Über den Nahen Osten wird viel berichtet, aber wie der New Yorker vergangenen Monat bemerkte, interessieren sich westliche Leser erst seit kurzem für die Literatur, die den Alltag der Menschen in der Region dokumentiert. Doch auch was den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern anbelangt, so bringt man mit diesem zwar die Namen von Schriftstellern wie Amos Oz oder David Grossmann in Verbindung, die große Mehrheit der Autoren, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, ist einer breiten Öffentlichkeit jedoch weitgehend unbekannt.
Ein neuer öffentlicher Buchklub unternahm vor kurzem die ersten kleinen, aber sehr mutigen Schritte, dies zu ändern und palästinensische und israelische Autoren, die sich mit dem Konflikt beschäftigen, bekannter zu machen. Zur abendlichen Eröffnungsveranstaltung kamen ungefähr 20 Leute. Sie trafen sich über einer Kneipe in Nordlondon, um in dieser komplexen Debatte neue Sichtweisen kennenzulernen. Die Diskussion wurde von dem Schriftsteller und Dozenten Ariel Kahn und dem palästinensischen Romancier Samir El-youssef geleitet, die den Buchklub in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Gemeindezentrum in London ins Leben gerufen haben.
Der Klub verfolgt laut Kahn die Absicht, Menschen dabei zu unterstützen, „anderen Stimmen“ im arabisch-israelischen Konflikt „ aufmerksam zuzuhören“. Während die Medienberichterstattung über Israel und Palästina die Dinge oft verkürzt darstelle, sei das Markenzeichen von Romanen die Komplexität. Sie verlangten vom Leser, sich individuelle Charaktere und Geschichten vorzustellen. Entscheidend sei weiterhin, dass uns in einer Debatte, in der die Parteien so viele Gründe hätten, die andere Seite nicht anzuhören, die Literatur einen Raum biete, in dem wir vielen Perspektiven gleichzeitig begegnen können. El-youssuf hat hierin bereits Erfahrung. Mit dem israelischen Autor Etgar Keret brachte er die Kurzgeschichtensammlung Gaza-Blues heraus, um zu beweisen, dass auch nach der zweiten Intifada im Jahr 2000 noch ein Dialog möglich war.
Bann gegen das Vergessen
Der Abend war ein Riesenerfolg. Beim Gespräch über Anton Shammas Buch Arabesken sprühte der Raum nur so vor Energie. Als der Roman 1986 erstmals veröffentlicht wurde, sorgte er für großes Aufsehen, weil es sich um den ersten auf Hebräisch geschrieben Roman eines arabischen Israeli handelte. In einer Mischung aus Roman und Autobiographie geht das Buch der Frage nach, was es bedeutet, gleichzeitig Araber und Israeli zu sein. Shammas tut dies, indem er seine Versuche auswertet, in seinem Land als israelischer Autor und nicht nur als Außenseiter Anerkennung zu finden. Hierbei webt er ein dichtes Netz aus Familiengeschichten, die in reichhaltigen Details das Leben in einer verlorengegangenen Welt beschreiben: den Palästinenserdörfern, die von den Israelis annektiert wurden. Der Roman verhängt einen „Bann gegen das Vergessen“, indem er der Abwesenheit mit dem Erzählen von Geschichten begegnet.
Die anschließende Diskussion war einmal mehr ein Beweis dafür, dass Literatur oft dann am stärksten ist, wenn sie uns verblüfft, egal ob emotional, politisch oder intellektuell. So beispielsweise eine Szene in Arabesken, in der beschrieben wird, wie die israelische Armee 1948 das arabische Dorf Fassuta einnimmt. Hier, wo man äußerste Ernsthaftigkeit erwartet, überrascht der Autor einen mit purer Komik, die sich daraus ergibt, dass die Dorfbewohner zu tanzen beginnen.
Während diese Wendung einige von uns erstaunte, wies uns Kahn darauf hin, dass man sich als Leser in Anbetracht einer schmerzvollen Situation oft zu einer bestimmten Reaktion gedrängt sieht, wodurch dieses Gefühl sogleich neutralisiert werde und man gar nichts empfinde. Im Gegensatz dazu eröffne der Humor dem Leser einen Raum, der mehrere Reaktionsmöglichkeiten offen lasse. Er verfüge über eine befreiende Kraft, die ein Mitgefühl zum Leben erwecken könne, das andernfalls vielleicht nicht angezapft würde.
Literatur kann unserem Verständnis wie nichts anderes eine menschliche Dimension hinzufügen oder, wie Adhaf Soueif, der Begründer des palästinensischen Literaturfestivals vor kurzem zu mir sagte: „Um eine Geschichte zu lesen, musst du dich in ihre Figuren hineinversetzen – dieser Akt der Einfühlung kann dich auf direktemWege in eine andere Situation versetzen.“ In dem Augenblick, in dem man diesen mutigen Sprung macht, und sich in die Situation eines anderen hineinversetzt, hört die Literatur auf, eine einsame Beschäftigung zu sein und wird zu etwas ganz anderem: zu einem radikalen Akt.
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