Langsam kommt der Kater

Brasilien Rund ein halbes Jahr ist Präsident Jair Bolsonaro im Amt, eine Zeit von Chaos und Skandalen. Viele Anhänger wenden sich erschrocken ab
Ausgabe 29/2019
32 Prozent der Brasilianer und Brasilianerinnen finden seine Regierung schlecht oder schrecklich
32 Prozent der Brasilianer und Brasilianerinnen finden seine Regierung schlecht oder schrecklich

Foto: Sergio Lima / AFP / Getty Images

Nur wenige Wochen vor dem Wahl-Erdbeben in Brasilien im vergangenen Jahr setzte sich die Rocklegende Lobão vor seinem Hinterhof-Studio hin, schaltete sein Smartphone ein und verkündete, er werde den rechtspopulistischen Präsidentschaftskandidaten unterstützen. „Ich habe mich entschlossen, Jair Bolsonaro meine Stimme zu geben“, erklärte der rechte Rocker in einem Youtube-Beitrag. „Bolsonaro ist die einzige Chance auf etwas Neues.“

Kürzlich sank der Sänger mit der rauen Stimme nachmittags in einen Stuhl auf dem gleichen Hof und räumte einen schweren Fehler ein. „Es ist einfach nur ein Wahnsinnschaos“, so Lobão über Bolsonaros krisengeschüttelten ersten Akt an der Macht. Die sechs Monate von dessen Amtszeit waren geprägt von Fraktionskämpfen, Massenprotesten, dem Verdacht auf Verbindungen zur Mafia sowie Korruptionsvorwürfen, in die seine Familie verwickelt sein soll. Dazu kommen ein Kokainschmuggel-Skandal, an dem ein Flugzeug des Präsidenten beteiligt ist, sowie brisante Enthüllungen über seinen prominenten Justizminister Sérgio Moro. Ganz abgesehen von einer Reihe bizarrer kleinerer Fehltritte – unter anderem teilte Bolsonaro ein pornografisches Video mit seinen 3,4 Millionen Twitter-Followern –, die einige Stimmen haben bezweifeln lassen, dass Bolsonaro seine vierjährige Amtszeit bis zum Ende durchsteht.

„Nicht einmal Syd Barrett hatte so einen schlechten Trip“, zog Lobão den Vergleich zum LSD-Konsum des legendären Pink-Floyd-Gitarristen, der ihn in die Psychatrie brachte. Sechs Monate nachdem Bolsonaro das Präsidentenamt übernommen hat, zeigt sich der 61-jährige Lobão als einer der schärfsten Kritiker des Rechtspopulisten. In einer Reihe von Medienauftritten sagte er der neuen Regierung die Meinung.

Und er ist nicht allein in seinem Entsetzen: Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass die Zustimmung zu Bolsonaro seit seiner Amtseinführung am 1. Januar zurückgegangen ist. 32 Prozent der Brasilianer und Brasilianerinnen finden seine Regierung schlecht oder schrecklich, im Vergleich zu 11 Prozent zum Zeitpunkt seines Machtantritts. Mehr als die Hälfte der Befragten gaben an, kein Vertrauen in den Präsidenten zu haben.

„Es ist der schlimmste Start in eine Präsidentschaft seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990“, urteilt Mauro Paulino, der Leiter von Datafolha, einer von Brasiliens Top-Meinungsforscher-Instituten. „Es kommt natürlich stark auf den Gegenkandidaten an, aber ich glaube nicht, dass er erneut gewählt werden würde, wenn heute wieder Wahl wäre.“

Berüchtigt für seine aggressive, giftige Rhetorik und Verachtung der Menschenrechte, ist Bolsonaro schon lange eine Hassfigur für Brasiliens Linke. Zunehmend werden aber auch konservative Stimmen laut, die seine Präsidentschaft kritisch hinterfragen. „Seine Popularität sinkt, weil er Dinge tut und sagt, die für die Menschen keinen Sinn ergeben“, erklärt Eliane Cantanhêde, eine Kolumnistin der konservativen Zeitung O Estado de S. Paulo. Auch sie gehört zu Bolsonaros schärfsten Kritikern.

Der Kongressabgeordnete für São Paulo, Arthur do Val, besteht dagegen darauf, dass er und seine libertäre Gruppe Movimento Brasil Livre es nicht „für eine Sekunde“ bereuten, Bolsonaro unterstützt zu haben. Es seien feindlich gesinnte linke Journalisten, die Brasiliens Präsident unfairerweise als Griesgram, Oger oder „einen Hitler des Jahres 2019, der Homosexuelle töten will“ darstellten.

Sextouristen willkommen

Welche Note würde er also Bolsonaros ersten Monaten an der Macht geben? Und siehe da: „Nur viereinhalb von zehn“, antwortet der Politiker. Vals Hauptkritik gilt dem enormen Einfluss des ideologischen Flügels von Bolsonaros Regierung, angeführt durch den exzentrischen Polemiker Olavo de Carvalho, der von den USA aus arbeitet. Val kritisiert die Obsession, ideologische Kämpfe anzuzetteln, statt dringende Reformen durchzuführen.

