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Spanien Eine abgehängte und verlorene Generation denkt nicht nur an Auswanderung – sie ist größtenteils dazu gezwungen
Bergleute aus Asturien sind in dieser Woche erneut zum Marsch auf Madrid aufgebrochen
Bergleute aus Asturien sind in dieser Woche erneut zum Marsch auf Madrid aufgebrochen

Foto: Cesar Manso / AFP / Getty Images

In einem Land einst leidenschaftlicher Euro-Enthusiasten greift die Skepsis gegen die Einheitswährung um sich. Manche sind längst überzeugt, ohne den Euro besser dran zu sein. Das jedoch würde Spanien ein halbes Jahrhundert zurückwerfen, beschwört Luis Garicano von der London School of Economics in einem dramatischen Seite-Eins-Kommentar von El País seine Landsleute. „Wir wollen nicht zurück in die fünfziger Jahre. Die Eurozone zu verlassen, wäre weitaus schlimmer, als wir uns vorstellen können.“ Millionen Spanier überzeugt das wenig, für sie kann es kaum schlimmer werden.

Luz María Reyes hat ihre Taschen gepackt, alles ist fertig, ein prall gefüllter roter Koffer liegt auf ihrem Bett. Sie wartet auf die Zwangsräumung ihrer bescheidenen Wohnung im Madrider Bezirk Aluche. „Meine Tochter und meinen Enkel habe ich zu Freunden geschickt. Ich will nicht, dass sie alles mit ansehen müssen“, sagt die 52-Jährige über das Ende aller Träume von der sicheren Zukunft für ihre Familie. Während sich der spanische Staat auf das größte und gefährlichste Rettungspaket Europas einlässt, ist sie viel zu sehr mit den Folgen von Rezession und Arbeitslosigkeit auf ihr Leben beschäftigt, als dass sie das große Ganze noch kümmern könnte.

Vor sieben Jahren hatte eine Sparkasse die Reinigungskraft überredet, die Wohnung zu kaufen und dazu einen Kredit von 195.000 Euro aufzunehmen. Die Bank ist seitdem mit einem halben Dutzend anderer Geldhäuser zum maroden Giganten Bankia fusioniert, der Immobilienspekulanten schlechtes Geld hinterher wirft. Während Reyes auf den Gerichtsvollzieher wartet, soll Bankia mit EU-Geldern von mindestens 25 Milliarden Euro vor dem Konkurs gerettet werden. Zu den Kosten, die dabei in Betracht kommen, gehören auch Abfindungen für Direktoren, die maßgeblich für jahrelange Misswirtschaft verantwortlich sind: Einer soll 6,2 Millionen Euro, ein anderer 14 Millionen erhalten. „Ich schalte den Fernseher an und höre, dass Bankia dieses Geld bekommt und zugleich denen alles nimmt, die in Not sind“, sagt Reyes.

Nachdem sie die Wohnung gekauft hatte, begriff sie erst, was sie sich zumutete. „Auf einmal musste ich höhere Raten zahlen. Niemand hatte mir das vorher erklärt.“ Dann platzte 2009 die Immobilienblase, an der Spaniens Banken mit ihren Krediten erheblichen Anteil hatten. Reyes verlor ihre Nebenbeschäftigung – die Pflege einer älteren Frau – und musste auch bei ihrem Hauptjob die Stunden reduzieren. Inzwischen verdient sie noch 500 Euro im Monat und hat bei 25 Prozent Arbeitslosigkeit kaum Aussichten, etwas Besseres zu finden. Obwohl die Bank den Wert ihrer Wohnung heute mit 100.000 Euro nur noch auf die Hälfte dessen taxiert, was Reyes dafür aufzubringen hat, soll sie nicht nur exmittiert werden, sondern noch 130.000 Euro für Tilgung und Zinsen zahlen. Dutzende von Aktivisten der Indignado-Bewegung haben sich mehrfach den Gerichtsvollziehern in den Weg gestellt und Reyes ein paar Wochen Aufschub verschafft, aber ihr nicht die Gerichtsvollzieher erspart.

Das nächste Mal Dynamit

Luz María Reyes gehört zu etwa 350.000 Ecuadorianerinnen, die vor zehn Jahren in der Hoffnung auf ein besseres Leben ins boomende Spanien kamen. Das Land zog seinerzeit Millionen Einwanderer an, von denen sich heute viele dafür verfluchen, je gekommen zu sein. Viele Landsleute von Reyes haben längst aufgegeben und sind zurückgekehrt in ihre Heimat.

