Spielt mit mir!

Porträt Beck betritt mit seinen musikalischen Kreationen immer wieder Neuland. So gibt es sein neues Album nicht zu hören, sondern es erscheint nur als Notenbuch

In dem schweren, dunkelblauen Einband des Song Reader findet sich auch die Komposition Nummer 18: In schlichter, cremefarbener Schrift steht darüber „Title of This Song“, darunter in geschwungenen Buchstaben: „Written by Beck Hansen.“

Beck hat musikalisch immer wieder neue Wege beschritten – in seinen frühen Tagen mit der Slacker-Hymne „Loser“ und später, als er auf der Bühne Laubbläser zum Einsatz brachte, mit der trostlosen Benommenheit von Sea Change (2002) und den lasziven Bläsern auf Midnite Vultures (1999). Künstler wie David Bowie, Björk oder Allen Ginsberg überhäuften ihn mit Lob. Er hat den „Record Club“ gegründet, mit dem er mit verschiedenen Künstlern an einem Tag ein ganzes Album anderer Musiker coverte. Er hat mit Jack White und Charlotte Gainsbourg zusammengearbeitet und war als Zeichentrickfigur in einer Futurama-Folge zu sehen.

Mit seinen 20 neuen Songs betritt Beck nun einmal mehr Neuland. Er veröffentlicht sie nicht als Tonaufnahme, sondern still niedergeschrieben als exquisit illustriertes Notenbuch. Der Song Reader ist dabei nicht nur eine Augenweide, sondern setzt sich auch mit der Entwicklung der populären Musik auseinander. Er begibt sich auf die Spuren von Liedern, die von Mensch zu Mensch weitergetragen werden. Lieder, die nur leben, wenn sie angestimmt werden: „Diese Songs sollen zum Leben erweckt werden“, schreibt Beck im Vorwort. „Oder uns zumindest in Erinnerung rufen, dass vor noch nicht allzu langer Zeit ein Lied bloß ein Blatt Papier war, bis jemand es spielte.“

"Partituren sind Kunstwerke an sich"

Wir telefonieren, Beck lebt in Los Angeles. Seine Stimme ist kräftiger, als ich es erwartet hatte. Er spricht mit einem leichten Westküstenakzent: „Als Kind habe ich Partituren eigentlich nicht bewusst wahrgenommen“, sagt er. „Peripher waren sie aber immer da. Ich erinnere mich noch an die langen Sommernachmittage bei meiner Tante, an denen ich eine Beschäftigung suchte und Partiturenstapel auf dem Klavierhocker fand. Ich konnte die Lieder aber nicht nachspielen. Die Hefte stellten für mich eher Kunstwerke an sich dar.“

Irgendetwas von diesem Zauber hat sich für ihn erhalten. Und sich mit seinen Erinnerungen an die Organisten vermengt, die früher in den Kinos von Los Angeles spielten, in denen Blues-, Ragtime- und Mountainmusik zu hören war. Und an die Notenblätter, die er als Teenager in Ramschläden aufstöberte. Er begann, sich mit der Zeit auseinanderzusetzen, als man Musik noch nicht auf CD brannte oder als Internetdownload kaufte. Damals, bemerkt er im Vorwort, verkauften sich etwa von einem erfolgreichen Song wie Bing Crosbys „Sweet Leilani“ 54 Millionen Partituren. Und er fragte sich: Wäre es nicht toll, so etwas noch einmal zu versuchen?

Wie Musik vom Format beeinflusst wird

Bereits in den Neunzigern fing er an, über ein Notenheft-Projekt nachzudenken. „Damals hatte ich bloß die Idee, ein paar Lieder zu schreiben und ein Buch daraus zu machen“, erzählt er. Seither sei ihm bewusst geworden, wie sehr es sich auf die Musik auswirkt, in welcher Form sie gespeichert und abgespielt wird. „Als ich begann, über das Projekt nachzudenken, gab es MP3s und Filesharing noch nicht.“ Er fährt fort: „Ich sammle Vinylplatten, einige berühmte Lieder habe ich auf den Originaltonträgern gehört. Das ist etwas ganz anderes als auf MP3 – in den letzten Jahren habe ich mich damit beschäftigt, wie Musik von ihrem Format beeinflusst wird. Stellen sie sich vor, sie würden einen Artikel schreiben und jemand würde die Hälfte der Wörter rausnehmen und die Aufmachung vollkommen verändern. So ungefähr ist das. Ich finde, das ist ein Problem.“

Letzter Anstoß für den Song Reader war 2004 ein Gespräch mit dem Schriftsteller Dave Eggers. Zunächst entstand daraus die einfache Idee, ein Beck-Album als Notenbuch herauszubringen, später kamen Illustrationen und Überlegungen zu den Wurzeln populäre Musik hinzu.

