Lauter böse Priester

Kirche Mord, Vergewaltigung, Inzest, Erpressung – in der Literatur kennen Geistliche keine Grenzen. Der irische Romanautor Paul Murray hat die zehn finstersten ausgesucht

Erzbischof Ruggieri Ubaldini aus Dantes Inferno (1321): Dante trifft im gefrorenen Eis des Kokytos im neunten Kreis der Hölle auf den Erzbischof – dort also, wo die Verräter landen. Neben Ruggieri ist der Graf Ugolino della Gherardesca eingefroren und nagt an des Erzbischofs Kopf. Gherardesca unterbricht seine schaurige Mahlzeit und erzählt dem Besucher, wie er mit dem Erzbischof eine Allianz eingegangen war, um seinen Enkel Nino, den Kopf der gegnerischen Guelfen in Pisa, loszuwerden. Doch nach Ninos Verbannung hatte sich der Erzbischof gegen Ugolino gewandt und ihn zusammen mit seinen vier Söhnen und Enkeln in einem Turm eingekerkert. Das Tor wurde vernagelt und Ugolino musste dabei zusehen, wie seine Kinder den Hungertod starben. Nun sind der Graf und sein Kontrahent zusammen im Eis eingeschlossen und Ugolino ernährt sich bis in alle Ewigkeit vom Kopf und Hirn des Erzbischofs.

Hubert, der Bettelmönch aus Chaucers Canterbury-Erzählungen (Ende 14. Jh.): Den Prinzipen des Heiligen Franz von Assisi treu ergeben, lebten die Bettelmönche, die England 1221 erreichten, ohne Besitz und reisten durch das Land, um zu lehren, zu predigen und zu betteln. Ihre drastischen Beschreibungen der Hölle erwiesen sich als äußerst effektives Mittel, um bei den Laien Geld locker zu machen – sehr zum Ärger der etablierten Kirchen, die ihnen vorwarfen, sie nähmen kriminellen Elementen allzu leichtfertig die Beichte ab, um finanziell davon zu profitieren. Hubert verkörpert als vermeintlicher Bettler, der auf edlen Rössern reitet und verdächtig wohlgenährt wirkt, alle erdenklichen Vorbehalte gegen die Bettelmönche. Auch in zwei anderen Geschichten der Canterbury-Tales kommen Bettelmönche extrem schlecht weg, so dass einige Chaucer-Experten davon ausgehen, dass der Autor hier einen persönlichen Konflikt austrug.

Tartuffe aus Molières Der Tartuffe (1664): Tartuffe ist vermutlich der berühmteste Scheinheilige der Literaturgeschichte, ein verarmter Heiratsschwindler, der sich ins Haus des reichen Orgon mogelt. Verhext durch Tartuffes Pseudo-Religion will Orgon seine Tochter mit ihm verheiraten. Tartuffe gibt unterdessen alles, um Orgons Frau zu verführen. Das Drama schockierte die Kirchenväter und wurde nach einer Aufführung der ersten drei Akte in Versailles 1664 verboten, noch bevor Molière das Stück überhaupt zu Ende schreiben konnte. Als es drei Jahre später erneut auf der Bildfläche erschien, diesmal getarnt unter dem Titel Der Betrüger, da drohte der Erzbischof jedem, der es auch nur wagen sollte, das Stück zu lesen, mit der sofortigen Exkommunikation.

Mönch Ambrosio aus Matthew Lewis’ Roman Der Mönch (1796): Lewis schrieb diesen Roman innerhalb von nur zehn Wochen, um seine Mutter unterstützen zu können, die sich in einer finanziellen Notlage befand, weil sie mit einem Musiklehrer durchgebrannt war. Er verfolgt genüsslich die Abwärtsspirale, in die der eingangs aufrechte Mönch Ambrosio gerät: Wollust, faustische Pakte mit dem Teufel, Vergewaltigung (seiner Schwester und Mord (an der Mutter). In diesem schaurigsten aller Schauerromane treten außerdem eine rachsüchtige Mutter Oberin und eine gespenstische, blutende Nonne auf. Zunächst wurde Der Mönch anonym veröffentlicht, doch mit der zweiten Auflage lüftete Lewis, damals Mitglied des britischen Unterhauses, seine Identität. Samuel Taylor Coleridge war nur einer von vielen, die schockiert feststellten: „Der Autor des Mönchs gibt sich zu erkennen – ein Gesetzgeber!“

William Collins aus Jane Austens Stolz und Vorurteil (1813): Collins zählt zu Austens brillantesten Geschöpfen und sein Heiratsantrag an Elizabeth Bennet ist eine komische Tour de Force. Erst bringt der Geistliche seine Gründe vor – er ist ein gutes Vorbild für seine Schäfchen, durchaus altruistisch veranlagt und überhaupt hat seine Gönnerin Lady Catherine de Bourgh es ihm aufgetragen – , dann versichert er Elizabeth wie heftig er in Liebe zu ihr entbrannt ist. Als sie seinen Antrag ablehnt, weigert er sich, ihr zu glauben und weist sie darauf hin, dass sie sich vermutlich die einzige Chance entgehen lässt, jemals zu heiraten. Zwei Tage später macht er ihrer weitaus berechnenderen Freundin Charlotte einen Antrag, der prompt angenommen wird.

