Lernt Sprachen!

Ohne Untertitel Mit seinem neuen Film „Film Socialiste“ macht Jean-Luc Godard den Zidane und stößt sein Publikum vor ... den Kopf.

Die Filmkritiker aus aller Welt, die sich in Cannes versammelt hatten, um Jean-Luc Godards neuestes Werk zu sehen, dürften wohl alles mögliche erwartet haben, vom Brillianten über das Obskure bis hin zum Lächerlichen. Alles, nur das nicht. Wieder einmal hat er alle reingelegt, denn die Art und Weise, wie er die englischen Untertitel setzte, trieb die des Französischen unkundigen Massen schon nach drei Minuten in Scharen aus der Vorstellung. Wie kann er es wagen, nur jedes fünfte Wort zu übersetzen? Sagte eine Figur auf der Leinwand beispielsweise: „L’argent est un bien public“, lautete der englische Untertitel: „money public good“. Nie waren mehr als drei Wörter auf der Leinwand zu sehen, keine Pronomen und keine Verben. Sie waren entweder weit voneinander entfernt oder alle zusammengeschrieben. Auf diese Weise tut Godard das, wovon andere Filmemacher nur träumen können und sagt „merde“ zur Realität. Da bedarf es in der Tat eines wilden Haufens – Wild Buch ist der englische Name der französischen Produktionsfirma, die den Film finanziert hat – der ruhig mit ansieht, wie ein Werk sich derart selbst sabotiert.

So wie sich der Fußballer Zinedine Zidane beim WM-Finale 2006 mit einem Kopfstoß gegen einen Gegenspieler aus der französischen Nationalmannschaft verabschiedete, hat Godard mit seinem Film Socialiste seinen eigenen Abschiedsbrief geschrieben. Beide sind Götter auf ihrem Gebiet und können es sich leisten, sich der Welt zu widersetzen und die Realität zu leugnen: ein Privileg tragischer Helden. Mit der Weigerung, das Spiel mit den Untertiteln mitzuspielen, verhindert Godard, dass sein Film außerhalb der immer kleiner werdenden französischsprachigen Welt wahrgenommen wird und ins Ausland exportiert werden kann. Und selbst von einem französischsprachigen Publikum verlangt er, dass es Deutsch, Italienisch und Russisch zumindest radebrechen kann, denn ganze Szenen in diesen Sprachen sind überhaupt nicht mit Untertiteln versehen.

Als der deutsch-französische Politiker Daniel Cohn Bendit Godard vor drei Wochen in einem Interview für das französische Kunst-Magazin Télérama auf Übersetzungen ansprach, erwiderte der Schweizer Filmemacher, an so etwas glaube er nicht. Godard ist ein Relikt des „alten Europa“ – einer Welt, in der deutsche Philosophen, britische Stückeschreiber, französische Schriftsteller, italienische Komponisten, spanische Dichter und niederländische Maler schriftlich wie mündlich in der Sprache ihrer Nachbarländer kommunizieren konnten. Er stammt aus einer Zeit, in der jeder aufgeklärte Europäer fünf Sprachen sprach, Latein nicht mitgerechnet. Elitär? Nein, revolutionär.

Untertitel im Kino sind heute noch immer so problematisch wie eh und jeh, denn sie müssen nicht nur die gesprochenen Wörter und Sätze übersetzen, sondern auch den kulturellen Kontext. Wenn Fred Astaire in Vincent Minnellis Band Wagon (dt. Vorhang auf!) sagt: „I declare my independence, it’s the new me, 1776, lauten die französischen Untertitel „ ... Je déclare mon indépendance, le nouveau moi, 1789.“ Wenn aber in Stephen Frears jüngsten Film Tamara Drewe, der ebenfalls in Cannes lief, der von Roger Allam gespielte Schriftsteller ironisch über das britische Nachrichtenmagazin Newsnight spricht, wartet man vergeblich auf die französischen Untertitel. Bei der Pressevorführung hatten entsprechend nur die britischen Kritiker etwas zu lachen, während ihre ausländischen Kollegen lange Gesichter machten: Sie wussten, dass sie etwas verpasst hatten, hatten aber keine Ahnung, was das war.

Hin und wieder kommt es allerdings vor, dass ein Film kongenial untertitelt wird. Dies geschah zum Beispiel bei der englischen Version von Cyrano. Oft habe ich darüber nachgedacht, wie ein Film in französischen Versen – einem völlig anderen metrischen System – in einer Übersetzung Erfolg haben könnte. Dann erfuhr ich, dass der außergewöhnlich polyglotte Anthony Burgess Edmond Rostands Cyrano übersetzt und die Untertitel für den Film geschrieben hatte. Wie die Baudelaire-Übertragungen von Edgar Allan Poe war auch dies eine kulturelle Hochzeit, die im Himmel gestiftet wurde.

Es ist vielleicht wenig überraschend, dass Godard für einen Film, der auf einem dieser anonymen Mittelmeerkreuzer spielt, wo tausende von Menschen aller möglichen Nationalitäten zusammenkommen, ohne sich wirklich zu begegnen, diese spärliche Form der Untertitelung wählte. Er wendet sich damit gegen eine Welt, die durch die Globalisierung nur scheinbar enger zusammenrückt, in Wirklichkeit aber ein neues Babel geschaffen hat, in dem Englisch als neue lingua franca weder für mehr Verständigung und Frieden sorgt, noch die Menschen vereint. „Übersetzt nicht, lernt Sprachen“, sagte Godard zu Cohn-Bendit. Ganz unrecht hat das enfant terrible der Nouvelle Vage damit nicht.

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Agnès Poirier | The Guardian

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