Der Humor der Zwanziger

„Ich habe viel darüber nachgedacht, welche Lieder so gespielt werden“, sagt Beck. „Meist sind sie von einer ganz bestimmten Art, die irgendwo zwischen amerikanischen Standards, Jazz- oder Folk-basierten Stücken und klassischem Pop angesiedelt ist.“ Als Beispiele nennt er Lieder wie „The Unlucky Velocipedist“, ein Marsch aus dem Jahr 1869, oder „I’m a Cake-Eating Man“ von 1922. Die seien „oft sehr humorvoll und origineller als alles, was wir heute hören. Oder sie sind fast schon lächerlich sentimental“.

Mit den Jahrzehnten seien die wirklich populären Stücke immer weniger humorvoll, immer unsentimentaler geworden, sagt Beck. „In gewisser Weise ist zwar etwas davon erhalten geblieben, grundsätzlich aber hat sich die Haltung zur Popmusik nach den Sechzigern geändert. Es wurden andere Erwartungen an Musik geknüpft. In den Zwanzigern wollte man vor allem, dass sie einen auf andere Gedanken bringt. Nach der Folk- und Singer-Songwriter-Ära wurde Musik persönlicher, tiefsinniger, hatte mehr Relevanz.“

Lustige und berührende Songs

Sein eigenes Songwriting habe eine ganz ähnliche Entwicklung durchlaufen: „Anfangs war es ein wunderschönes, unschuldiges Chaos – ich habe einfach Dinge an die Wand geschmissen. Meine Songs waren persönlicher und emotionaler. Aber wenn ich sie bei Open-Mic- oder anderen Veranstaltungen in der New Yorker Lower East Side aufführte, stieß ich auf viel Ablehnung. Die Leute hörten irgendwann einfach nicht mehr zu. Also schrieb ich Anfang der Neunziger humorvolle Songs. Deren Absurdität, vielleicht auch eine gewisse Pointiertheit, kam an.“ Mit der Zeit habe er dann gelernt, „mit weniger mehr zu sagen. Die Grundvorraussetzungen sind zwar geblieben, ich habe aber versucht, bestimmte Gewohnheiten abzulegen und mir andere anzueignen“.

Die Lieder für den Song Reader zu schreiben sei dann aber noch eine ganz neue Herausforderung gewesen. „Damit habe ich mich ziemlich abgemüht“, sagt er. „Manchmal waren die Texte mit zu vielen Klischees beladen, manchmal wirkten sie von der Stimmung her abgenutzt. Andererseits kam den Songs die Universalität abhanden, wenn sie zu schlau oder zu reflektiert waren.“ Das Ergebnis ist – von der Heldenerzählung „Saint Dude“ über die Vokalharmonien von „Now That Your Dollar Bills Have Sprouted Wings“ bis hin zum herzzerreißenden „Please Leave a Light on When You Go“ – eine ziemlich großartige Sammlung einfacher, lustiger und berührender Songs.

Wölfe und Cowboys

In jüngster Zeit hat Beck nicht viel geschrieben. Der Song Reader wird seine Arbeitsweise aber nachhaltig beeinflussen, ist er sich sicher. „Sehr diszipliniert“, sei der Schreibprozess gewesen: „Als würde man die Lieder, die man schreibt, durch ein Röntgengerät oder eine Lupe betrachten – die Schwächen werden dann ganz deutlich.“ In der Regel gehe er beim Songschreiben nicht mit so viel Präzision vor, überlasse mehr dem Zufall. „In der Hälfte der Fälle schreibe ich die Sachen in der letzten Minute nochmal um“, sagt er. „Aus einem von zwanzig Songs wird dann etwas – wenn ich Glück habe, aus einem von zehn. In Zukunft werde ich bestimmt sorgfältiger sein.“ Aber genau genommen habe er bei Sea Change auch schon so gearbeitet und „die Zeilen rausgenommen, die nicht genau passten“.

