Liz Truss ist am Ende – und mit ihr der Neoliberalismus
Analyse Trussonomics und der Brexit haben gezeigt, wie schädlich der Versuch ist, rechtskonservative Ideologie gegen alle Warnungen und Widerstände durchzusetzen
45 Tage im Amt: Positive Leistungen kann Liz Truss nicht vorweisen
Foto: Leon Neal/Getty Images
Als wir das letzte Mal die Entlassung eines konservativen Premierministers erlebten – wann war das, vor drei Monaten? – bildete sich schnell ein Urteil. Boris Johnsons Amtszeit war zwar relativ kurz, aber immerhin hatten einige seiner Entscheidungen auch Folgen für das Land. Ein ähnliches Urteil über die 45 Tage Amtszeit von Liz Truss ist unwahrscheinlich. Sie war sicherlich zu kurz an der Regierungsspitze, um für mehr als nur als Quizfrage von langfristiger Bedeutung zu sein.
Positive Leistungen kann Truss jedenfalls nicht vorweisen. Im Gegenteil, ihre Errungenschaft bestand darin, sehr viel in sehr kurzer Zeit zu zerschlagen. Eine Zerstörungsleistung, deren Tempo in der britischen Politikgeschichte selten erreicht worden ist. Und dennoch: Es gibt ander
gibt andere Gründe, ihr Wirken in Downing Street als äußerst wichtig zu betrachten.Todeskuss TrussonomicsZum einen könnte Truss in diesen wenigen Wochen einem ideologischen Projekt den Rest gegeben haben, das Teile der Rechten in Großbritannien und in der ganzen demokratischen Welt fast ein halbes Jahrhundert lang angetrieben hat. Es war die Vision einer Gesellschaft mit niedrigen Steuern und wenig Regulierung, in der die Reichsten die Freiheit haben, ihre Talente zu entfalten und noch reicher zu werden. Nach dieser Vorstellung – ob man sie nun Hayekismus, Ultra-Thatcherismus, Reaganismus oder Wirtschaftsliberalismus nennt – kommt es allen zugute, wenn die wenigen Glücklichen an der Spitze immer reicher werden, weil ein Teil des Reichtums zu den Leuten am unteren Ende der Gesellschaft hinuntersickert.Zu verschiedenen Zeiten haben sich verschiedene Versionen dieser Idee in Großbritannien und den USA, aber auch darüber hinaus durchgesetzt. Von nun an aber werden solche Wirtschaftskonzepte als Trussonomics gebrandmarkt werden - und dieses Label kommt einem Todeskuss gleich. In ihren sechs kurzen Wochen im Amt hat Truss die hochtourige, freie Marktwirtschaft diskreditiert – vielleicht für immer.Kwartengs radikales PamphletSie versuchte es ganz unverblümt, als ihr ideologischer Seelenverwandter und damaliber Finanzminister Kwasi Kwarteng am 23. September einen Minihaushalt vorlegte, der ein Musterbeispiel für eine Trickle-Down-Strategie war. Der Plan las sich weniger wie das Steuerprogramm einer Regierung als vielmehr wie ein provokant extremes Pamphlet, das von der den Freien Markt propagierenden Denkfabrik Institute of Economic Affairs (Institute of Economic Affairs, IEA) ausgearbeitet wurde.Trussonomics hob die Obergrenze für die Boni der Banker:innen auf und senkte die Steuern der Reichsten. Die 600.000 bestverdienenden Menschen im Land erhielten so im Schnitt 10.000 britische Pfund mehr: Es profitierte buchstäblich das „eine Prozent“. Truss’ Politik machte eine geplante Erhöhung der Unternehmenssteuer rückgängig, nur für den Fall, dass sich die Chefetage nicht ausreichend geliebt fühlen sollte. Und all das geschah im Namen der Entfesselung des freien Marktes, auf dass dieser „Wachstum“ schaffen möge. Nur wollten niemand entfesselt werden. Die Finanzmärkte etwa schreckten vor