Während die Ecuadorianerin darauf wartet, ihre Wohnung zu verlieren, zieht es über 10.000 Bergleute aus den Minen Asturiens nach Madrid. Ihre Busse verlassen sie direkt vor dem Santiago-Bernabéu-Stadion, in dessen VIP-Boxen sich regelmäßig Bauunternehmer, Banker und Politiker treffen. Das Sparprogramm der Regierung des Premiers Rajoy bedroht auch die Existenz dieser Mineros und ihren Familien. Ein langer, harter Kampf zeichnet sich ab. „Sie wollen die Subventionen für den Bergbau streichen“, sagt Julio, den weißen Helm auf dem Kopf nach hinten gekippt. „Eine Katastrophe für uns! Wovon sollen wir leben?“ Schon Julios Vater fuhr in den Schacht, sein elfjähriger Sohn wird die Familientradition kaum fortsetzen. „Es ist eine Schande. Spanien braucht Kohle. Wenn wir selbst keine fördern, müssen wir sie zu hohen Preisen einkaufen. Wir haben hier weder Öl noch Gas – nur Kohle.“

Tausende marschieren wütend zum Industrieminister und zünden ohrenbetäubende Böller. Der Polizei wird es schließlich zu viel. Wie in Madrid bei solchen Protesten inzwischen üblich, setzen die Beamten Schlagstöcke ein. Auch gegen Fotografen und Kameraleute. Bislang haben die Spanier ihre Empörung gewaltfrei artikuliert. Bei den Indignados ist Verzicht auf Militanz Programm. Aber das ändert sich. „Das nächste Mal bringen wir Dynamit mit“, skandieren die Bergarbeiter, als sie abziehen.

Von heute auf morgen

Man hat das Gefühl, als sei es eine Ewigkeit her, dass Spaniens Wirtschaft boomte und Menschen ins Land kamen, um in den Wohnungen der Aufsteiger sauber zu machen. Enrique Rodríguez war früher selbstständig und verdiente sich seinen Lebensunterhalt, indem er Gebrauchsanweisungen übersetzte. Heute zählt der 40-Jährige, der im Madrider Vorort Getafe lebt, zu den drei Millionen, die länger als ein Jahr keine Arbeit mehr haben. Die dreiköpfige Familie schlägt sich mit Gelegenheitsjobs seiner Frau durch. „Die Regierenden scheint das nicht zu kümmern“, sagt Enrique. „Ihnen geht es gut. Und den Rest – Leute wie uns – lassen sie draufgehen.“

Bei den unter 25-Jährigen sucht mehr als jeder zweite irgendeinen Job. Cristina García, eine 26-jährige Wirtschaftsingenieurin, hat angefangen, am Goethe-Institut in Madrid Deutschunterricht zu nehmen. Gerüchte, dass man in Deutschland auf eine Beschäftigung hoffen könne, haben einen Ansturm auf Sprachschulen wie diese ausgelöst. Nur, wer kann schon von heute auf morgen auswandern?

Die 35-jährige Musiklehrerin Cristina López hat sich gerade scheiden lassen. Jetzt lebt sie mit ihrer elfjährigen Tochter in einer Wohnung, die sie nicht mehr bezahlen kann, seitdem sie ihre Anstellung eingebüßt hat und nur noch Kindern Privatunterricht geben kann, deren Eltern sich derlei Luxus leisten können. Während ihr Einkommen schwindet, steigen die Ausgaben, und die staatlichen Beihilfen lösen sich in Luft auf. „Es geht mir heute noch einmal schlechter als vor einem Jahr“, sagt López. „Es gibt keine Schulkostenbeihilfe mehr für meine Tochter, die Kosten für Strom und den öffentlichen Nahverkehr steigen. Ich kann nur jede zweite Rechnung bezahlen.“

Auch wer noch einen Job hat, der weiß, dass die Zukunft nicht rosig aussieht. Die Journalistin Sofía de Roa arbeitet in der PR-Abteilung einer Hochschule. Wie viele in ihrem Alter ist auch sie eine mileurista – eine derjenigen, die in Madrid mit 1.000 Euro im Monat auskommen müssen. Aber sie resigniert nicht und arbeitet in ihrer Freizeit bei Agora Sol Radio, einem Sender, der sich vor einem Jahr durch die Proteste an der Puerta del Sol inspirieren ließ. „Wir geben denen eine Stimme, die keine haben, und zeigen den Herrschenden, dass wir sehen, was sie tun. Wir verlangen von ihnen, ihre Arbeit zu machen und uns selbst über unser Leben entscheiden zu lassen.“

Giles Tremlett ist Autor des Buches The Ghosts of Spain

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Giles Tremlett | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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