für zwei Milliarden US-Dollar kaufte. Facebooks Mark Zuckerberg hatte große, weit über den Spielebereich hinausgehende Ideen für die Oculus-Rift-Brille. „Dies ist nur der Anfang“, sagte Zuckerberg damals. „Wie werden Oculus zu einer Plattform für viele andere Erlebnisse machen. Stellen Sie sich vor, bei einem Sportereignis direkt am Spielfeldrand zu sitzen, in einem Raum mit Schülern und Lehrern aus der ganzen Welt zusammenzusitzen oder einen Arzt von Angesicht zu Angesicht zu konsultieren – bloß, indem sie zu Hause ihre VR-Brille aufsetzen. Wir glauben, dass diese Art der immersiven, erweiterten Realität für Milliarden Menschen ein Teil des Alltags werden wird.“

Aktive Teilnehmer

Im Oktober 2015 lieferte die New York Times kleine VR-Pappbrillen mit ihrer Sonntagsausgabe aus. Auf einem Smartphone ließen sich damit VR-Dokumentationen etwa über Nordkorea, syrische Flüchtlinge und eine Mahnwache nach den Anschlägen von Paris anschauen. „Man wird zum aktiven Teilnehmer der Geschichte, die man sieht“, sagte damals Christian Stephen, einer der Produzenten der VR-Dokus.

Trotz ihrer Verheißungen birgt die VR auch große Gefahren. Jeremy Bailenson, Kommunikationsprofessor am Virtual Human Interaction Lab der Universität Stanford, fürchtet, Oculus Rift könne sich negativ auf die Interaktion der Menschen mit der Welt auswirken: „Ob ich mich vor der Welt fürchte, in der jeder wirklich Furchtbares schaffen kann? Ja. Ich sorge mich darum, was passiert, wenn ein Gewaltspiel sich anfühlt wie Mord und wenn Pornografie sich anfühlt wie Sex. Wie verändert das die Art und Weise, wie die Menschen interagieren und als Gesellschaft funktionieren?“

Wenn die VR-Technik ausgereift ist, wird sie uns erlauben, Zeit mit jedem Menschen, den wir wollen, an jedem Ort mit jeder Aktivität und so lange, wie es uns gefällt, zu verbringen. Dieses Versprechen grenzenlosen Vergnügens klingt wundervoll, birgt aber auch die Möglichkeit, direkte menschliche Interaktionen zu entwerten. Warum sollte man seine Zeit in der echten Welt mit echten Menschen und ihren Fehlern zubringen, wenn man in einer perfekten Welt leben kann, die sich genauso real anfühlt?

Einige Spiele sollen süchtig machen, um die unglücklichen Konsumenten zu verführen, andere machen süchtig, obwohl sie eigentlich vor allem Spaß machen sollen. Die Linie dazwischen ist sehr dünn, der Unterschied hängt in großem Maße von der Absicht des Designers ab.

Als Shigeru Miyamoto von Nintendo, ein Superstar unter den Gamedesignern, Super Mario Bros. schuf, war sein Hauptziel, ein Spiel zu machen, das er selbst gern spielen würde. „Darum geht es,“ sagte er. „Nicht darum, etwas zu machen, dass sich gut verkauft oder das sehr populär sein wird.“

Shigeru Miyamoto von Nintendo (Super Mari Bros.)

Foto: Ralf-Finn Hestoft/Corbis/Getty Images

Vergleicht man Super Mario Bros. – das von Spieledesignern regelmäßig zum besten Spiel aller Zeiten gewählt wird – mit anderen Spielen, erkennt man leicht den Unterschied bei der Absicht.

