Lasst uns Björk werden

Mit Biophilia zeigt Björk, wie die neuen Medien das ästhetisch-musikalische Erlebnis steigern können. Simon Reynolds über die einzige Innovatorin, die dem Pop geblieben ist

Als ich Anfang des Jahres Amanda Brown von der Kultband LA Vampires interviewte, erzählte sie mir zu meiner Überraschung, sie wache jeden Morgen auf und frage sich: „Wie kann ich mehr wie Björk werden? Wie kann ich die ekstatischste, vielseitigste Künstlerin werden, die es gibt?“ Ich war so überrascht, weil Björk in den letzten Jahren abgetaucht war und ich zugegebenermaßen beinahe vergessen hatte, was für eine interessante Künstlerin sie ist – und über welch lange Zeit sie interessant geblieben ist.

Björks innovative Laufbahn begann im Island der frühen Achtziger mit der „Primal Punk“-Band KUKL. Dann kamen die Sugarcubes, die Hausband der inzestuösen Reykjaviker Boheme-Szene mit ihren Absinth-saufenden Surrealisten und Poeten. Die ungestüm zwischen Großartigkeit und Schrulligkeit pendelnden Sugarcubes wurden durch Kunst-Pop-Songs wie Birthday, die sich jeglicher Zuordnung entzogen, und Björks unnachahmlichem Gesang zum Liebling der britischen Musikpresse.

1993 ging sie mit Debut, einem fröhlich-üppigen Abenteuer zeitgenössischer Tanzstile, auf Solopfade. Bezaubernde und originelle Videos wie Human Behaviour (Regie: Michel Gondry) machten sie in den USA zum MTV-Star. Für das 1995er- Album Post zapfte sie den Strudel multikultureller Energie des ihr mittlerweile zur Wahlheimat gewordenen Londons Mitte der neunziger Jahre an, das eigenartige Hybride wie Jungle und Trip-Hop hervorbrachte.

1997 stellte das noch experimentellere Homogenic wieder einen Bezug zur ursprünglichen Rauheit ihres Geburtslandes her. Das wunderbare und gläsern klingende Verspertine im Jahr 2001 bedeutete ein Rückzug in den Kokon häuslichen Glücks, passend zu ihrem neuen New Yorker Leben mit dem Künstler Matthey Barney.

Selbst Bowie verlief sich in Fehlzündungen und Ausrutschern

In den letzten zehn Jahren verwendete Björk mal fast ausschließlich die menschliche Stimme (Medúlla), dann wieder liebäugelte sie R (Volta) und zwischendurch streute sie noch Soundtrack-Alben wie Selmasongs und Drawing Restraint 9 ein. Nun wird sie mit dem beinahe haarsträubend ambitionierten Biophilia zur Vorreiterin, die Wege sucht, das ästhetische musikalische Erlebnis mithilfe der neuen Medien-Technologien zu steigern und zu erweitern, statt es auszuzehren und zu verramschen.

„Jedes Björk-Album ist anders“, schwärmte Brown weiter. Das läge auch daran, „dass sie immer mit neuen Leuten zusammenarbeitet“. In der Tat hat Björk in Sachen Kollaborationen immer einwandfreien Geschmack bewiesen. Tonangebend bei der Zusammenarbeit mit Tricky, Matmos, Robert Wyatt, Timbaland, Graham Massey von 808 State, Mark Bell von LFO oder Zeena Parkins waren aber immer ihre Vision und ihre Persönlichkeit. Mit ihrem Talent holt sie das Beste aus ihren musikalischen Komplizen heraus.

Letztlich kommt einfach niemand an Björk heran, wenn es um langfristige, stetige Innovation im Pop geht. Wer sonst war wie sie beinahe dreißig Jahre lang künstlerisch so rastlos und fruchtbar? David Bowie hat das Modell des Pop-Formenwandlers mehr oder weniger erfunden, doch nach einem dutzend Jahren stetiger Brillianz verlief sich seine Karriere in einem doppelt so langen Schlusssatz heftiger Fehlzündungen und katastrophaler Ausrutscher.

Kate Bush, die weibliche Entsprechung zu Bowie, war einen Großteil der zurückliegenden zwanzig Jahre ein schlafender Vulkan, tastete sich allerdings in diesem Jahr mit dem Album Directors Cut zurück, auf dem sie sich noch einmal einiger Songs aus ihrer am wenigsten freundlich aufgenommenen Schaffensphase annimmt.

Wer hört heute noch Blood, Sweat and Tears?

Björks Partner und ihr Ebenbürtige in den Neunzigern – charismatische Sound-Zauberer wie Tricky, Goldie oder The Aphex Twin – haben entweder Schaffenskraft eingebüßt oder wurden in die Schreckenszone namens „Berühmt fürs Berühmt-Sein“ verbannt. Radiohead machen nach ihrer Exkursion ins Reich der Seltsamkeiten mit Kid A und Amnesiac wieder das, worin sie am besten sind. U2 sind ebenfalls zu einer Tribut-Band ihrer selbst geworden. In den Nullerjahren wird die Konkurrenz noch spärlicher: Animal Collective und Joanna Newsom machen nur eine einzige Sache richtig gut, Gaga und MIA sind nicht innovativ, sondern Aggregatorinnen. Björk bleibt als einzige einzigartig.

Kultureller Einfluss ist nicht immer mit Verkaufszahlen gleichzusetzen. Kaum jemand hört heute noch Blood, Sweat and Tears oder Moody Blues. Love und The Velvet Underground hingegen, die jeweils zu ihrer Zeit auf dem Markt scheiterten, inspirieren auch heute noch Musikliebhaber und junge Bands. So auch Björk: Gemeinsam mit Beck und Trent Reznor gehört sie zu denen, die MTV in den 1990ern bestimmten - erstaunlicher Weise hatte sie aber nie eine wirkliche Hit-Single in den USA. Hier in Großbritannien ist sie kommerziell gesehen nur noch ein Schatten ihrer selbst. Nichtsdestotrotz bleibt sie eine Ikone: Winzig, aber gigantisch, dank dem Umfang ihrer Stimme und der Größe ihrer Vorstellungskraft.

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Geschrieben von

Simon Reynolds | The Guardian

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