Wer Mandy Wilsons Online-Updates verfolgte, wusste, dass es ihr in den vergangenen Jahren sehr schlecht gegangen war. Mit 37 wurde bei ihr Leukämie diagnostiziert, kurz nachdem ihr Mann sie mit der fünfjährigen Tochter und dem Baby allein gelassen hatte. Die folgende Chemotherapie schädigte ihr Immunsystem. Schließlich erlitt sie einen Schlaganfall und lag wochenlang auf der Intensivstation.
Aber Wilson war nicht allein. Während sie in ihrer Heimatstadt in Australien litt, boten ihr Frauen aus Amerika, Großbritannien, Neuseeland und Kanada virtuellen Beistand an. Wilson postete auf der Seite Connected Moms, einer Online-Community für Mütter, Nachrichten aus ihrem Leben. Viele Mitglieder lasen die Updates, die entweder von ihr selbst oder – wenn es ihr zu schlecht ging – von ihren Freunden Gemma, Sophie, Pete und Janet geschrieben wurden. Die Follower hielten ihr drei Jahre voller Operationen und lebensbedrohlicher Infektionen die Treue. Bis ein Community-Mitglied herausfand, dass sie überhaupt nicht krank war. Gemma, Sophie, Pete und Janet hatte es nie gegeben. Wilson hatte alles nur erfunden.
Damit gehört sie zu einer offenbar steigenden Zahl von Menschen, die online Krankheiten und Traumata vortäuschen. In Krebsforen oder auf Magersucht-Seiten, in Sozialen Netzwerken und auf Blog-Portalen werden Community-Mitglieder zu Opfern eines Betrugs, der ihre Zeit stiehlt und ihr Mitgefühl ausbeutet.
Pathologisches Verhalten
Die Simulanten haben nichts von ihren Lügen – außer Aufmerksamkeit. Witzbolde mit einem kranken Sinn für Humor sind sie aber nicht. Diese suchen in der Regel eine schnellere, direktere Art der Belohnung. Es erfordert eine aufwändige Recherche, um eine überzeugende Krankengeschichte zu entwickeln und aufrecht zu erhalten. Zudem entwerfen die Simulanten oft fiktionale Personen, die das eigene Lügennetz stützen. Psychiater beschreiben das Verhalten von Menschen, die so weit gehen wie Mandy Wilson, als pathologisch. Ironischerweise kann man sie also als krank bezeichnen, wenn auch nicht in dem Sinne, in dem sie dies behaupten.
Münchausen by Internet (MBI) nennen Psychiater dieses Verhalten. Während man beim Münchausen-Syndrom Symptome am Körper simuliert, um die Aufmerksamkeit der Ärzte zu erhalten, müssen Online-Simulanten die Symptome nur überzeugend beschreiben. Das Potenzial an mitfühlenden Lesern ist quasi unbegrenzt, der Erfolg bemisst sich in der Anzahl besorgter Emails und mitfühlender Kommentare.
Manche gehen sogar so weit, ihren eigenen Tod zu simulieren und verfolgen online, wie andere um sie trauern. Werden sie durchschaut – was eher selten geschieht –, ziehen sie einfach zu einer anderen Selbsthilfegruppe weiter, wo neue Opfer auf sie warten. Den Leuten, die sie zum Narren gehalten haben, fällt es indes selten so leicht, einfach zur Tagesordnung überzugehen.