dem Plan zurück, der die Aufnahme von Krediten durch die Regierung vorsah, um nicht nur die Steuersenkungen zu finanzieren, sondern auch die von Truss bereits angekündigten Ausgaben von 150 Milliarden Pfund, um die hohen Energiekosten abzufedern. Sie konnten zwar abschätzen, was Truss ausgeben wollte, aber sie konnten nicht erkennen, womit Truss das alles gegenfinanzieren wollte. Die Folge: Der Preis von Staatsanleihen stieg in Echtzeit steil an. Das Geld sprach – und es sagte zu Truss und ihrem Finanzminister: „Ihr wisst nicht, was ihr tut.“Evangelium der SteuersenkungJede von Truss’ Annahmen – Annahmen, die die ideologische Rechte lange Zeit in Verzückung versetzten – wurde auf den Kopf gestellt. Niemand wird für eine zurückgezogene Steuersenkung oder Hilfen zur Senkung der Energierechnung dankbar sein, wenn ihn als Folge durch die Decke gehende Hypothekenzahlungen für das Eigenheim zu erdrücken drohen – in die Höhe getrieben durch einen erstaunlich rücksichtslosen Akt ideologischen Dogmas.Von jetzt an muss sich jeder, der das alte Evangelium für Steuersenkungen predigt – in Großbritannien oder anderswo – zunächst von der von Truss ausgelösten Katastrophe distanzieren. Dank des ideologischen Experiments von Truss und Kwarteng, das die Briten zu Laborratten machte, sah die Welt, was passiert, wenn man tut, was die Rechte seit Jahrzehnten fordert. Es führt zum Gegenteil von Wachstum, reißt ein enormes schwarzes Loch in die öffentlichen Finanzen, das durch die steigenden Kosten für Kredite noch größer und tiefer gemacht wird – ein schwarzes Loch, das entweder durch Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen gestopft wird, beides sehr schmerzhaft.Post-Brexit als warnendes BeispielPost-Brexit-Großbritannien war bereits ein warnendes Beispiel, eine Warnung an die Staaten in Europa, nichts so Dummes zu tun, wie die EU zu verlassen. Post-Truss-Großbritannien ist eine Warnung einer neuen Art: Vorsicht vor ideologisch angetriebenen Träumen, denn sie können schneller ins Verderben führen, als man es sich vorstellen kann.Mit atemberaubendem Tempo machte Truss ein noch jüngeres politisches Projekt unglaubwürdig, das man Brexitismus nennen könnte: Die Ansicht, dass Realität, inklusive der Gesetze der ökonomischen Schwerkraft, weggewünscht werden können, solange man nur die Augen ganz fest verschließt.Die Tatsache, dass diese warnenden Stimmen so komplett und schnell bestätigt wurden, sollte dem Brexitismus einen tödlichen Schlag versetzen. Es beweist, dass das, was die Brexit-Befürworter gerne als das langweilige, Nein-sagendes Establishment darstellen, manchmal nicht ohne Grund Nein sagt. Nach Truss wird es niemand mehr wagen, eine finanzpolitische Erklärung ohne vorherige Prüfung durch die Abteilung für Haushaltsverantwortung im Finanzministerium Office for Budget Responsibility (OBR) abzugeben, um die Märkte nicht zu verschrecken. Eben diese Umgehung des OBR durch Truss-Kwarteng im vergangenen Monat hatte die Märkte verunsichert. Die Tatsache, dass Truss auf einen soliden, orthodoxen Brexit-Befürworter wie Jeremy Hunt als Nachfolger des gefeuerten Kwarteng zurückgreifen musste, um die Märkte zu beruhigen, war an sich schon so etwas wie ein Lesen des letzten Sakraments für den Brexitismus.Ein Blick auf Keir StarmerDas Ganze wird wohl auch Folgen für den Populismus an sich haben. Truss und diejenigen, die für sie gestimmt