Lukaschenko oder Chaos

Minsk Der belarussische Diktator steht vor dem Aus. Russland wird ihn nicht retten, will aber die Kontrolle behalten
Ausgabe 34/2020

Es sieht ganz danach aus, als ob in Belarus der letzte Akt im Drama um die umstrittenen Präsidentschaftswahlen längst im Gange ist. Vom Westen isoliert und von Massenprotesten immer stärker unter Druck gesetzt, wandte sich Präsident Alexander Lukaschenko in seiner Not zuletzt an Russland. Eindringlich bat er dessen Präsidenten Wladimir Putin, in Belarus einzuschreiten, um ihn und sein Regime, das seit 26 Jahren an der Macht ist, zu retten. In mehreren Telefongesprächen mit dem Kreml am vergangenen Wochenende versuchte er eine Bestätigung dafür zu erhalten, dass Russland sein Land im Kampf gegen externe Bedrohungen mit Militärhilfe unterstützen werde. In einer Rede vor seinen Anhängern warnte er, Belarus werde vom Ausland unter Druck gesetzt. „Die Staatsführer von Litauen, Lettland, Polen und unserer heimatlichen Ukraine – alle fordern von uns, Neuwahlen abzuhalten“, sagte Lukaschenko. „Wenn wir ihrem Beispiel folgen, geraten wir in einen Abwärtsstrudel ... Wir werden als Volk untergehen, als Staat, als Nation.“

In einem Statement versicherte der Kreml, Russland stehe bereit, im Rahmen eines Verteidigungsbündnisses Hilfe zu leisten. Zudem hieß es, Belarus befinde sich unter Druck von außen, ohne dass Moskau Genaueres hierzu benannte. Putin ging allerdings nicht so weit, direkte Unterstützung in Aussicht zu stellen oder sogar Alexander Lukaschenko den Rücken zu stärken. Anscheinend hat sich die russische Führung darauf verlegt, abzuwarten, inwieweit der belarussische Staatschef im Angesicht wachsender Massenproteste, der sich ausweitenden Streiks in den großen, staatlichen Fabriken und des insgesamt steigenden politischen Drucks, sein Amt niederzulegen, überhaupt in der Lage ist, die nächsten Tage zu überstehen.

Flucht nach Moskau?

„Alexander Lukaschenkos Ära ist vorbei. Und ich denke, das ist allen in Moskau klar, auch dem Kreml“, sagt Dmitri Suslow, Professor und Experte für Außenpolitik an Moskaus Hochschule für Wirtschaftswissenschaften. Selbst wenn Lukaschenko die Krise überstehe, habe sein Modell „Präsident auf Lebenszeit“ ausgedient. Einige Leute um Lukaschenko herum sollen nach Medienberichten bereits beim Kreml vorgefühlt haben, ob sie nach Russland fliehen können, sollte ihr Chef abgesetzt werden.

Die Bilder von einer Revolution in einer ehemaligen sowjetischen Teilrepublik haben Vergleiche mit der Ukraine und Russlands dortiger Intervention 2014 hervorgerufen. Andere denken an die Niederschlagung von Reformbewegungen in der Sowjet-Ära zurück. Der Ministerpräsident der Tschechischen Republik, Andrej Babis, twitterte: „Was uns 1968 passiert ist, darf in Belarus nicht passieren. Die Europäische Union muss etwas tun.“

Doch insgesamt herrscht Einigkeit darüber, dass eine direkte russische Militärintervention eher unwahrscheinlich ist; unter anderem auch deshalb, weil weite Teile des Landes hinter den Protesten gegen Lukaschenko zu stehen scheinen. Es gibt dort keine Bevölkerungsgruppe oder politisch kontroverse Frage, auf die Russland für seine Zwecke – wie bei Besetzung der Krim – setzen könnte. Eine bewaffnete Intervention birgt außerdem das Risiko, dass sich die Proteste nicht mehr nur gegen Lukaschenko, sondern auch gegen Putin richten könnten. „Russland kann die interne Problemlage in Belarus nicht so beeinflussen, dass sie friedlich gelöst wird. Das müsste Lukaschenko selbst tun“, sagte Suslow.

Die Proteste gegen die Regierung konzentrieren sich auf die Regierung Lukaschenko und ihre Exzesse, insbesondere auf das brutale Durchgreifen der Polizei gegen Demonstranten sowie gegen die Folter inhaftierter Aktivisten. Etwa 200.000 Gegner Alexander Lukaschenkos waren am vergangenen Sonntag in die Minsker Innenstadt geströmt, in einem Meer aus rot-weißen Flaggen – den Farben der unabhängigen Republik Belarus vor Lukaschenkos Amtsantritt 1994.