Zudem verwundert es ihn sehr, dass ausgerechnet der „hitzköpfigste Sohn“ des Präsidenten, Carlos Bolsonaro, mit der Öffentlichkeitsarbeit des Präsidenten betraut wurde. Über die sozialen Medien startete Carlos Bolsonaro eine Reihe von Angriffen gegen vermeintliche Feinde in der Regierung seines Vaters und unter Brasiliens Rechten. Die Eskapaden solcher Figuren bergen das Risiko eines linken Comeback, warnt Val. „Wenn das Land am Ende einen negativen Eindruck von der Rechten gewinnt und wieder links wählt, dann bewegen wir uns in eine sehr gefährliche Richtung.“

Auch er steht nicht allein. Denn Bolsonaro genießt trotz der sinkenden Zustimmung immer noch viel Unterstützung, wie kürzlich zwei Pro-Regierungs-Demonstrationen zeigten. Umfragen zufolge sind 32 Prozent der Brasilianer überzeugt, dass ihr Staatschef auf dem richtigen Weg ist. Seine Unterstützer halten den Rückgang der Selbstmordrate ebenso für ein Verdienst Bolsonaros wie den kürzlich vereinbarten Handelsvertrag zwischen der EU und dem südamerikanischen Handelsblock Mercosur, dem Brasilien angehört.

„Ich glaube, dass es insgesamt wirklich gut läuft“, meint etwa der 44-jährige leitende Bankangestellte Emerson Medeiros. Er lobt Bolsonaros Engagement für eine Rentenreform und den Kampf gegen die Korruption. Am Abend des Wahlsieg nahmen Medeiros und seine Frau Cláudia an den großen Feierlichkeiten in São Paulo teil, die den neuen Staatschef zum „Retter der Nation“ erklärten.

„Ich bin immer noch genauso begeistert wie am ersten Tag“, schwärmt die 44-jährige Cláudia. „Ich glaube wirklich an ihn.“ Das Paar hält sich nicht für blinde Gefolgsleute des Präsidenten oder „bolsominions“, wie solche Leute in Brasilien genannt werden. „Ich bin nicht so verrückt, dass ich ihn immer weiter mit Lob überschütten würde, wenn er Mist baut oder seine Söhne enttäuschen und wirklich korrupt sind“, versichert Cláudia mit Blick auf Bolsonaros ältesten Sohn, Senator Flávio Bolsonaro, dem Korruption vorgeworfen wird. Ein gewisses Unbehagen über die öffentlichen Schnitzer des Präsidenten verspüren auch Cláudia und Emerson, etwa seine Andeutung, dass Sextouristen in Brasilien willkommen seien, solange sie nicht homosexuell sind. „Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass die Dinge sich in eine gute Richtung bewegen“, beharrt Emerson. „Die Medien konzentrieren sich zu sehr auf die negativen Aspekte.“

Edson Salomão, Gründer der Partei Direita São Paulo („Rechtes São Paulo“) gibt Bolsonaro eine noch bessere Bewertung. Auf die Bitte, die größten Erfolge der bisherigen Regierungszeit aufzuzählen, bereitet ihm die Antwort jedoch Schwierigkeiten: „Lassen Sie mich kurz in mein Handy schauen. Es gibt so viele.“ Die Kritik des Sängers Lobão tut er als Gelaber einer eitlen Legende ab. „Es gibt ein paar Stimmen, die ich lieber nicht höre – und Lobãos ist eine davon“, lacht er. „Er kann gut Musik machen – ich finde, er sollte dabei bleiben.“

Im Bann des Höhlenmenschen

Aber Lobão verspürt keine Reue darüber, dass er seine Meinung kundtut. Er könne es nicht länger ertragen, mit den Fanatikern um Bolsonaro in Verbindung gebracht zu werden. „Ich kann nicht Schulter an Schulter mit einem Haufen Eiferer, Bösewichte, Verrückter stehen ... Leuten, die glauben, dass die Erde eine Scheibe ist“, beklagt er sich. „Wir sind in der Hand eines kompletten Höhlenmenschen und rückständigen Rechten ... und diese groteske und karikierte Rechte wird automatisch den Weg frei machen für eine Rückkehr der Linken.“

Einige positive Aspekte kann Lobão der Regierung Bolsonaro dennoch abgewinnen, vor allem dem pragmatischen Vizepräsidenten Hamilton Mourão und Finanzminister Paulo Guedes – „einem coolen Kerl“, von dem er hofft, dass er Brasiliens Wirtschaft aus dem „Sumpf“ herausholen könne. Insgesamt aber fürchtet er die reaktionäre Einstellung der Staatsführung und Bolsonaros Loyalität gegenüber „völlig billigen“ Hardliner-Televangelisten.

In seinem Statement vor der Wahl hatte Lobão zugegeben, keine Ahnung zu haben, wohin eine Regierung unter Bolsonaro führen würde. „Ist es ein Abenteuer? Ja, es ist ein Abenteuer. Ich weiß nicht, was passieren wird.“ Monate später scheint der bärtige Rocker noch weniger zu wissen, wohin die Reise geht. „Brasilien ist ein verrücktes Raumschiff. Es könnte einfach alles passieren – und wir sind an Bord.“

Tom Phillips ist Lateinamerika-Korrespondent des Guardian

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Tom Phillips | The Guardian

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