Unter Mandy Wilsons Lügen besonders gelitten hat Dawn Mitchell, eine 42-jährige Australierin, die die Simulantin schließlich entlarvte. „Wenn man selbst Kinder hat, reagiert man emotionaler, wenn man hört, dass Kinder ihre Mutter verlieren könnten“, sagt sie. Mitchell begann nach und nach, Wilson jene Rund-um-die-Uhr-Unterstützung zu geben, nach der diese verlangte. „Es kam vor, dass ich morgens eine Stunde mit ihr verbrachte, ein paar Stunden am Nachmittag und abends, wenn die Kinder im Bett waren, bis um eins mit ihr chattete. Anstatt mit meinem Mann ein Glas Wein zu trinken, saß ich am Computer.“
Die Getäuschte schämt sich
Heute schämt Mitchell sich dafür, dass sie drei Jahre lang an ein erfundenes Leiden sowie den tragischen „Tod“ der vermeintlichen Freunde Sophie und Pete glaubte. Aber Wilson gab sich viel Mühe mit ihren Lügen. Ihre Online-Figuren hatten alle einen persönlichen Stil. Und sie schickte Mitchell ein Bild, auf dem sie eine Glatze trug, weil sie durch die Chemotherapie angeblich ihre Haare verloren hatte. Sie hielt ihren kleinen Sohn in die Kamera und simulierte vor der Webcam einen Krampfanfall.
Der Betrug flog nur auf, weil Wilson süchtig nach Aufmerksamkeit wurde. „In den letzten sechs Monaten wurde es etwas albern“, erzählt sie. „Es gab einfach zu viele Dramen, die zu dicht aufeinanderfolgten.“ Aber niemand möchte eine Frau, die im Sterben liegt, fälschlicherweise der Lüge bezichtigen. Also suchte Mitchell auf australischen Internetseiten nach Nachrufen auf Sophie und Pete, fand aber keine. Sie betrachtete das Bild mit der Glatze genauer und entdeckte Haarstoppel. Als sie Wilsons Facebook-Seite durchsah, merkte sie, dass diese Bilder von Freunden kommentiert hatte, als sie eigentlich vom Schlaganfall gelähmt auf der Intensivstation gelegen haben müsste.
„Wir können nur vermuten, warum Menschen das machen. Die Täter äußern sich kaum dazu“, sagt Marc Feldman, Professor für Psychiatrie an der Universtiy of Alabama und Autor des Buches Playing Sick. „Vielen dieser Leute mangelt es an sozialer Kompetenz. Es ist ihnen nicht möglich, auf einem direkteren Wege Aufmerksamkeit und Sympathie zu erhalten.“
Feldman hat den Begriff MBI geprägt. „Es ist schwer zu sagen, wie verbreitet es ist. Wir kennen ja nur die Fälle, in denen die Verstellung misslungen ist.“ Dennoch hört er etwa alle drei Wochen von einem neuen Fall. Obwohl man kein Profil eines typischen MBI-Betrügers erstellen kann, gilt aber als gesichert, dass Frauen sowohl als Täter als auch als Opfer überdurchschnittlich oft vertreten sind. Selbsthilfeforen im Internet ziehen mehr Frauen als Männer an. Aber Feldman hat noch eine andere Erklärung. „Die Gefängnisse sind voll mit Männern, die ihre Bedürfnisse auf direkte, pathologische Weise befriedigt haben. Frauen neigen hingegen dazu, auf indirekte Weise Aufmerksamkeit zu erregen.“
Verzeihung!
Vielen Selbsthilfegruppen wird das Weitermachen nach solch einer Erfahrung nahezu unmöglich. Einige Communities zerbrechen daran, da das missbrauchte Vertrauen in Paranoia unter den Mitgliedern umschlagen kann. Wenn es kein explizites Schuld-Eingeständnis gibt, spaltet sich die Gruppe oft in eine Hälfte, die den Verdächtigen unterstützt, und in eine andere, die seinen Ausschluss verlangt.
Im Fall von Mandy Wilson stellte Mitchell die vermeintliche Kranke bei einem Skype-Gespräch zur Rede. Angesichts der Beweise gestand sie den Betrug ein und bat um Verzeihung. Es blieb aber Mitchell überlassen, dem Rest der Unterstützergruppe mitzuteilen, dass die Geschichte erfunden war. Wenn sie heute mit einigen Monaten Abstand darüber spricht, klingt immer noch Fassungslosigkeit durch: „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand all das für nichts und wieder nichts erfindet. Ich werde es nie verstehen.“
Jenny Kleeman schreibt für den Guardian über Gesellschaftsthemen
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