Macron, démission!

Generalstreik Die Proteste legen den Pariser Verkehr lahm, Fenster zersplittern, Container brennen. Der Präsident gibt sich unbeeindruckt
Ausgabe 50/2019

Für Isabelle Jarrivet, die 20 Jahre lang in einer Stadtverwaltung nördlich von Paris gearbeitet hat, geht es um viel: „Es ist eine Frage von Leben und Tod für das französische Sozialsystem, das Macron einfach schleifen will. Wir werden in die Zeit vor 1945 zurückgeworfen und müssen befürchten, unser Sicherheitsnetz zu verlieren. Die privaten Rentenversicherungen warten nur auf ihre Chance, davon zu profitieren.“ Die 52-Jährige erklärt den Kampfgeist der Demonstranten so: „Es ist den Protesten der Gelbwesten zu verdanken, sie haben die Menschen zum Nachdenken gebracht. Man redet jetzt viel mehr über Politik als zuvor und ist gewillt, der Regierung nichts mehr durchgehen zu lassen. Man kann die trotzige Stimmung regelrecht spüren.“

Die Massenproteste einer Woche sind ein entscheidender Test für den Präsidenten, der eine grundlegende Reform des Rentensystems zu einem seiner zentralen Wahlversprechen gemacht hatte. „Mit Ruhe und Entschlossenheit“ verfolge er die Ereignisse, lässt Macron nun sein Büro erklären. Natürlich sind derartige Statements geeignet, die gereizte, teils aggressive Stimmung weiter anzuheizen. Zeitweise treibt es mehr als eine Million Menschen überall im Land auf die Straßen. Zugleich wehren sich Eisenbahner, Lehrer, Mediziner und Krankenpfleger mit einem der größten Streiks des öffentlichen Dienstes seit Jahrzehnten gegen die Rentenreform. Zu Wochenbeginn fallen noch einmal fast 90 Prozent aller TGV-Schnellzüge und Regionalbahnen aus – es sind erneut fast alle Linien der Pariser Metro betroffen. Der Verkehr staut sich allein im Großraum der Hauptstadt auf einer Länge von 630 Kilometern.

Was sich abzeichnet, ist die größte Herausforderung für Emmanuel Macron seit dem Aufbegehren der „Gilets jaunes“ im zurückliegenden Jahr. Entsprechend hoch wirkt die Militanz auf beiden Seiten. Bei den oft durch Gewerkschaften angeführten Demonstrationen in Paris setzt die Polizei sogar Tränengas gegen schwarz gekleidete Demonstranten ein. Einige davon zünden Autoanhänger an und zertrümmern Fensterscheiben, auch eine überdachte Bushaltestelle an der Rue Rivoli geht zu Bruch. Die Feuerwehr muss ausrücken und kleinere oder größere Brände in Müllcontainern löschen. Mehr als 6.000 Bereitschaftspolizisten stehen an der Demonstrationsroute vom Nordbahnhof bis in den Osten von Paris. Auf den Protestbannern steht: „Macron, démission!“

Die Regierung argumentiert, ein vereinheitlichtes Rentenregime sei nötig, um das System finanzierbar zu halten, wenn die Bevölkerung altere. Derzeit gilt für Eisenbahner ein anderes System als für Energieversorger, für Rechtsanwälte wieder ein anderes, für das Personal der Pariser Oper noch ein anderes. Die Gewerkschaften halten dagegen, das Prinzip „ein System für alle“ werde bewirken, dass Millionen Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Sektor wie in der Privatwirtschaft über den gesetzlichen Renteneintritt von 62 Jahren hinaus arbeiten oder Renteneinbußen in Kauf nehmen müssten.

Emmanuel Macron hat das ehrgeizige Versprechen abgegeben, die größte Reform des französischen Sozial- und Wohlfahrtssystems seit der Nachkriegszeit anzustoßen. Seit seiner Wahl im Mai 2017 tendiert er zum Prinzip der „flexiblen Sicherheit“ nach skandinavischem Vorbild. Danach erscheint es ratsam, den Arbeitsmarkt sehr viel weniger zu lenken, als das bislang der Fall ist. Frankreich soll sich von lebenslang verlässlichen Arbeitsverhältnissen verabschieden und einem Zustand näherkommen, bei dem man häufiger die Beschäftigung wechselt.

Sabotierte E-Roller

Sandrine Berger ist Professorin für Ingenieurwesen an einer Pariser Hochschule und vertritt die linke Gewerkschaft CGT: „Es geht nicht nur um die Ruhestandsgelder, sondern auch darum, das öffentliche System der Verkehrsmittel zu erhalten, das ähnlich wie in Nordamerika privatisiert werden soll.“ Die Regierung suggeriere, wer im öffentlichen Dienst arbeite, der sei privilegiert. „Mit zwei Doktortiteln, einer beruflichen Laufbahn von 26 Jahren und einer leitenden Stellung mit Verantwortung für 70 Mitarbeiter verdiene ich 1.860 Euro im Monat vor Steuern. Boni sind da bereits eingerechnet.“ Einen Gehaltsausfall von 60 Euro für einen Streiktag könne sie sich eigentlich nicht leisten. Das gehe vielen so.

Und der Feuerwehrmann Grégory Chaillou ist davon überzeugt: „Wir kämpfen das bis zum Ende durch. Ich hoffe, die Öffentlichkeit versteht, dass es notwendig ist, das System der öffentlichen Dienstleistungen und deren Mitarbeiter zu unterstützen. Ich bin nicht meinetwegen hier, sondern weil ich mir um meine Kinder Sorgen mache.“

Als Pendler in Paris am Wochenende dazu übergehen, Fahrräder und Elektroroller zu benutzen, bekennt sich die Gruppe Extinction Rebellion dazu, 3.600 Fahrzeuge dieser Art in Paris und anderen Städten sabotiert zu haben. An mehr als 2.000 Elektrorollern in Paris sowie hunderten in Bordeaux und Lyon sei der QR-Code geschwärzt worden, den Nutzer zur Anmietung per Smartphone nutzen. Auf der französischen Extinction-Rebellion-Homepage heißt es zur Begründung: „Im Gegensatz zu ihrem Image als grünes Fortbewegungsmittel sind die Elektroroller ökologisch gesehen eine Katastrophe.“

Angelique Chrisafis ist die Paris-Korrespondentin des Guardian

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Angelique Chrisafis | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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