Letzte Hoffnung Berufung

Bradley Manning Ein Gefreiter der US-Armee wollte sein Land an die Werte erinnern, die es hochzuhalten behauptet. Dafür wird er nun härter bestraft als ein Kriegsverbrecher
Aus dem Weißen Haus wird keine Hilfe kommen
Aus dem Weißen Haus wird keine Hilfe kommen

Foto: T.J. Kirkpatrick / Getty Images

Bradley Manning wurde zu einer Gefängnisstrafe von 35 Jahren verurteilt. Das übetrifft die Geheimhaltungsfrist der von ihm veröffentlichten Dokumente um zehn Jahre. Die Militärrichterin verhängte damit die längste Gefängnisstrafe, die jemals für die Preisgabe von Geheimnissen einer US-Regierung verhängt wurde.

Manning hat dieser Logik zufolge mehr Schaden angerichtet als jener Soldat, der einem Agenten des jordanischen Geheimdienstes Informationen über die Vorbereitungen zum ersten Irakkrieg 1991 gegeben hat, oder der US-Marine, der dem KGB die Identitäten von CIA-Agenten und Baupläne der amerikanischen Botschaften in Moskau und Wien preisgab. Mannings Weitergabe der Kriegsprotokolle und Feldberichte aus dem Irak und aus Afghanistan an WikiLeaks wird als dreimal so schlimm bewertet wie das, was Charles Graner getan hat, der die Misshandlung und Folterung von Gefangenen in Abu Ghraib zu verantworten hatte und freikam, nachdem er von seinen zehn Jahren sechseinhalb abgesessen hatte.

Diese toten Bastarde“

Unter den 700.000 geheimen Dokumenten, die Manning herunterlud, als er im Irak stationiert war, befand sich ein Video, auf dem zu sehen ist, wie ein Apache-Hubschrauber das Feuer auf eine Gruppe Iraker eröffnet, die versucht hatten, einen schwer Verwundeten zu retten. Zu ihr gehörten auch zwei Reuters-Journalisten und deren Kinder. Noch verheerender als der Film war die Unterhaltung im Cockpit. Die Soldaten machten sich über die Menschen, die sie auf offener Straße erschossen, auch noch lustig:

Sie dir diese toten Bastarde an“, so der eine. „Hübsch“, erwidert der andere.

Die Besatzung des Apache wurde nie wegen irgendeines Vergehens zur Rechenschaft gezogen (all ihre erwachsenen Zielpersonen wurden als Aufständische geführt). Und auch sonst erwuchs niemandem aus Mannings Enthüllungen irgendein persönlicher Nachteil. Doch die gekürzte 17-Minuten-Version des Videos wurde auf YouTube drei Millionen mal angesehen.

Die zentrale Frage nach der Verhältnismäßigkeit dieser Strafe besteht also darin, ob der Wunsch, einen von moralischer Empörung angetriebenen Whistleblower zu bestrafen, aus dem Schaden erwächst, den er der US-Armee und den diplomatischen Interessen der USA zugefügt hat oder einzig und allein purer Scham entspringt. Die Vorsitzende Richterin, Oberst Denise Lind, hatte mit „Unterstützung des Feindes“ den schwerwiegendsten Anklagepunkt bereits fallengelassen. Sie begrenzte darüber hinaus auch die Zulässigkeit von Beweisen, die die „abkühlende Wirkung“ der 250.000 Kabel des State Departments auf die US-Diplomatie belegen sollten. Ein Zeuge aus den Reihen der Armee gab an, es gebe keinen Beleg dafür, dass jemand getötet worden sei, nachdem er in den veröffentlichten Dokumenten namentlich genannt wurde.

Gesetz von 1917

Mannings jüngste Entschuldigung für seine Taten lenkt nicht von seiner ursprünglichen Rechtfertigung ab, als er vom Schock angesichts der „begeisterten Mordlust“ der Hubschrauber-Besatzung sprach und erklärte: Er glaube, es sei richtig gewesen, eine Debatte über die Kriege im Irak und in Afghanistan anzustoßen. Seine Motive als Whistleblower haben nichts mit Verrat zu tun oder mit einem Tatbestand, der nach einem Spionagegesetz zu verurteilen wäre, das verabschiedet wurde, als die USA 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten.

Bradley Manning enthüllte, wie Gefangene von irakischen Wärtern unter Duldung der Amerikaner gefoltert wurden. Er hat gezeigt, dass die Zahl der zivilen Opfer im Irak weit höher war als offizielle Schätzungen besagen. Würde man die Daten heute veröffentlichen, käme niemand auf die Idee, sie anzuzweifeln. Sie sind in die offizielle Erzählung über diesen Krieg eingeflossen. Manning aber wird noch weit bis in das nächste Jahrzehnt hinein dafür bezahlen, dass er sein Land und dessen Armee an die Werte erinnern wollte, die es hochzuhalten behauptet – erst dann kann er zum ersten Mal einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung stellen.

Es ist unklar, was das Militär mit einer Strafe zu bewirken hofft, die alle vergleichbaren in den Schatten stellt. Abschreckung spielt in ihrem Denken eine große Rolle. Wer die Öffentlichkeit vor etwas warnt und auf einen Missstand hinweist (to blow the whistle on something heißt: vor etwas warnen) – so die Botschaft – gefährdet nicht nur seine Karriere, sondern auch seine persönliche Freiheit.

2008 konnte man sich noch der Hoffnung hingeben, dass die USA einen Präsidenten bekommen haben, dessen Administration zwischen Leaks im Interesse der Öffentlichkeit und Verrat unterscheidet. Das jetzt verhängte Strafmaß zeugt von etwas anderem. Es kann im Berufungsverfahren noch reduziert werden. Es bleibt nichts, als zu hoffen, dass dies geschieht.

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Übersetzung Holger Hutt
Geschrieben von

Editorial | The Guardian

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