Machtlos in Brüssel

Konflikt Die Europäer müssen für demokratische und humanitäre Werte einstehen. Doch die EU ist zu instabil, um in der Ukraine-Krise eine eigene Position zu finden
Ausgabe 50/2021
Wenn die Europäer nicht für humanitäre Werte einstehen – wer dann?
Wenn die Europäer nicht für humanitäre Werte einstehen – wer dann?

Foto: John Thys/AFP/Getty Images

Die entscheidenden Akteure im Ukraine-Konflikt sind die USA, die NATO und Russland, nicht die EU. Auch wenn die Rhetorik in manchen EU-Staaten den Eindruck erweckt, es wäre anders. Innerlich zerstritten ist das vereinte Europa zu angreifbar, als dass es in der Ukraine allzu sehr eingreifen könnte. Was der EU in einem Augenblick wie diesem, da man womöglich an der Schwelle zu einem Krieg steht, besonders schadet, das ist der Dissens über Rechtsstaatlichkeit, Finanzpolitik und Flüchtlingsquoten. Doch fallen ebenso gebrochene Aufnahmeversprechen ins Gewicht. Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Bosnien und Albanien kreisen in der Warteschleife für ewige Beitrittsanwärter. Längst ist in Südosteuropa wieder der ethnische Nationalismus erwacht, verkörpert etwa durch den Serbenführer Milorad Dodik in Bosnien. Russland wird nicht zusehen, wenn es auf dem Balkan zu einer Abkehr von der EU kommt, sondern sich den Einfluss zurückholen wollen, den es dort einmal hatte.

Dass die Türkei Torwächter gegen nach Kerneuropa drängende Migranten bleibt, stärkt Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der seine eigene Russland-Politik verfolgt und genau weiß: Eines der größten Dilemmata Europas bleibt die Migration. Trotz der Krise wegen der dramatischen Flüchtlingszahlen 2015 konnte sich die EU danach nicht zu einem abgestimmten, humanen Kurs entschließen. Einer der größten Quertreiber bleibt Polen, das Einwanderungsquoten ablehnt, nun aber angesichts des Chaos an der Grenze zu Belarus die Solidarität der EU einfordert. Beunruhigend ist dabei, wie ein Großteil der europäischen Öffentlichkeit illegale Pushbacks und die Misshandlung von Asylsuchenden toleriert oder akzeptiert, sei es in Lagern in Libyen oder an den Stränden Griechenlands. Darin spiegeln sich ein wachsender Einfluss fremdenfeindlicher Rechtspopulisten und die fatale Normalität einer nationalistischen Politik, die an das Europa von 1914 erinnert.

Wenn in einer Welt der Trump-Klone die Europäer nicht für demokratische und humanitäre Werte einstehen – wer dann? Auf Großbritannien können sie nicht hoffen. Das Vereinigte Königreich ist kein verlässlicher Freund mehr, sondern unter Boris Johnson ein von der Seitenlinie aus stichelnder Störfaktor, der sich den USA näher wähnt als Kontinentaleuropa. Verteidigungsminister Ben Wallace nutzt die miteinander verbundenen Krisen in Belarus und der Ukraine dazu, die Brexit-Agenda voranzutreiben und mit Waffenlieferungen an Kiew zu glänzen. Europa durchläuft ein Zeitalter der Instabilität, auch weil Ereignisse eintraten, mit denen so nie gerechnet wurde. Wer sah voraus, dass Donald Trump versuchen würde, das zu sprengen, was einst ein US-Präsident wie Franklin D. Roosevelt das „Arsenal der Demokratie“ genannt hatte? Trump könnte es erneut versuchen. Dass für die Regierungen in Budapest oder Warschau die EU kein Leuchtturm ist, hat auch damit zu tun, dass sie mit dem nächsten transatlantischen Bruch rechnen, sollten die US-Demokraten 2024 das Weiße Haus wieder verlieren.

Und die EU-Führungsmacht Frankreich? Emmanuel Macron steht vor einem erbitterten Wahlkampf gegen die aus zwei Lagern heraus angreifende extreme Rechte. Dabei schien Macrons Idee von einer strategischen Autonomie der EU einen vielversprechenden Weg in die Zukunft zu weisen. Nur fand er damit im eigenen Land so wenig Gehör wie in der europäischen Nachbarschaft.

Simon Tisdall ist Kolumnist des Guardian

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

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