Adam Saltsman, der 2009 ein gefeiertes Indie-Spiel namens Canabalt produziert hat, hat ausführlich über die Ethik des Gamedesigns geschrieben. „Viele der Spiele der letzten fünf Jahre, die mit der Absicht entwickelt wurden, Geld zu verdienen, verwenden ein sogenanntes Energiesystem“, erklärt Saltsman. „Man darf das Spiel fünf Minuten lang spielen und dann kann man einfach nichts mehr machen. Das Spiel schickt einem dann zum Beispiel nach vier Stunden eine Mail mit der Nachricht, dass man wieder anfangen kann.“ Das klingt doch ziemlich gut, sage ich – es zwingt die Spieler dazu, Pausen zu machen und ermutigt Kinder, zwischendurch ihre Hausaufgaben zu machen. Doch an dieser Stelle kommt die Geldmache ins Spiel. Saltsman sagt dazu: „Spiele-Entwicklern wurde klar, dass die Spieler zahlen würden, um die Wartezeit zu verkürzen oder die Energiemenge ihres Avatars nach Ablauf der vierstündigen Ruhepause zu erhöhen.“ Ich habe mit diesem System Bekanntschaft gemacht, als ich Trivia Crack spielte. Wenn man mehrmals die falsche Antwort gibt, gehen einem die Leben aus und ein Dialogfeld stellt einen vor die Wahl: Warte eine Stunde, um weitere Leben zu erhalten, oder bezahle 99 Cent, um sofort fortzufahren. Viele Spiele sind zunächst kostenfrei, später aber muss man Gebühren zahlen, um weitermachen zu können.

Wenn man bereits mehrere Minuten oder sogar Stunden spielt, ist das Letzte, was man tun will, sich geschlagen zu geben. Man hat viel zu verlieren, und die Abneigung gegen das Gefühl des Verlustes bringt einen dazu, die Maschine nur noch ein einziges Mal zu füttern, immer und immer wieder. Man beginnt zu spielen, weil man Spaß haben möchte, aber man macht weiter, weil man sich nicht unglücklich fühlen will.

Ein Spiel, bei dem man immer gewinnt, ist langweilig. Zu einem gewissen Grad brauchen wir Verluste, Schwierigkeiten und Herausforderungen. Ohne sie nimmt mit jedem Erfolg die Freude ein wenig mehr ab. Es ist weitaus verlockender, wenn man sich anstrengen muss, als wenn man weiß, dass man ohnehin gewinnt. Das Gefühl der Entbehrung und Anstrengung gehört zu vielen suchterzeugenden Erfahrungen. Dies gilt auch für eines der Spiele mit dem größten Suchtpotenzial aller Zeiten: Tetris.

Nie langweilig

1984 arbeitete Alexei Paschitnow in einem Computerlabor an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Viele der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Labors arbeiteten auch an Nebenprojekten und so begann Paschitnow, an einem Videospiel zu arbeiten. Die Entwicklung von Tetris kostete ihn mehr Zeit als geplant, denn er konnte nicht aufhören, das Spiel selbst zu spielen. Schließlich erlaubte er auch seinen Freunden an der Akademie, es auszuprobieren, und jeder, der es anfasste, wurde sofort süchtig danach.

Sein bester Freund, Wladimir Pokhilko, ein ehemaliger Psychologe, erinnert sich daran, wie er das Spiel mit in das Labor des Moskauer Medizinischen Instituts nahm. „Alle hörten auf zu arbeiten. Also löschte ich es von allen Computern und alle machten sich wieder an die Arbeit, bis eine neue Version im Labor auftauchte.“

Tetris breitete sich von der Akademie der Wissenschaften auf den Rest von Moskau aus, dann auf ganz Russland und Osteuropa. Zwei Jahre später, 1986, kam das Spiel in den Westen. Sein großer Durchbruch ereignete sich jedoch 1991, als Nintendo einen Vertrag mit Paschitnow abschloss. Bei jedem Gameboy war nun auch gratis das Tetris-Spiel dabei.

