René Redzepi René Redzepi kocht umwerfend mit dem, was in seiner dänischen Heimat vor der Haustür wächst. Für sein Restaurant "Noma" bekommt er dafür einen Preis nach dem anderen
Außer der lebenden Garnele blieb nichts auf dem Teller liegen (nur noch ein Stück Seeigel, aber das ist eine längere Geschichte). Die Garnele kam in einem mit Eis gefüllten Glas. Als ich den Deckel lüftete, zappelten ihre kleinen Beine. Der freundliche Koch, der sie servierte, beschrieb sie als „sehr, sehr, sehr frisch; köstlich; wie die Essenz des Meeres“. Dann sah er mein Gesicht und hatte Erbarmen. „Keine Sorge“, sagte er. „Eine Menge Leute essen sie nicht.“
Im Noma, einem kleinen Restaurant, das versteckt im Kopenhagener Stadtteil Christianshavn am Wasser liegt, geht selten etwas in die Küche zurück. Im vergangenen Jahr wurde das Noma vom Restaurant Magazine zum „besten Restaurant der Welt“ gekü
gekürt. René Redzepi, 31 und Chef des Restaurants – somit also der beste Chefkoch der Welt – hat eine neue nordische Küche entwickelt, „eine Hommage an den Boden und das Meer“. Dafür treibt er die Orientierung an den Jahreszeiten und an regionalen Produkten auf die Spitze. Er durchforstet die Wälder, kämmt die Meeresufer ab und liest „vor der Haustür Dinge auf, auf die wir seit Jahren treten wie beispielsweise Moose, Blätter oder Schnecken“. Sein neues Buch wurde bereits als das wichtigste Kochbuch des Jahres bezeichnet. Sein Restaurant ist drei Monate im Voraus ausgebucht, egal ob zur Mittagszeit oder zum Abendessen.Ich werde an einen kleinen Tisch in der Bar des Restaurants geschmuggelt, wo man mir Kostproben von diesem und jenem auftischt: ein geräuchertes Wachtelei; Lauch, dessen Wurzeln tiefgefroren sind, während die nächsten beiden Zentimeter gedämpft und mit püriertem, gebratenem Knoblauch gefüllt sind; das noch warme Fleisch eines arktischen Seeigels – der eine halbe Stunde zuvor in der Küche noch über meine Hand gekrochen ist – auf einem See aus eiskalter Milch mit Gurke und Dill. Redzepi versichert mir, dass es genau der Seeigel ist, den ich vorhin in der Hand gehalten habe. Er tut so, als bemerke er die Enden des Tieres nicht, die unter meinem Brot hervorlugen.Mit 15 von der SchuleRedzepi ist nicht der Typ, den man für eine kulinarische Sensation halten würde. Er könnte ein Filmschauspieler sein: Dunkles Haar, durchdringende braune Augen, erstaunlich klein. Die Auszeichnung des Restaurant Magazines wie auch die zwei Michelin-Sterne, die er inzwischen hat, haben ihm nicht den Kopf verdreht. Die Dänen, sagt er, seien ein „unversnobter, pragmatischer Haufen“, während er mich durch seinen Speisesaal führt. Zwölf Holztische in einer alten Lagerhalle, schlichtes Geschirr und unverputzte Wände. Er sagt, er habe nie „dicke Tischtücher, schweres Silberbesteck und die Kellner in Fracks gewollt – all diese Dinge, die sich so unecht anfühlen können“. Er habe immer „einen guten Holztisch einem beschissenen Tisch mit einer schicken Tischdecke“ vorgezogen. Redzepi verwendet gern und häufig die Worte „Rohzustand“ und „Authentizität“.Am Tag darauf renne ich ihm zufällig in einem Café in die Arme und so spazieren wir gemeinsam durch den peitschenden Regen zurück zum Restaurant, Redzepi mit einem Fahrrad an seiner Seite. Er erzählt von seinen Freunden, viele betreiben Restaurants. „Wenn ein Küchenchef früher ein Rezept hatte, sagen wir einmal für eine besondere Vinaigrette, dann hat er es für sich behalten und mit keinem geteilt. Heute ist das Kochen kollegialer, es ist Gott sei Dank offener geworden.“ Sein bester Freund aus Schulzeiten arbeitet in einer Kantine. „Er mag den Stress und die Arbeitszeiten, die mit einer Küche wie der des Noma verbunden sind, nicht“, sagt Redzepi achselzuckend. Er schließt sein Fahrrad ab, dann sagt er nachdenklich: „Ich verstehe das vollkommen. Ich denke oft: Warum zur Hölle mache ich das?