Der lange Atem der iranischen Reformbewegung wie der immer verzweifelter wirkende Versuch des Regimes, die Opposition mit Gewalt zur Aufgabe zu zwingen, lässt viele Beobachter fragen, ob sich nun endgültig eine zweite iranische Revolution Bahn bricht. Mit jeder tödlichen Kugel, jeder fehlgeleiteten Tränengaskartusche und jeder erneuten Verhaftung finden sich die Erben der Islamischen Revolution von Ayatollah Chomeini immer weiter isoliert.
Monat des Blutes
Diejenigen, die sich vor 30 Jahren mit Inbrunst und Mut gegen den Schah erhoben hatten, sehen sich nun selbst in der Rolle des nationalen Unterdrückers. Die fanatischen Studenten, die einen amerikanischen Präsidenten in den Ruin trieben, die treuen Krieger, die sich in einem acht Jahre währenden Krieg (1980 - 1988) mutig dem vom Westen unterstützten Saddam Hussein entgegenstellten, und die Ideologen, die ihren obersten religiösen Führer zur Rechten Gottes platzierten, wurden selbst zu dem Establishment, das sie einst so verabscheuten – sie wirken inkompetent und korrupt und werden vom Volk verunglimpft.
„Wir werden kämpfen, wir werden sterben, wir werden unser Land zurückbekommen!“ skandieren die Teheraner Demonstranten, während sie grüne Bänder in die Höhe streckten, als könnten sie sich dadurch vor Kugeln und Schlagstöcken schützen. „Yazid (der verhasste Kalif, der Hussein zum Märtyrer machte) wird geschlagen werden ... Dies ist der Monat des Blutes!“ – rufen sie. Ob diese versuchte zweite Revolution, die sich nicht mehr auf Beschwerden über die mit Betrugsvorwürfen belastete Wahl im Juni beschränkt, sondern auf einen Regimewechsel zielt, den Schwung beibehält oder gar noch erhöhen kann, wird sich in den kommenden Tagen und Wochen zeigen.
Die am 7. Dezember erneut aufgeflammten Studentenproteste erhielten nach dem Tod von Großayatollah Hussein Ali Montazeri eine breitere Basis. Die Entscheidung des Regimes, die Basidsch-Milizen bei Gedenkveranstaltungen in Ghom und Isfahan auf die Trauernden loszulassen, von denen viele keine Demonstranten waren, hat auch vormalige Unterstützer des Regimes schockiert und der Führung entfremdet. Der bisher ungeklärte Tod von Ali Mussawi, des Neffen von Mir Hussein Mussawis, hat zudem einen neuen Märtyrer geschaffen. Es stehen nach Aschura 15 Feiertage und diverse politische Jubiläen an – all dies sind denkbare Anlässe für weitere gegen die Regierung gerichtete Demonstrationen.
Die Unfehlbarkeit ist dahin
Der iranisch-israelische Nahostexperte Meir Javedanfar hat darauf hingewiesen, dass mehr Tote mehr Beerdigungen und somit auch mehr Protest bedeuten – ein Kreislauf, für den es ein historisches Vorbild gibt, da er bereits dem Sturz des Schah vorausging. „Die Proteste scheinen nun das Potential zu haben, sich zu einer Kampagne des sozialen Ungehorsams auszuwachsen, die an die erste Intifada der Palästinenser gegen Israel 1987 erinnert. Die zunehmenden Angriffe von Ali Chamenei auf die iranische Öffentlichkeit, gegen Moscheen und Mitglieder der religiösen Community legitimieren den Widerstand nicht nur in den Städten, sondern im ganzen Iran“, so Javedanfar.
Der Revolutionsführer und sein immer unpopulärerer Protegé Mahmud Ahmadinedschad könnten dieser Abwärtsspirale wohl Einhalt gebieten, würden sie ihre sture Haltung aufgeben und mit ihren Gegnern reden. Dafür gibt es bisher keinerlei Indizien. Stattdessen scheinen die Regierung von einer Politik der selektiven Kontrolle, Repression und Einschüchterung zu einer systematischen Niederschlagung überzugehen, die de facto eine Verhängung des Kriegsrechts sowie eine totale Mediensperre bedeuten könnte.
In einem Leitartikel fordert die moderate Tageszeitung Mardom-Salari das Regime zu mehr Flexibilität auf. „Zu ignorieren, was sich nach den Wahlen zugetragen hat, kann das Land in eine Katastrophe stürzen. Wir können vielleicht unsere Augen vor der Realität verschließen, die Probleme lösen werden wir auf diese Weise mit Sicherheit nicht.“ Hardliner verlangen indessen, nur ja keine Kompromisse einzugehen. In einer Erklärung verurteilten die an den religiösen Seminaren von Qom tätigen Geistlichen die „zerstörerischen Elemente“, die in der Gesellschaft am Werk seien. Man hoffe, die wachsame iranische Nation werde die Verschwörung der Feinde des Islam und des islamischen Systems vereiteln, wie dies in der Vergangenheit bereits geschehen sei.
Wenn die vormals angewandte Taktik irgendwelche Rückschlüsse zulässt, wird das Regime das scharfe Vorgehen der Sicherheitskräfte mit verstärkten außenpolitischen Angriffen wie dem Vorwurf äußerer Einmischung flankieren. Von Verhaftungen mehrerer angeblicher Mitglieder einer im Exil tätigen Oppositionsgruppe war bereits zu hören. Behauptungen über eine amerikanische und britische Einmischung werden mit großer Wahrscheinlichkeit folgen.
Mit dem Hervortreten der Konfliktlinien verändert sich freilich etwas Entscheidendes. Hetzreden gegen eingebildete Feinde und paranoides Getue können sich weitende Risse in der iranischen Gesellschaft nicht mehr übertünchen. Vielleicht schafft es das Regime noch einmal, an der Macht festzuhalten. Doch Chomeinis Werk hat an Legitimität verloren. Die Unfehlbarkeit des Obersten Führers ist dahin. Der „Monat des Blutes“ ist über sie gekommen.
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