Rose Juan schirmt ihre Augen mit dem Arm gegen die Sonne ab und blickt auf den Grabstein vor ihrer improvisierten Unterkunft. „In meinen Träumen sehe ich Geister“, sagt die gebrechliche, 50 Jahre alte Frau. Seit einem halben Jahrzehnt lebt die fünffache Mutter nun schon unter den Toten. Aber die Zeit hat dem Leben hier nichts von seiner Unheimlichkeit genommen. Juan ist eine der Zehntausenden von Obdachlosen in Südsudans Hauptstadt Juba. Da sie nicht wusste, wo sie sonst hingehen sollte, musste sie sich auf dem städtischen Friedhof niederlassen. „Manchmal grüßen mich die Toten – Männer, Frauen und Kinder – und fragen mich ,Warum lebt ihr mit uns?‘“, erzählt sie von ihren Albträumen und den Geistern, die sie dann heimsuchen.
Vor fast fünf Jahren brach im jüngsten Staat Afrikas ein Bürgerkrieg aus, von dem niemand glaubte, dass er Ende 2017 noch immer andauern würde. Die Kämpfe zwischen den Regierungstruppen von Präsident Salva Kiir und militärischen Verbänden, die loyal zum ehemaligen Vizepräsidenten Riek Machar stehen, sind bis heute nicht abgeflaut. Massenhafte Vertreibung, Hunger und mutmaßliche Kriegsverbrechen stürzen das Land in eine immer tiefere Verzweiflung. Es entstehen Schäden, die noch in Jahrzehnten nicht überwunden sein werden.
Mauern verbergen das Elend
Vor acht Jahren reiste Rose Juan mit ihrer Familie aus der Stadt Terekeka nach Juba, weil sie hoffte, hier Hilfe zu finden. „Mein Mann ist schon lange psychisch krank und kann nicht für uns sorgen“, schildert sie ihr Schicksal. Sie habe sich gedacht, in einer größeren Stadt gebe es vielleicht mehr Möglichkeiten. Als sie mit den Kindern in Juba ankam, fand sie zunächst ein provisorisches Lager am Nilufer. Sie teilte ihre Zuflucht mit Tausenden von der Volksgruppe der Mundari, die ebenfalls gekommen und an diesem Ort gestrandet waren, weil sie glaubten, dass ihnen in Juba Nahrungs- und medizinische Hilfe zuteil würden.
Doch nach Unterzeichnung des Naivasha-Abkommens zwischen der Südsudanesischen Befreiungsarmee SPLM und der gesamtsudanesischen Regierung in Khartum, das dem Süden ab Juli 2011 den Weg in die Unabhängigkeit ebnete, strömte ausländisches Kapital ins Land. In Erwartung erheblicher Investitionen gab man den Mundaris unmissverständlich zu verstehen, dass sie zu verschwinden hätten, um Platz zu machen für neue Hotels und Bürogebäude. Die Regierung habe ihnen gesagt, sie sollten zurück nach Terekeka ziehen, und jede Verantwortung bestritten, ihnen zu helfen, schildern die heutigen Friedhofsbewohner ihre damalige Verzweiflung. Da sie nicht in die Asyle der Trostlosigkeit ihrer Heimat zurückkehren wollten, ließen sich Tausende auf dem Saint Mary’s Cemetery nieder, ohne dass sie jemand daran hinderte.
Ein Land gibt sich auf
Seit Ausbruch des Bürgerkrieges im Dezember 2013 wird mit der Peacekeeping-Mission UNMISS, der UN-Mission im Südsudan, versucht, den Konflikt einzudämmen und vorzugsweise der Zivilbevölkerung zu helfen. Trotz einer Aufstockung dieses Blauhelm-Kontingents auf inzwischen knapp 13.000 Soldaten ist es jedoch bisher nur gelungen, durch Schutzzonen einzelne Regionen zu befrieden und Flüchtlingslager zu schützen.
Es fehlt ein robustes Mandat, um eine Feuerpause gegebenenfalls durchsetzen zu können. Zwischen den Konfliktparteien um den Präsidenten Salva Kiir und den ehemaligen Vizestaatschef Riek Machar wurden durch Verhandlungen in Addis Abeba im Januar wie im Mai 2014 Absprachen über eine Waffenruhe getroffen, die dann aber bestenfalls für Tage eingehalten wurde.
