Lowtech Rules

Fortschritt Es gibt Innovationen, die suggerieren, sie seien praktisch. Das Problem daran ist nur: sie sind es gar nicht
Es ist nicht alls Gold, was glänzt
Es ist nicht alls Gold, was glänzt

Bild: Robyn Beck/AFP/Getty

2015 wird das Jahr der Smartwatch. Dank einer Reihe unglaublicher, bahnbrechender technologischer Innovationen wird Apple schon bald ein Produkt auf den Markt bringen, das aussieht wie eine Armbanduhr, aber in Wirklichkeit „So Much More Than That“ ist. Die Apple-Watch wird Ihnen Ihre Facebook-Updates anzeigen. Sie wird Ihnen sagen, wer sie gerade anruft, wenn Ihr Telefon klingelt. Mit ihm können Sie anderen auch Fotos zeigen. Die sind zwar nur so groß wie eine Briefmarke und es ist recht umständlich und unbequem, jemand anderem den Arm so unter die Nase zu halten, dass er sich die Bilder ansehen kann, aber immerhin.

Die Apple-Watch löst offenbar ein Problem. Man fragt sich nur, welches das sein könnte? Nun, manchmal muss man sein Telefon aus der Tasche nehmen. Wenn alle nur denkbaren Informationen dauerhaft von Ihrem Handgelenk aus abgerufen werden können, besteht dafür keine Notwendigkeit mehr. Das Display ist zwar, wie gesagt, ziemlich klein und die Navigation entsprechend verdammt klein und umständlich, aber ...

Wenn die Smartwatch mich eines gelehrt hat, dann, dass ich mit meiner „dummen“ Uhr vollkommen glücklich bin. Ich kann sie mir ans Handgelenk machen und wenn ich wissen will, was die Stunde geschlagen hat, dann werfe ich einen Blick auf sie – sollte sich nicht gerade ohnehin irgendwo eine Uhr in meinem Blickfeld befinden. Meine Uhr kann nur eine Sache, aber die ziemlich gut. Die Apple-Uhr hingegen ermöglicht einem, Tausend Dinge zu tun, die man genauso gut mit seinem Computer oder Smartphone erledigen kann, nur dass es mit ihr viel schwieriger und komplizierter ist.

Wenn die Entwicklung an diesem Punkt angekommen ist, verwundert es nicht, dass Lowtech-Produkte plötzlich gewaltig an Attraktivität gewinnen. Während Apple sich einen abbricht, Lösungen für Probleme zu finden, die es gar nicht gibt, bringt Nokia in aller Ruhe sein 215er auf den Markt – minimalistisches Handy mit Internetzugang für 29 Dollar, dessen Akku einen ganzen Monat lang hält. Es wurde speziell für Menschen in Entwicklungsländern entwickelt, die sich bislang keinen Internetzugang leisten können. Aber auch meine Mutter wäre bestimmt von dem Gerät begeistert. Und je länger ich darüber nachdenke, wie viel kostbare Lebenszeit ich zuletzt damit vergeudet habe, auf meinem Smartphone zu daddeln, klingt es auch für mich immer attraktiver.

Ich glaube nicht, dass es sich dabei bei mir um eine Altersfrage handelt und ich jene schreckliche Schwelle überschritten habe, ab der einen jede neue Technologie nur noch einschüchtert, weil man zu eingefahren und bequem geworden ist, um sie sich anzueignen. Ich bin nicht so wie mein Vater, der mich anruft, weil er bei Wordpress das Feld nicht findet, das man anklicken muss, um Fotos hochzuladen. Ich glaube nicht, dass der natürliche nächste Schritt in meinem Leben aus einem Telefon mit riesigen, leuchtenden Zahlen oder Besteck mit orthopädischen Griffen besteht.

Mir wird nur langsam klar, dass nicht jedes Gerät alles können muss und dass es wesentlich angenehmer sein kann, wenn etwas nur für eine Sache richtig gut ist. Das geht auch anderen so und könnte der Grund dafür sein, warum Schallplatten sich 2014 so gut verkauft haben wie seit 21 Jahren nicht mehr und die Leute sich wieder AeroPress-Kaffemaschinen für 20 Euro kaufen, anstatt einen La Spaziale-Automaten, der hundert Mal soviel kostet und aussieht wie ein liegengebliebener Terminator. Es ist auch der Grund dafür, weshalb ich mir überlege, mir wieder einen Festnetzanschluss zuzulegen – ich habe es einfach satt, jedes dritte Wort wiederholen zu müssen, wenn ich mich am Telefon mit jemandem unterhalte.

Zu dieser Jahreszeit sind die Medien für gewöhnlich voll mit Beiträgen über Journalisten, die sich entschlossen haben, der Technik den Rücken zuzukehren. Sie ziehen den Stecker ihres Routers und schmeißen ihre Ipads in den Mülleimer. Sie fangen an, Bücher zu lesen, entdecken die Schreibmaschine neu und erzählen jedem, der es nicht hören möchte, wie gut es ihnen damit gehe. Dann entdecken sie Hummus für sich und es ist endgültig vorbei mit ihnen.

Bei mir ist das anders. Ich finde Technik nach wie vor fantastisch und absolut notwendig. Wenn ich nicht ständig eine vollständige Weltkarte in meinem Telefon bei mir hätte, würde ich womöglich noch immer hungernd und frierend auf dem europäischen Festland umherirren, weil ich das Hotel nicht wiederfinden würde, in dem ich irgendwann im Jahr 2012 eingecheckt habe. Wenn ich auf meinem Telefon keine Rezepte finden würde, wäre ich mit ziemlicher Sicherheit bereits tot, weil ich schon zu viele Kartoffel-Chips in mich hineingestopft hätte. Sollte jemand versuchen, mich von meinem Handy zu trennen, dürfte er dies mit Sicherheit ziemlich schnell bereuen, denn ich würde – nun ja – einen fürchterlichen Aufstand machen.

Doch wenn man – wie ich vor kurzem – an den Punkt kommt, dass man sich Glühbirnen kauft, die man nur mit dem Smartphone ein- und ausschalten kann, dann ist es Zeit einzugreifen. Das hört sich zwar zunächst ebenso cool an wie smarte Uhren und all diese Dinge, es macht das Leben im Endeffekt aber komplizierter und nicht einfacher. Man braucht diese Dinge nicht. Es gibt auch noch Lebensbereiche, in denen man ohne Smartphone besser dran ist. Vielleicht sollten wir in dieser Hinsicht alle mal eine App zurückschalten.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Stuart Heritage | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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