Pfarrer Edward Casaubon aus George Eliots Middlemarch (1874): Als Figur, die sowohl Furcht als auch Mitgefühl auslösen kann, hat Casaubon viele Autoren und Akademiker beschäftigt. Casaubon ist ein vertrockneter, realitätsfremder Geistlicher, der den Großteil seines Lebens mit der vergeblichen Suche nach dem Schlüssel zu allen Mythologien verbringt. Zunächst wirkt er einfach nur distanziert und von allem entfremdet; doch nach seiner Hochzeit mit Dorothea Brooke kommt seine böse Seite zum Vorschein. Er verbietet ihr seinen jüngeren Cousin Ladislaw zu treffen und droht, dass er sie enterben wird, wenn sie ihn jemals heiraten sollte; dann will er sie zwingen sein großes Werk nach seinem Tode zu vollenden – der wenige Seiten später dann auch eintritt. Das Porträt eines verschwendeten Lebens, mit schwarzem Humor gezeichnet.

Der Großinquisitor in Fjiodor Dostojewskijs Die Brüder Karamasov (1880): Der Atheist Ivan Karamasov erzählt seinem frommen Bruder Aljoscha eine Legende, die sich im 16. Jahrhundert in Sevilla auf dem Höhepunkt der Inquisition abgespielt haben soll. Jesus Christus ist kurz auf die Erde zurückgekehrt, um den erlahmenden Glauben seiner Anhänger zu stärken. Doch der Großinquisitor, der beobachtet, wie er ein kleines Mädchen wieder zum Leben erweckt, lässt ihn verhaften. In der Nacht kommt er zu ihm die Zelle und erklärt ihm, dass die Kirche seine Lehren schon lange verworfen hat. Sein Beharren auf die Freiheit des Menschen habe zu moralischem und gesellschaftlichem Chaos geführt, behauptet der Inquisitor. Der Mensch sei schwach und Freiheit mache ihn unglücklich. Deshalb müsse er nicht nur mit Gewalt beherrscht werden, er verlange geradezu danach. Deshalb habe die Kirche einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Dostojewskis Beschreibung eines totalitären Staates, in dem die unterdrückten Menschen bereitwillig konspirieren, sollte sich auf grausige Art als prophetisch erweisen.

Der Priester aus James Joyces Ein Porträt des Künstlers als junger Mann (1916): Im Rahmen einer vermeintlichen spirituellen Klausur zwingt ein namenloser Priester die Jungen des Belvedere College dazu, einen 15-seitigen Aufsatz über die Qualen der Hölle zu schreiben. Die „viertausend Meilen dicken“ Wände, die Flüsse aus Abwässern, die quälenden Feuer und die furchterregende Vorstellung von der Ewigkeit lassen Stephen Dedalus zunächst über seinen eigenen Tod und sein eigenes Märtyrium fantasieren, darauf folgt eine lange Phase des religiösen Eifers. Das Vorbild für diesen außerordentlich gruseligen Priester war ein gewisser Pater James Cullen, über den ein Klassenkamerad James Joyces sagte: „Er hatte eindeutig eine sadistische Ader ... Er fand es lustig, den jungen Burschen die Hand zu reichen und diese dann solange zu quetschen, bis sie vor Schmerzen schrien.“

Der böse Priester aus Thomas Pynchons Roman V. (1963): Im vom Krieg erschütterten Valletta begegnet der Dichter Fausto Maijstral dem bösen Priester zum ersten Mal, als dieser versucht, Faustos Geliebte davon zu überzeugen, ihr Kind abzutreiben. Voller Schuld- und Schamgefühle entkommt Elena ihm nur durch eine zufällige Begegnung mit dem guten Father Avalanche. Während die Luftwaffe am „Tag der dreizehn Bombenangriffe“ die Stadt wiederholt angreift, entdeckt Fausto den bösen Priester, wie er unter einem Balken liegt. Einheimische Kinder haben ihn ausgezogen und foltern ihn, und so stellt sich heraus, dass er eigentlich eine Frau ist – die endgültige Inkarnation V.s, jener mysteriösen, ihre Gestalt verändernden, dämonisch-mechanischen Verkörperung des Ewig-Weiblichen, die in Pynchons faszinierendem ersten Roman mal hier und mal dort auftaucht.

Bruder Leon aus Der Schokoladenkrieg von Robert Cormier (1974): In einer amerikanischen Highschool steht ein Schokoladenverkauf für wohltätige Zwecke an, Cormier nutzt dieses Setting um die Zwänge zu erforschen, die dem Schulsystem immanent sind. Dessen Herzstück ist Bruder Leon. Nach außen hin gibt er sich milde, doch in Wahrheit ist der Assistent des Rektors ein machtversessener Sadist, der keine Gnade kennt. Er ist ein Meister darin, die Schwachpunkte der Jungen herauszufinden, er nutzt sie gnadenlos aus und bringt seinen kleinen Jüngern bei, es ihm gleich zu tun. Am Ende des Romans ist einer der Jungen tot und die Schule eine moralische Ruine – deren Leitung stolz Bruder Leon übernimmt.

Der Ire Paul Murray wurde mit seinem ersten Roman An Evening of Long Goodbyes 2003 für den Whitbread-Preis nominiert. Vor kurzem erschien sein zweiter Roman Skippy Dies, eine Geschichte über den Tod und einen Doughnut-Ess-Wettbewerb in einem katholischen Internat in Dublin, wo der Französischlehrer Pater Green, genannt Père Vert, ein strenges Regiment führt. Für den Guardian hat er die zehn schlimmsten Geistlichen der Literaturgeschichte ausgewählt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Paul Murray | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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