haben, sangen einst Hymnen auf den Ruhm der „Disruption“, deutsch: Störung, Unterbrechung. Bereits seit 2016 rühmten sie sich, die alte Ordnung auf den Kopf zu stellen. Aber welche Wähler:innen sehnen sich jetzt nach einem „Disruptor“, also Störer? Schon das Wort klingt wie ein Synonym für „Brandstifter“. Traditionell, beständig, stabil, konventionell: Inmitten einer Wirtschaftskrise, die die Finanzen der Familien lähmt, sind das die größten Komplimente. Man schaue sich nur an, was mit der Zustimmungsrate für den britischen Oppositionschef Keir Starmer passiert ist. Sie gingen mit Truss Amtsantritt durch die Decke.Liz Truss hatte nicht viel Zeit im Amt, aber sie brauchte nicht mehr, um einige unangenehme Wahrheiten zu offenbaren. Eine davon ist, dass die Konservative Partei erschöpft und nicht mehr regierungsfähig ist. Sie besteht aus einer Ansammlung von Fraktionen, die nicht mehr nebeneinander funktionieren können. Die Konservativen brauchen keine Macht. Sie brauchen eine Gruppentherapie.Suella Bravermans Abgang war vielsagendDer Rücktritt der britischen Innenministerin Suella Braverman am Mittwoch war vielsagend: Selbst die, die hinter Truss stehen, die ihre (neu erworbene) Anti-EU-Obsession teilen, hatten unüberbrückbare Differenzen mit ihr. Truss wollte Wachstum, selbst wenn das mehr Einwanderung bedeutet hätte. Die rechtskonservative Braverman dagegen gab zu, dass sie keine schönere Vorstellung gebe als ein Flugzeug voller Migranten, mit dem diese nach Ruanda ausgeflogen werden. In der aktuellen konservativen Partei gibt es Fraktionen innerhalb der Fraktionen. In den letzten Jahren blitzte das immer wieder auf, aber durch die sechs Wochen mit Truss an der Spitze von Partei und Regierung liegen die Differenzen nun offen zutage.Kommt Boris Johnson zurück?Es war nicht nur die Mittelmäßigkeit derjenigen, die einen Platz in ihrem Kabinett bekamen und die wie bei Boris Johnsons aufgrund ihrer Loyalität und nicht wegen ihrer Qualifikation ausgewählt worden waren. Nein, das Problem war Truss selbst. Boris Johnson – der an seinem Comeback als Premierminister arbeitet, was das hässliche Psychodrama um noch ein weiteres Kapitel verlängern würde – hatte wenigstens einige politische Talente. Aber Truss ließ so auffallend Redegewandtheit, Vorstellungskraft oder Ideen vermissen, dass es bis zum Schluss für viele nicht zu erklären war, wie britische Premierministerin hatte werden können. Selbst ihre Rücktrittsrede war ebenso leblos wie flach. Und trotzdem hatte die Konservative Partei, so daran gewöhnt, sich selbst als die erfolgreichste politische Partei der Welt zu preisen, niemand Besseren als sie zu bieten.So verkörperte Truss perfekt, was vielleicht ihre anhaltendste Leistung sein könnte. Sie wird ein Symbol für Großbritannien nach dem Brexitreferendum 2016 sein, einem Land, das sich selbst und schadete und zu einem Objekt des Spotts und des Mitleids in den Augen einer Welt wurde, die das Land früher als Insel verlässlicher, wenn auch manchmal langweiliger, Stabilität betrachtete.Sie hatte nur sechs Wochen, aber das reichte, um die Rechnungen der britischen Bevölkerung in die Höhe zu treiben und ihre Hoffnungen sinken zu lassen. Großbritannien ist heute ein kleineres Land, als es früher war. Truss – und die Partei, die sowenig Rücksicht auf die nationalen Interessen nimmt, dass sie sie ins Amt setzte – gehören zu den Gründen, warum das so ist.