Wunderbar gezeichnete Wölfe und Comicfiguren, Stadtansichten, tauchende Cowboys und jede Menge fiktiver Anzeigen zieren die Seiten des Song Readers. Viele der zeichnenden Künstler kannte Beck vor dem Projekt nicht. Aber „ich traute ihnen allen zu, dass sie das Projekt verstehen würden“, sagt er. Besonders gut gefällt Beck die Bebilderung für den Song „Do We, We Do“: „Sie sieht aus wie eine dieser einfach kolorierten Illustrationen aus den Zwanzigern.“ Auch die Illustration zu „America Here’s My Boy“ mag er sehr. Sie zeigte zunächst einen modernen Soldaten – „ich fand aber, dass sie mit einem aus dem ersten Weltkrieg besser funktioniert“.

"Mich interessiert, was andere damit machen"

Nun will Beck aufmerksam verfolgen, was sich mit seinen Songs anstellen lässt: „Ich möchte hören, wie weit sie sich vom ursprünglich Geschriebenen entfernen. Natürlich kann ich sie selbst auch live spielen. Noch mehr interessiert mich aber, was andere damit machen.“ Wenn er aber mit einem Song besonders zufrieden sei, dann mit der Komposition Nummer 18. Die sei „ein Rätsel gewesen, ein Ideen-Wirrwar, das ich in ein Versmaß bringen musste“.

Nachdem wir aufgelegt haben, schaue ich mir die Partitur noch einmal an. Und bin ergriffen davon, wie in der Stimmung dieses einen Lieds das ganze Projekt zum Ausdruck kommt: „It’s only the notes that you’ve played that drowned out the thoughts from a song that was lost“, heißt es da. „And the song you sang it didn’t have a name. There was nothing but the song we were singing. There was nothing but the song we were singing.“

Laura Barton schreibt für den Guardian über Musik und Popkultur.

Der Justin Bieber der Generation X

1970 in Los Angeles geboren, wuchs Beck Hansen in einer Künstler- und Scientologen-Familie auf. Er selbst ist heute bekennender Scientologe. Sein Vater war Dirigent, seine Mutter gehörte als Schauspielerin zum Künstler-Ensemble Andy Warhols. Mit 16 Jahren verließ Beck Hansen die Highschool und verbrachte die meiste Zeit damit, alte Platten vom Flohmarkt zu hören. Wenig später trat er als Straßenmusiker auf und nahm an Poetry Slams teil. Seine erste Platte erschien bei einem Independent-Label und war ziemlich erfolglos. Auch der Song „Loser“ kam 1993 zuerst in Kleinstauflage raus, verbreitete sich aber im Radio so schnell, dass die Musikindustrie auf Beck aufmerksam wurde.

„Loser“ wurde ein Welthit, Text und Melodie entsprachen dem Geist einer Jugend, die keine Zukunft vor sich sah, aber – anders als beim Punk – daraus keine Wut zog. Und Beck, der 24-Jährige mit dem Gesicht eines 12-Jährigen, wurde der Justin Bieber der Generation X. Viele Experten prophezeiten allerdings, es würde beim One-Hit-Wonder bleiben. Stattdessen entwickelte sich Beck zu einem der wichtigsten Songwriter des beginnenden Jahrtausends. Bereits sein Album Odelay (1996) begeisterte die Musikkritiker und wurde ein kommerzieller Erfolg. Seitdem hat Beck mit jedem neuen Album seinen Ruf als experimentierfreudiger Musiker gefestigt. Immer wieder übertritt er Stil-Grenzen und wildert virtuos in allen Genres. Seine Songs werden inzwischen oft von anderen Musikern gecovert.

Interpretationen der Lieder aus dem Song Reader gibt es bereits im Internet zu hören, auf songreader.net

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofmann
Geschrieben von

Laura Barton | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden