Lob des Zweifels

Umfrage Das Webmagazin Edge fragte Wissenschaftler, Philosophen und Künstler: „Welches wissenschaftliche Konzept würde unsere kognitive Erkenntnisfähigkeit verbessern?“

Angesichts von Unsicherheit kein Unbehagen fühlen, sich der Grenzen dessen bewusst sein, was die Wissenschaft uns sagen kann und den Wert von Fehlern verstehen – all dies würde einigen der führenden Denker der Welt zufolge unser Leben besser machen. Die Anregungen stammen aus dem Webmagazin Edge, welches jährlich Wissenschaftler, Philosophen und Künstler bittet, eine bedeutende Frage des Augenblicks zu beantworten. Dieses Jahr lautete sie: „Welches wissenschaftliche Konzept würde unsere kognitive Erkenntnisfähigkeit verbessern?“

Erbeten wurden „stichwortartige Abstraktionen “ – also in eine kurze Beschreibung gefasste Gedanken oder wissenschaftliche Konzepte - die dann wiederum als Teil größerer Fragen dienen könnten. Am Samstag nun wurden die Antworten online veröffentlicht. Viele wiesen darauf hin, dass häufig Missverständnisse bezüglich wissenschaftlicher Prozesse und der Natur wissenschaftlicher Zweifel herrschten. Dies könne zu öffentlichen Disputen über die Bedeutung von Uneinstimmigkeiten zwischen Wissenschaftlern zu kontroversen Themen wie dem weltweiten Klimawandel oder der Sicherheit von Impfungen führen.

Carlo Rovelli, Physiker an der Universität Aix-Marseille, liegt besonders die Unbrauchbarkeit der Sicherheit am Herzen. Er sagt, die Vorstellung, etwas sei „wissenschaftlich bewiesen“ sei praktisch ein Widerspruch in sich. Die Grundlage der Wissenschaft sei, Zweifel bereitwillig zuzulassen.

„Ein guter Wissenschaftler ist sich niemals 'sicher'.“ „Es ist eben das Fehlen von Sicherheit, das eine Schlussfolgerung Seriosität verleiht: Denn der gute Wissenschaftler wird bereit sein, einen anderen Standpunkt einzunehmen, wenn bessere Beweise oder neue Argumente auftauchen. Deshalb ist Sicherheit für jemanden, der Zuverlässigkeit schätzt, nicht nur nutzlos, sondern in der Tat sogar abträglich.“

Der Physiker Lawrence Krauss stimmt dem zu: „Im öffentlichen Sprachgebrauch ist Unsicherheit etwas Schlechtes, das fehlende Sorgfakt und Vorhersehbarkeit impliziert. Die Tatsache zum Beispiel, dass Schätzungen zur globalen Erderwärmung ungenau sind, wurde oftmals genutzt, um gegen ein sofortiges Handeln zu argumentieren.“

„Tatsächlich aber ist Unsicherheit ein zentraler Bestandteil dessen, was Wissenschaft erfolgreich macht. Die Fähigkeit, Unsicherheit zu quantifizieren und in Modellen zu berücksichtigen, macht Wissenschaft quantitativ statt qualitativ. Tatsächlich ist in der Wissenschaft keine Zahl, keine Messung, nichts Beobachtbares exakt. Zahlen zu zitieren ohne auch auf ihre Unsicherheit hinzuweisen bedeutet, dass sie im Grunde genommen bedeutungslos sind.“

Die Wahrheit nur ein Modell

Neil Gershenfeld, Leiter des Zentrums für Bits und Atome am Massachusetts Institute of Technology ist es ein Anliegen, dass jedermann weiß, dass die „Wahrheit“ nur ein Modell ist. „Der am weitesten verbreitete Irrtum über Wissenschaft ist, dass Wissenschaftler die Wahrheit suchen und finden. Das tun sie aber nicht – vielmehr erstellen und prüfen sie Modelle.“

„Modelle erstellen ist etwas ganz anderes als die Wahrheit zu verkünden. Es ist ein niemals endender Prozess des Entdeckens und Weiterentwickelns, nicht ein Krieg, oder ein Rennen, die es zu gewinnen gäbe. Unsicherheit wohnt dem Prozess des Herausfindens, dessen, was man nicht weiß, inne und ist keine Schwäche, die es zu vermeiden gilt – wenn Erwartungen sich nicht erfüllen, ist das eine Gelegenheit, sie abzuändern. Entscheidungen werden getroffen, indem man auswertet, was besser funktioniert, nicht indem man allgemein anerkanntes Wissen zitiert.“

Der Autor und Web-Kommentator Clay Shirky meint, wir sollten unsere Weltsicht überdenken. Zu diesem Zwecke schlägt er das Pareto-Prinzip vor, laut welchem ein Prozent der Weltbevölkerung 35 Prozent des Reichtums kontrollieren, oder bei Twitter zwei Prozent der User sechzig Prozent der Nachrichten versenden. Auch als „80-zu-20“-Regel bekannt, sagt das Pareto-Prinzip, dass der Durchschnitt weit weg ist von der Mitte. Es lässt sich auf eine Vielzahl komplexer Systeme anwenden. „Aber obwohl es seit über hundert Jahren in der Wissenschaft bekannt ist, werden Beispiele von Pareto-Verteilungen der Welt immer wieder als Anomalien präsentiert“, ärgert sich Shirky. „Das verhindert, dass wir mit unverzerrtem Blick über die Welt nachdenken können.“

„Wir sollten aufhören zu denken, dass das durchschnittliche Familieneinkommen und das Median-Familieneinkommen etwas miteinander zu tun hätten. Oder, dass begeisterte und normale User von Kommunikationstools ähnliche Dinge machen oder dass extrovertierte Menschen auch nur geringfügig über mehr Beziehungen verfügen als normale Leute. Wir sollten nicht länger denken, dass das stärkste zukünftige Erdbeben oder die größte zukünftige Panik auf den Märkten so stark oder so groß sein werden, wie die in größten Bisherigen. Je länger ein System besteht, desto wahrscheinlicher wird ein Ereignis, dass doppelt so groß ist wie alle bisher Dagewesenen.“

Fehlerlust

Wired-Reporter Kevin Kelly lenkt die Aufmerksamkeit auf den Wert negativer Resultate: „Wir können beinahe genauso viel aus einem nicht funktionierenden Experiment lernen, wie aus einem, das funktioniert. Fehler sollten nicht vermieden, sondern kultiviert werden. Diese Lektion aus dem Bereich der Wissenschaft ist nicht nur für die Forschung in Laboren nützlich, sondern auch für Design, Sport, Technik, Kunst, Unternehmertum, selbst das tägliche Leben. Alle kreativen Unterfangen erbringen das Maximum, wenn Fehler begrüßt werden.“

Michael Shermen, Herausgeber des Magazins Skeptic, schreibt über die Notwendigkeit „von unten nach oben und nicht von oben nach unten zu denken,“ da beinahe alle Vorgänge in Natur und Gesellschaft auf diese Weise stattfänden. „Wasser ist eine von unten her selbstorganisierte, emergente Eigenschaft von Wasserstoff und Sauerstoff. Das Leben ist eine von unten nach oben und selbst organisierte emergente Eigenschaft von organischen Molekülen, die sich lediglich durch die Zufuhr von Energie in das System der frühen Umwelt auf der Erde zu Proteinketten vereinigt haben.“

Ökonomien seien selbstorganisierte emergente Prozesse von Menschen, die versuchen, ihr Leben zu bestreiten, Demokratie ein von unten nach oben organisiertes, emergentes politisches System „das zu dem Zweck geschaffen wurde, von oben nach unten organisierte Königreiche, Theokratien und Diktaturen zu ersetzen.“

Die meisten allerdings betrachteten die Dinge nicht so, sagt Shermen. „Von unten nach oben zu denken ist gegen die Intuition. Deshalb glauben so viele Leute, das Leben wäre von oben her geschaffen worden und deshalb denken auch so viele, dass Ökonomien und Länder von oben nach unten geführt werden sollten.“

Experimentierfreude

Der Psychologe und Computerwissenschaftler Robert Schank meint, wir alle sollten um die wahre Bedeutung des „Experimentierens“ wissen. Dessen Ruf sei durch schlechten Schulunterricht ruiniert worden, bei dem den Schülern beigebracht werde, dass Wissenschaftler Experimente durchführen und man dieselben Ergebnisse erhält, wenn man sie im Schullabor getreulich kopiert. „Das führt dazu, dass wir das Experimentieren für langweilig halten, für etwas, dass Wissenschaftler machen und das nichts mit unserem alltäglichen Leben zu tun hat.“

Dabei, so Schank, gehe es bei richtigen Experimenten vor allem um das Sammeln und Auswerten von Indizien. „Anders gesagt ist die wissenschaftliche Aktivität um das Experiment herum das klare Denken angesichts von Indizien, die durch ein Experiment gewonnen wurden. Doch Menschen, die ihr Handeln nicht als Experiment betrachten und die nicht sorgfältig Schlussfolgerungen aus Daten ziehen können, werden immer weit weniger aus ihren Experimenten lernen, als solche, die es tun.“

„Da sie meisten von uns das Wort „Experiment“ aus dem Zusammenhang des langweiligen Naturkundeunterrichts in der neunten Klasse kennen, haben wir gelernt, Wissenschaft und das Experiment als irrelevant für ihr eigenes Leben zu betrachten.“

Lisa Randall, Physikerin an der Universität von Harvard, schließlich führt ins Feld, dass es vielleicht nicht schaden würde, wenn das Konzept der „Wissenschaft“ an sich größere Anerkennung erführe: „Der Gedanke, dass wir gewisse Aspekte der Welt systematisch verstehen und auf Basis von Gelerntem Vorhersagen machen können – und dabei das Ausmaß und die Grenzen dessen, was wir kennen abschätzen und kategorisieren – spielt eine große Rolle dafür wie wir denken.“

„Viele Begriffe, die das Wesen der Wissenschaft zusammenfassen – „Ursache und Wirkung“ zum Beispiel oder „Prognosen“ und „Experimente“, so wie Worte, die wahrscheinliche Ergebnisse beschreiben, wie „mittel“, „Median“ oder „Standartabweichung“ und der Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ selbst - helfen uns genauer zu verstehen, was das heißt und wie die Welt und das in ihr anzutreffende Verhalten zu interpretieren sind.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Alok Jha, Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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