In jenem Jahr fing ich an zu sparen und kaufte mir schließlich einen Gameboy. So kam auch ich dazu, das erste Mal Tetris zu spielen. Das Spiel war zwar nicht so glamourös wie einige meiner Lieblingsspiele, aber ich spielte es stundenlang. Es war schlau von Nintendo, das Spiel mit der neuen Konsole frei Haus zu liefern, denn es war leicht zu lernen und schwer, wieder damit aufzuhören. Ich hatte angenommen, es würde irgendwann langweilig werden, aber ich spiele es bis heute noch manchmal, mehr als 25 Jahre später. Es ist sehr langlebig, weil es mit einem wächst. Zunächst ist es sehr einfach, wird aber schwieriger, je weiter sich die Fähigkeiten des Spielers entwickeln. Die Teile fallen schneller von oben nach unten und man hat weniger Zeit zu reagieren als zu Beginn. Die Erhöhung des Schwierigkeitsgrades ist entscheidend dafür, dass das Spiel auch dann noch interessant bleibt, wenn man die grundlegenden Spielzüge schon lange meistert. Vor 25 Jahren zeigte ein Psychologe namens Richard Haier, dass eine solche Steigerung Menschen Vergnügen bereitet, weil das Gehirn effizienter wird, während man sich verbessert. Haier entschied sich, zu beobachten, wie Menschen ein Videospiel meisterten: „1991 hatte noch niemand von Tetris gehört“, sagte er ein paar Jahre später in einem Interview. „Ich ging in den Computerladen, um zu sehen, was es so gab, und der Mann dort sagte: ,Hier, versuchen Sie das mal. Das ist gerade erst reingekommen.‘ Tetris war das perfekte Spiel. Es war einfach zu lernen, man musste üben, um besser zu werden, und es gab eine gute Lernkurve.“

Haier kaufte sich das Spiel für sein Labor ein paar Mal und beobachtete, wie seine Probanden es spielten. Er fand heraus, dass mit der Erfahrung neurologische Veränderungen vor sich gingen – bestimmte Teile des Gehirns wurden dicker und die Gehirnaktivität ging zurück. Dies legte nahe, dass die Gehirne von Experten effizienter arbeiteten. Noch wichtiger in unserem Zusammenhang ist aber, dass er herausfand, dass seine Probanden es genossen, das Spiel zu spielen. Sie erklärten sich vertraglich bereit, jeden Tag 45 Minuten zu spielen, fünf Tage die Woche, bis zu acht Wochen. Sie kamen wegen des Experiments (und der Bezahlung), dabei blieben sie aber wegen des Spiels.

Eine Eigenschaft des Spiels, die einem Befriedigung verschafft, besteht in dem Gefühl, dass man etwas aufbaut – einen hübschen Turm aus bunten Steinen. Das Chaos kommt in Gestalt zufällig herabfallender Teile, die Aufgabe des Spielers besteht darin, Ordnung zu schaffen. Das Spiel erlaubt einem den kurzen Kick, die Reihen, die man lückenlos schließen konnte, kurz aufleuchten zu sehen, bevor sie verschwinden. Dann sieht man nur noch seine Fehler vor sich. Also versucht man es von Neuem, während das Spiel an Geschwindigkeit zunimmt.

Mikhail Kulagin, ein Freund und Programmiererkollege Paschitnows, erinnert sich an den Drang, die eigenen Fehler zu beheben: „Tetris ist ein Spiel mit einer starken Negativ-Motivation. Man sieht nie, was man gut gemacht hat, der Bildschirm zeigt einem nur die eigenen Fehler. Und die will man korrigieren.“

Das Gefühl, etwas zu erschaffen, für das es Arbeit und Mühe und Expertise braucht, ist ein wichtiger Antrieb hinter Suchthandlungen, die andernfalls mit der Zeit ihren Reiz verlieren würden. Hierin besteht ein heimtückischer Unterschied zwischen Substanzabhängigkeit und Verhaltenssucht: Während Substanzabhängigkeiten offenkundig destruktiv sind, sind viele Verhaltenssüchte still destruktive Akte, die sich als Schaffen tarnen. Die Illusion des Fortschritts trägt einen, wenn man höhere Punktzahlen erreicht, mehr Follower für sich gewinnt oder die eigenen Fähigkeiten verbessert. Aufzuhören wird immer schwieriger, muss man dafür doch gegen den Drang, wachsen zu wollen, ankämpfen.

„Einige Game-Designer lehnen Endlosformate wie Tetris ab“, sagt Foddy. „Weil sie eine Schwäche in der Motivationsstruktur der Menschen ausnutzen.“

Menschen finden den Punkt zwischen „zu leicht“ und „zu schwierig“ – dort, wo Computerspiele, finanzielle und berufliche Ambitionen, Social-Media- und Fitnessziele genau den richtigen Grat an Herausforderung bieten – unwiderstehlich. An diesem Punkt, wo die Notwendigkeit, aufzuhören, sich nicht mehr gegen das obsessive Setzen immer neuer Ziele durchsetzen kann, gedeiht die Sucht.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman / Holger Hutt
Geschrieben von

Adam Alter | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

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