“Wir setzen uns in einen schlichten Raum über dem Speisesaal, der für private Abendessen vermietet wird. Vor dem Fenster wetteifert ein grauer Himmel mit dem noch dunkleren Grau des Kanals. Redzepi streicht über den Holztisch. Seine Hände sind klein. Eine Fingerkuppe fehlt – das Resultat eines Unfalls mit einem Stabmixer. Seine beiden Zeigefinger sind leicht gekrümmt. „Der Arzt sagt, das kommt von der Arbeit mit den Messern. Der Finger verdreht sich einfach.“ Er sieht die Finger an, als würden sie nicht zu ihm gehören und lacht. „In den ersten Jahren habe ich mich jedes Mal verbrannt, wenn ich etwas aus dem Ofen geholt habe. Das passiert mir heute nicht mehr. Ich kenne jede Bewegung in meiner Küche.“Vater machte den besten SalatRedzepi ist in Kopenhagen geboren, seine Mutter ist Dänin, der Vater Mazedonier. Er glaubt, dass sein Erfolg durchaus damit zu tun hat: „Ich komme ein Stück weit von außerhalb. Ich sehe die Dinge nicht wie ein 100-prozentiger Däne.“ Seine Mutter arbeitete als Putzfrau, sein Vater war Taxifahrer, Busfahrer, Gemüsehändler, Fischlieferant – „alle Klischees des Ausländers“. Die Familie verbrachte die Winter in Kopenhagen und die langen Sommer im damaligen Jugoslawien. Viele von Redzepis Erinnerungen sind Sinneseindrücke. Sein Zwillingsbruder und er fingen Fliegenfische, sammelten Kastanien, pflückten Brombeeren. Sie bauten alles selbst an; er kann sich nicht erinnern, dort je in einem Supermarkt gewesen zu sein. Zurück in Kopenhagen kochte sein Vater Hühnerleber mit Limabohnen oder Pasta mit brauner Butter und zerstoßenem Pfeffer, während seine Freunde Fertiggerichte und Backofenpommes aßen. „Unsere Mahlzeiten kosteten nicht viel, aber immerhin hat sie jemand zubereitet, sich etwas dabei gedacht und sie abgeschmeckt.“Wenn seine Mutter zu Partys eingeladen war, bei denen etwas zu Essen mitgebracht werden sollte, entschied sie sich immer für Salat, „denn Vater machte den besten Salat. Er nahm Zwiebeln und Tomaten, schnitt sie in Stücke und legte sie in etwas Essig, Öl und Salz ein. Heute ist das weit verbreitet; damals hatte das nur dieser Kerl drauf.“Zum Kochen kam Redzepi, weil er vorher scheiterte. Er verließ mit 15 die Schule; in der neunten Klasse „wollte die Schule, dass ich abging. Mir war das egal, aber ich erinnere mich noch, wie ich den Brief in der Hand hielt, in dem ‚Nein‘ stand und wie ich dachte ‚Oh Sch...‘.“ Ein Freund ging auf die Restaurantfachschule, und da er sonst nichts zu tun hatte, ging Redzepi eben mit. „In dem Jahr bin ich erwachsen geworden.“Anschließend eine Lehrstelle in dem Kopenhagener Restaurant Pierre Andre zu bekommen, bedeutete einen großen Sprung, es besitzt bis heute einen Michelin-Stern. „Ich erinnere mich noch an mein erstes Gericht, das es auf die Speisekarte schaffte. Ich nahm ein Stück Ananas, rieb es mit Safran und anderen Gewürzen ein, briet es, wendete es in Karamellbutter, wie ein Stück Fleisch, und servierte es mit Eiscreme.“Damals hatte Redzepi nur Frankreich im Kopf. „Ich dachte, die gesamte gehobene Gastronomie bestünde aus der französischen Cuisine.“ Er erinnert sich noch an das brummende Geräusch des Faxgerätes, mit dem sein Vertrag für das Drei-Sterne-Restaurant Le Jardin des Sens in Montpellier eintraf. „Als ich dort ankam, war alles für mich überraschend und hart. Ich dachte, ich würde die Krone der Perfektion zu sehen bekommen. Keineswegs. Die Stimmung war extrem angespannt. Alle arbeiteten gegeneinander. Ich war 19. Es war wie beim Militär. Reden durfte man nicht, in der Küche waren Kameras angebracht. Man sagte: ‚Wie war dein freier Tag‘ und erntete nur ein ‚Pssst‘.“ Er unterbricht sich und sagt dann: „Ich habe zwei kleine Sterne, sie haben drei – nicht nur sie, 20 Restaurants auf der ganzen Welt. Mit welchem Recht sage ich überhaupt etwas?“Redzepi war 24 und hatte an einigen anderen Orten Erfahrungen gesammelt (El Bulli, Kong Hans), als ihn ein Unternehmer aus Kopenhagen ansprach, ob er das Noma führen wollte. „Ich hatte andere Angebote abgelehnt. Ich wollte nicht die Küche eines anderen übernehmen. Ich wollte bei Null anfangen.“ Niemand bereitete ihn auf den Stress vor, der ihn erwartete. „Ich war anfangs sehr allein. Du bist 24. Hast zwei Partner, die nie da sind. So viele Entscheidungen. Das zwingt dich dazu, dein Gehirn dazu zu bringen, schneller zu denken.“ Aber die Eröffnung, war die nicht fantastisch? „Es war nicht so toll. Obwohl wir im ersten Jahr einen Michelin-Stern bekamen, fühlte ich mich wie ein Betrüger. Wir wagten uns an nichts Neues. Unsere Küche war skandinavisch-französisch – ich kochte Dinge, die ich kannte. Ich tauschte nur einzelne Zutaten aus. Es war, als ob ich mir das Gehirn eines anderen lieh.“Eines Tages hatte er auf dem Weg zur Arbeit plötzlich das Gefühl, nur noch weinen zu müssen: „Ich wollte mich auf den Boden legen und heulen. Ich fühlte mich, als könnte ich keinen Schritt weiter gehen. Der fürchterliche Stress, die Selbstzweifel, die Verantwortung. Ich hatte kein eigenes Leben mehr. Dann dachte ich an die drei Mädchen und die zwei Jungs in der Küche – wir waren immer ein junges Team. Und ich dachte, dass es ohne mich dort nicht funktionieren würde. Also riss ich mich irgendwie zusammen – und es ging weiter.“Die Offenbarung (auch wenn er nicht so selbstgefällig ist, als dass er es so nennen würde) erlebte er auf einer Reise zu den nordatlantischen Inseln. Dort, unter den Fischern und Bauern, erkannte er, dass er einige Überzeugungen, über Bord werfen musste. „Zu einem gastronomischen Spitzengericht mussten nicht unbedingt die Dinge gehören, die ich aus anderen Top-Küchen mitgebracht hatte.“ Er reduzierte, entdeckte in Vergessenheit geratene nordische Zutaten (Binsen, Meer-Sanddorn, Preiselbeeren), erkannte die Möglichkeiten, Fleisch mit Beilagen zu kombinieren, die das Tier, von dem es stammt, selbst frisst (Wildschwein etwa mit Mais und Beeren). „Wenn ich nicht weiterkomme, kehre ich immer zu diesem Mantra zurück: Zeit und Ort. Wir kochen in einem Teil der Welt, von dem die meisten glauben, dass Kochen hier nicht existenzfähig ist: Es sei zu kalt, wir hätten nicht genügend Produkte. Vielleicht ist es zu kalt, vielleicht haben wir nicht das nötige Angebot. Aber wenn man seine Intuition nutzt und die Möglichkeiten erkennt, dann geht es doch.“Der Prozess eines GerichtsHeute gibt es für ihn auch ein Leben – oder zumindest zwei Siebtel eines Lebens – jenseits der Küche. Seine Frau Nadine, eine frühere Kellnerin, die sich jetzt um die Reservierungen kümmert und er haben eine zwei Jahre alte Tochter, das zweite Kind ist unterwegs. Er sagt, wenn Kinder ins Spiel kämen, veränderten sich die Dinge. Sonntags und montags sei er „ein hingebungsvoller Ehemann und perfekter Vater“. Den Rest der Woche arbeitet er mindestens 80 Stunden. „Am Anfang habe ich gesagt, dass ich dem Noma zehn Jahre meines Lebens widmen werde und alles gebe, was ich kann. Ich würde versuchen, wie ein Besessener zu arbeiten. Sieben solche Jahre haben wir nun hinter uns. In drei Jahren werden wir die Dinge noch einmal überdenken.“Geld sei ihm nicht so wichtig, sagt er: „Was ich daran hasse, ein Restaurant zu haben, ist von den Leuten Geld zu verlangen“. (Das Tagesmenü – im Noma das einzige Menü – kostet 1.100 Dänische Kronen, umgerechnet rund 150 Euro). „Einen Abend lang sind sie deine Freunde, man hat eine gute Zeit zusammen, und dann heißt es: ‚Gebt mir euer Geld.‘ Es fühlt sich seltsam an.“ Was ihn interessiere, seien Prozesse: „Der Prozess, ein Team zu bilden, zu beobachten, wie ein Azubi zum Meister wird, der Prozess einer Cuisine, die sich langsam entwickelt, der Prozess eines Gerichts. Hat man das Endresultat erzielt, dann ist es vorbei. Man geht. Ein anderer kann übernehmen.“Er sieht aus dem Fenster. Es hat aufgehört zu regnen. Ein Lastkahn fährt vorbei, ein roter Fetzen im Grau. „Ich glaube, wenn man die Nummer eins geworden ist, ist das womöglich der Anfang vom Ende.“
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