"Macht euch ruhig in die Hosen!"

Standpunkt Kinderbücher sollten gruselig sein, findet "Guardian"-Autor Sam Leith – und bietet einen prominenten Zeugen auf: Maurice Sendak, Autor von "Wo die wilden Kerle wohnen"

Der amerikanische Schriftsteller Maurice Sendak, sowieso einer meiner großen Helden, ist in meiner Hochachtung noch weiter gestiegen. Als er neulich gefragt wurde, was er Eltern entgegnen würde, die in Sorge darüber sind, dass die Verfilmung seines Buches Wo die wilden Kerle wohnen zu gruselig geraten sein könnte, antwortete er: „Ich würde ihnen sagen: Fahrt zur Hölle.“ Und für ihre Kinder hatte er folgende Empfehlung: „Wenn ihr damit nicht klarkommt, dann geht doch nach Hause. Oder macht euch in die Hosen. Macht einfach, was ihr wollt.“

Recht hat er. Bücher und Filme für Kinder sollten gruselig sein. Sie müssen gruselig sein. Natürlich beginnen und enden Kindergeschichten oft in der behaglichen Wärme eines Zuhauses. Aber wenn die Geschichte aus den heimischen vier Wänden nicht herauskommt, dann steht zu wenig auf dem Spiel. Lassen Sie mal ihr Gehirn rattern. Welche Bücher und Filme haben sich Ihnen am tiefsten ins Gedächtnis eingeprägt, welche haben Sie am lebhaftesten in Erinnerung? Können Sie sich noch daran erinnern, wie sie über Hanni und Nanni geschmunzelt haben? Oder erinnern Sie sich eher daran, wie Sie sich vor den grauen Herren in Momo gefürchtet haben?

Eine gepflegte Daumenamputation hat noch keinem geschadet

Die Generation, die heute jung ist, wird sich in 30 Jahren daran erinnern, wie es war, als sie sich vor den Dementoren aus den Harry-Potter-Romanen fürchtete, die ihren Opfern die Seele aussaugen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es sich anfühlte, als ich mich beim Lesen von Nicholas Fisks atemberaubend gruseligem Buch Grinny zu Tode gefürchtet habe. Stellen Sie sich nur mal vor, ein böser Alien, der sich als eine ältliche Verwandte der Familie ausgibt, hätte ihre Eltern hypnotisiert und wäre ins Gästezimmer eingezogen. Erinnern Sie sich an das grauenhafte, stechende Ding im Baumstumpf aus dem Film Flash Gordon? Oder an die fleischfressenden Aliens aus Roald Dahls Charly und der große gläserne Fahrstuhl? Oder an Kankra, die saugefährliche Riesenspinne aus Der Hobbit? Und wie steht es mit dem Scherenmann mit den langen roten Beinen im Struwwelpeter? Daumenamputationen – das ist es, was man Kindern vorsetzen sollte.

Ich erinnere mich daran, dass ich traurig war, als Robin Hood starb und ich war betrübt, als der Baum in Lord of the Forest in Schwierigkeiten geriet. Aber viel deutlicher habe ich in Erinnerung, wie ich als Kind beim Lesen und Filmeschauen Angst hatte. Große, große Angst. Wenn man heute ins Kino geht, sind sie dort sehr bedacht darauf, einen zu warnen: „Enthält leichte Gewaltdarstellungen“. Buh! Leichte Gewaltdarstellungen, meine Fresse. Schon bei den Gebrüdern Grimm ging es beim Geschichtenerzählen doch immer nur um den verstörenden Reiz des tiefen, dunklen Waldes. Und die Gewalt, die uns in diesen Geschichten begegnet, ist alles andere als leicht.

Die wichtigste Zutat, die Büchern und Filmen für Kinder den richtigen Kick gibt, ist Angst. Sie dringt auf direktem Wege ins Großhirn durch. Diese Angst hat nichts mit der Angst, wie Erwachsene sie kennen, zu tun. Die erwachsene Angst bewegt sich auf eingefahrenen Schienen: 99 Prozent aller gruseligen Filme, Bücher und Theaterstücke (wobei es von letzteren nicht besonders viele gibt, mit Ausnahme von Die Frau in schwarz, die wirklich furchteinflößend ist) handeln davon, dass einer ermordet wird, einem Toten begegnet oder sogar von Toten ermordet wird.

Die Furcht, die Kinderbücher erzeugen, ist viel offener, viel weiter gefasst. Sendaks Wo die wilden Kerle wohnen ist ein gutes Beispiel. Es ist eher beunruhigend als furchteinflößend: es lebt in seiner eigenen Welt. Der Ton des Buches ist gespenstisch – die bedeutungsvollen Pausen geben den ersten Sätzen die Fremdartigkeit eines Gedichts:

„An dem Abend als Max seinen Wolfspelz trug
und nur Unfug im Kopf hatte,
schalt seine Mutter ihn: 'Wilder Kerl!'“

Und da ist Max noch nicht einmal zu den wilden Kerlen aufgebrochen und er wird sich ihrem wilden Treiben erst noch anschließen. „Wir fressen dich auf-, wir haben dich so lieb ... “

Wenn es zuhause unheimlich wird

Sendaks Geschichte ist verstörend. Das gilt auch für seine noch merkwürdigere Erzählung „In der Nachtküche“, in der ein nacktes Kleinkind in einem Flugzeug aus Kuchenteig durch eine Küche fliegt, die von zurückgebliebenen Oliver-Hardy-Doppelgängern bevölkert wird. Am besten trifft es das schöne deutsche Wort „unheimlich“, für das es im Englischen keine Entsprechung gibt. Es bedeutet, dass man sich nicht richtig Zuhause fühlt. Das ergibt Sinn, denn wenn man diese Geschichten liest, dann verlässt man die Sicherheit des eigenen Zuhauses und taucht in eine Welt ein, die ein anderer mit seiner Vorstellungskraft erschaffen hat, und liefert sich ihm damit aus. Plötzlich wird aus deinem Schlafzimmer ein Wald. Plötzlich bist du mitten in einem wilden Aufstand. Natürlich macht das Angst.

Eines der besten Kinderbücher der letzten Jahre war Coraline von Neil Gaiman. Die Titelheldin findet in diesem Buch eine Tür in eine fremde Welt, in der sie eine andere Familie hat und eine „andere Mutter“ mit Knopfaugen, die möchte, dass sie für immer bei ihr bleibt. Es ist nicht die „andere Mutter“ allein (oder die Herzkönigin bei Alice im Wunderland, die „Weiße Hexe“ aus den Narnia-Geschichten oder die böse Hexe des Westens im Zauberer von Oz), die unheimlich ist. Unheimlich ist auch der Ort, an den sie gehört – in den Spiegel, hinter den Kleiderschrank oder auf die andere Seite des Regenbogens. Die Aussicht darauf, in einer anderen Welt zu verschwinden und vielleicht niemals wiederzukommen, wirkt bedrohlich und reizvoll zugleich.

Das ist in der Tat unheimlich. Sendak weiß, was er da tut. Wenn deine Geschichte keinem Angst macht, dann machst du etwas falsch.

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Sam Leith, The Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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