„Tritt ab, tritt ab!“

Proteste Monate, Wochen, Tage – bis zuletzt schienen sich die absehbaren Zeiträume bis zu einem Abdanken Alexander Lukaschenkos immer weiter zu verkürzen. Bilder, die lange Jahre undenkbar waren, gingen um die Welt, etwa aus der staatlichen Fahrzeugfabrik MZKT am Rande Minsks, wo Arbeiter skandierten: „Tritt ab, tritt ab!“ Vor Ort rief Lukaschenko: „Solange ihr mich nicht umbringt, wird es keine Neuwahlen geben“. Zugleich stellte er eine Verfassungsänderung in Aussicht, um die Machtfülle des Präsidialamtes zu begrenzen. Hunderttausende gingen am Wochenende auf die Straße, die Opposition rief zu Streiks auf und gründete einen Koordinierungsrat mit Mitliedern aus der Zivilgesellschaft, Unternehmern wie Künstlern, um eine friedliche Machtübergabe zu organisieren. Lukaschenko nannte das einen Versuch von „Hitzköpfen“, „die Macht zu ergreifen“.

Erinnerung an Armenien

„Es geht bei diesen Protesten nicht um Russland“, sagt auch Wadim Mojeiko vom Weißrussischen Institut für Strategiestudien. „Das sind Proteste gegen Lukaschenko. Es geht nicht darum, für Russland oder für die Europäische Union zu sein.“ Laut Mojeiko glauben die Menschen im Land nicht, dass Russland zugunsten eines Diktators einschreiten wird, der gerade dabei ist, seine Macht zu verlieren. „Es wirkt, als ob Lukaschenko blufft. Niemand glaubt ihm mehr“, sagt Mojeiko über dessen Telefonate mit Putin.

Stimmen, die an der russischen Bereitschaft zu einer Intervention zweifeln, verweisen auf die Revolution in Armenien 2018. Der damalige Anführer der Proteste, Nikol Paschinjan, der später Premierminister wurde, sicherte sich Moskaus Unterstützung, indem er versprach, die politischen und militärischen Verbindungen zu Russland zu intensivieren.

In Belarus dagegen herrscht eine ganz eigene Gemengelage. In dem Land gibt es keine politischen oder gesellschaftlichen Spaltungen wie in der Ukraine, die leicht politisch zu instrumentalisieren wären. Dem Kreml ist zudem klar, dass es außer Lukaschenko wenige Befürworter einer Intervention gibt. Andererseits gilt Belarus Moskau als wichtiger Verbündeter; als Land, mit dem man auch durch eine gemeinsame Kultur und Geschichte verbunden ist. Auch Wirtschaft und Militär sind eng miteinander verknüpft. Zudem grenzt Belarus direkt an Russland sowie an drei Nato-Staaten. Das macht das Ganze für Putin auch zu einer Frage der nationalen Sicherheit.

„Kein anderes Land auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion besitzt die gleiche Bedeutung für Russland wie Belarus“, sagt Nigel Gould-Davies, der am Internationalen Institut für strategische Studien in London arbeitet. „Russlands Interessen dort sind groß. Man kann sicher sein, dass Putin die Kontrolle haben oder zumindest das Ergebnis beeinflussen will. Dabei geht es nicht länger um Lukaschenko als Person, sondern um das Land.“

Sollte Lukaschenko diese Krise überstehen, wird Russland ihn wahrscheinlich unter Druck setzen, eine stärkere ökonomische Integration in die Russisch-Belarussische Union zu akzeptieren, einem Staatenbund, der schon 1994 gegründet, aber bisher nur begrenzt verwirklicht wurde. Überlebt Lukaschenko die Krise dagegen politisch nicht, befürchtet Moskau eine schwer zu kontrollierende Lage. „Mit der Präsidentschaftskandidatin der Opposition, Swetlana Tichanowskaja, scheint man nicht ernsthaft rechnen zu können“, urteilt der Experte für russische Außenpolitik, Fjodor Lukjanow. „Es gibt derzeit keine Alternativen. Daher ist mit politischem Chaos zu rechnen.“ Vor allem ein Hauptinteresse Russlands könne es doch zu einer Intervention veranlassen: „Sollte sich in Minsk die geopolitische Orientierung ändern oder es einen institutionellen Schritt hin zu westlichen Organisationen geben: Ich glaube, das wäre für Russland nicht hinnehmbar.“

Swetlana Tichanowskajas Flucht in die EU, nach Litauen, könnte Moskau nervös gemacht haben, befürchtet Außenpolitik-Experte Suslow. Er sieht einen Zusammenhang mit der russischen Ankündigung, Lukaschenko Militärhilfe zu leisten. Es sei weniger als Signal gegen die Protestbewegung gemeint, sondern eher als Warnsignal gegen jede westliche Einmischung. „Es geht um Abschreckung“, sagt Suslow.

Die Krise in Belarus hat sich in enormem Tempo verschärft. Die Dynamik der Proteste hat offenbar auch der Kreml unterschätzt: „Putin wurde von den Ereignissen überrascht, vielleicht nicht weniger als Lukaschenko selbst“, meint Gould-Davis vom Institut für strategische Studien in London. „Und jetzt wissen sie nicht, wie sie effektiv auf eine sich schnell verändernde und nicht vorhersehbare Lage reagieren sollen. Niemand weiß das. Nur eines ist sicher: Sie werden sie kontrollieren wollen.“

Andrew Roth ist Korrespondent des Guardian in Moskau

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Andrew Roth | The Guardian

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