Gleiches gilt für einen im August 2015 ebenfalls in Äthiopien geschlossenen Friedensvertrag über eine Regierung der nationalen Einheit. Der ist längst nicht mehr das Papier wert, auf dem er steht. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass bis Anfang 2017 etwa 50.000 Menschen bei den jahrelangen Kampfhandlungen ums Leben kamen. 830.000 Südsudanesen sind in die Nachbarländer Äthiopien und Uganda sowie in den Nordsudan geflohen. Die Zahl der Binnenflüchtlinge liegt bei 1,5 Millionen, so dass die UNO den Südsudan seit 2014 als nationales Katastrophengebiet einstuft. Das Land sei von den vorhandenen Ressourcen her nicht mehr in der Lage, der eigenen Bevölkerung ein lebenswürdiges Dasein zu bieten. Lutz Herden
Der Friedhof, der hinter einer langen Ziegelmauer verborgen liegt, hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt in ein ausgedehntes, schmutziges Barackendorf inmitten der Hauptstadt verwandelt. Dünne Plastikzelte stehen auf der nackten Erde, während die Granitoberflächen der Grabsteine dazu verwendet werden, Kleidung zu trocknen oder Haushaltsgegenstände zu lagern. Kinder spielen auf den scharfkantigen Einfassungen der Grabstätten, während gleich nebenan ungerührt die jüngst Verstorbenen beerdigt werden. Die meisten Einwohner Jubas haben keine Ahnung davon, dass derart viele Menschen hinter schweren Mauern in erbärmlichen Verhältnissen mehr vegetieren als leben. Ebenso wenig die lokalen und internationalen Hilfsorganisationen, die in der Stadt präsent sind.
Die Bewohner des Friedhofs sagen alle, sie fühlten sich verstoßen. „Die Regierung hilft uns nicht“, klagt die 54-jährige Cecilia Grak. Vor zehn Jahren habe sie von „einem Ort namens Juba“ gehört und sei aus Terekeka hierher gekommen, weil sie sich erhoffte, regelmäßig mit Lebensmitteln versorgt zu werden, erzählt die Mutter von acht Kindern. Als sie versucht hätte, auf privaten Grundstücken zu kampieren, sei sie immer wieder verjagt worden. Schließlich fand sie Zuflucht auf dem Totenacker. Heute ernährt sie sich von weggeworfenen, oft verdorbenen Nahrungsmitteln, die sie auf Märkten der Umgebung sammelt oder mitunter geschenkt bekommt.
Es gibt keine Arbeit
Die südsudanesische Regierung will mit den Friedhofsbewohnern wenig zu tun haben. Die offizielle Begründung lautet, die Menschen würden dort illegal leben, daher seien die Behörden nicht verpflichtet, ihnen zu helfen. „Sie sind nicht unser Problem“, sagt Johnson Swaka, eine Art Sozialdezernent der Stadtverwaltung.
Unterstützung erhalten die über 3.000 Friedhofsbewohner nur von einer einzigen kommunalen Hilfsorganisation. Deren Mitarbeiter freilich versichern: Seit Ausbruch des Krieges Mitte Dezember 2013 habe sich die Situation weiter verschlechtert, wogegen man inzwischen nichts mehr tun könne. „Es gibt keine Arbeit, und wenn sie einmal ein bisschen Geld in die Finger bekommen, geben es die meisten für Alkohol aus“, erzählt Martha, eine der Sozialarbeiterinnen, die sich um die Friedhofsbewohner kümmern. Die müssten nicht nur darunter leiden, dass sie ganz selten irgendwelche Gelegenheitsarbeiten fänden. Dadurch werde auch der Alkoholismus begünstigt, was sehr oft sexualisierte Gewalt zur Folge habe. Marthas Organisation arbeitet seit fünf Jahren auf dem Friedhof, gibt bis zu 600 Kindern Geld, damit sie zur Schule gehen können, und unterstützt Opfer geschlechtsbezogener und familiärer Gewalt. Ja, sagt sie, die Stimmung sei manchmal schon sehr aufgeheizt. „Wenn sie betrunken sind, richten sich die Wut und Verzweiflung der Menschen auch gegen diejenigen, die versuchen, ihnen zu helfen.“
Bürgerrechtsgruppen verlangen von der Regierung, mehr für die Bevölkerung zu unternehmen und zu erschwinglichen Preisen – oder auch kostenlos – Land zur Verfügung zu stellen. „Der anhaltende gewaltsam ausgetragene innere Konflikt im Südsudan hat die Lebensverhältnisse für gewöhnliche Zivilisten weiter verschlechtert“, sagt Edmund Yakani, der Geschäftsführer der „Community Empowerment for Progress“-Organisation, eines örtlichen Non-Profit-Interessenverbands. „Die Leute können sich die Lebenshaltungskosten längst nicht mehr leisten“, klagt Yakani. „Vom Geld für eine erträgliche Unterkunft ganz zu schweigen.“ Und die Gesetzgeber bezweifeln, dass sie daran etwas ändern können. „Menschen auf einem Friedhof werden als Tote betrachtet“, sagt ein Mitglied des Parlaments, das nicht namentlich genannt werden möchte. „Solange sie nicht umziehen wollen, gelten sie kaum als menschliche Wesen. Darüber müssen sie sich im Klaren sein.“
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