„Mädchen mit Flöte“: Wann ist ein Vermeer kein Vermeer?
Kunst Im Februar eröffnet das Rijksmuseum in Amsterdam die bisher größte Vermeer-Ausstellung. Doch es ist umstritten, ob alle Gemälde, die zu sehen sein werden, vom Meister selbst stammen
Als Johannes Vermeer van Delft 1675 im Alter von 43 Jahren starb, hinterließ er weniger als 50 Gemälde. Die erhaltenen betören Kunstliebhaber seit über einem Jahrhundert: Sie zeigen intime häusliche Szenen, etwa ein Mädchen, das am offenen Fenster einen Brief liest, oder eine Magd, die in weiches, sanftes Licht getaucht Milch einschenkt. Angesichts des schmalen Werks des niederländischen Meisters ist es immer ein Ereignis, wenn erklärt wird, dass ein Gemälde von seiner Hand stammt. Es gibt jedoch kaum Präzedenzfälle für den Streit, der jetzt um den Künstler entbrannt ist. Im Zentrum steht ein Gemälde, das ein renommiertes Museum endgültig als „Vermeer“ eingestuft hat, während das Museum, dem es geh&
ehört, zu dem gegenteiligen Urteil kam und es herabstufte.Im Oktober gab die National Gallery of Art in Washington das Resultat der Untersuchung eines Werks aus ihrer Sammlung bekannt, das lange Zeit Vermeer zugeschrieben worden war. Mädchen mit Flöte stamme nicht von Vermeer, sondern von einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin, erklärte sie. Das Rijksmuseum in Amsterdam jedoch, das ebendieses Gemälde für eine große neue Vermeer-Ausstellung ausleiht, kam weniger als einen Monat später zu dem gegenteiligen Schluss. Es sei „glasklar“, so das Rijksmuseum, dass Mädchen mit Flöte ein Vermeer sei.Im Lockdown mikroskopiertDas auf eine kleine Holztafel gemalte Bild zeigt eine Frau mit einem schiffsförmigen Hut und einer pelzbesetzten Jacke, die vor einem gemusterten Wandteppich sitzt und ein Instrument hält. Obwohl es Ähnlichkeiten mit einem anderen Werk aufweist, das Vermeer zugeschrieben wird, hatten Experten schon lange Zeit Zweifel an dessen Urheberschaft.„Ich empfand es nie als so befriedigend wie andere Gemälde Vermeers“, erläutert Marjorie E. Wieseman gegenüber dem Guardian. Wieseman leitet die Abteilung für nordeuropäische Malerei an der National Gallery in Washington. „Was einen Vermeer zu einem Vermeer macht, ist die wirklich unheimliche Fähigkeit des Malers, den Betrachter zu fesseln, eine Stimmung, eine Empfindung, eine Präsenz hervorzurufen, die irgendwie jede Zeit überschreitet“, sagt sie. Die Frauen auf seinen Gemälden haben „eine bewusste Zurückhaltung ... anstatt dem Betrachter etwas anzubieten, ziehen sie ihn an“.Mädchen mit Flöte mache das schlichtweg nicht, befand das Expertenteam des Washingtoner Museums. Aber erst als die Schließung des Museums durch Covid erzwungen wurde, ergab sich für das Team die Möglichkeit, die Vermeer-Sammlung der National Gallery of Art unters Mikroskop zu legen und dabei bahnbrechende bildgebende Technologien zu verwenden, die auch eingesetzt werden, um Mineralien auf dem Mond und dem Mars zu kartografieren.Die genauere Untersuchung ließ eine ungeschickte Pinselführung erkennen. Die Farbe sei mit grobem Strich aufgetragen worden, sodass sie „beinahe tropfte“, schreibt das Team im Fachmagazin Journal of Historians of Netherlandish Art. Die für die endgültige Farbe verwendeten Pigmente waren grob gemahlen, wohingegen Vermeer feine Deckschichten bevorzugte. Außerdem steckten abgebrochene Borsten in der Farbe, was darauf schließen lässt, dass der Künstler oder die Künstlerin ungewöhnlich viel Kraft aufgewendet oder einen alten oder schlecht gefertigten Pinsel benutzt haben muss. Sogar die Komposition sei blockig und unbeholfen, schreiben die Experten. „Anstatt einen schrägen Blick über die Schulter zu wagen, blickt uns die Frau direkt an ... mit kaum einem Ansatz von Intrige oder Verführung.“Das Team folgerte daraus, dass die Arbeit von einer Person ausgeführt worden sein muss, die den eigenwilligen Stil Vermeers genau kannte und seine Technik zwar studiert hatte, aber nicht beherrschte. Die Ergebnisse stellten auch die herkömmliche Sicht auf Vermeer als einsames Genie in Frage. Sie legen nahe, dass er ein Atelier betrieb.Die Erklärung des Museums, dass ein Vermeer, der sich seit 1942 in seiner Sammlung befindet, nicht länger ein Vermeer ist, ist ein gewaltiger Schritt. Wie Rembrandt und Van Gogh gehört Vermeer zu einer Kategorie von „Künstlern mit einem Namen, die ikonische Prüfsteine der westeuropäischen Malerei sind“, so formuliert es Marjorie E. Wieseman. „Es steht eine Menge auf dem Spiel“, sagt sie. „Es ist etwas anderes als die Frage, ob Pieter de Putter ein Fischstillleben gemalt hat oder es jemand anders war. “Festzustellen, wer ein Kunstwerk gemalt hat, ist Routinearbeit für Kunsthistoriker, Kunsthändlerinnen oder Auktionshäuser, aber wenn es um die größten Künstler geht, sind die Hürden sehr hoch, erklärt Eric Jan Sluijter, emeritierter Professor für Kunstgeschichte der Universiteit van Amsterdam. „Es wird so viel in diese Gemälde investiert, buchstäblich, aber eben auch in den Ruf von Kunsthistorikern oder Museen.“Mädchen mit Flöte wird Teil der bisher größten Vermeer-Ausstellung überhaupt sein, die das Rijksmuseum in Amsterdam am 10. Februar eröffnen wird. Das Museum hofft, mindestens 28 Werke zeigen zu können, darunter Leihgaben wie Das Mädchen mit dem Perlenohrring und Junge Frau, am Virginal sitzend. Im Vorfeld der Ausstellung hat das Museum drei umstrittene Gemälde, darunter Mädchen mit Flöte, zu Werken Vermeers hochgestuft und damit die Zahl der erhaltenen Werke des Künstlers auf 37 erhöht.„Mädchen mit Flöte wird als ‚nicht Vermeer‘ ausgeliehen, aber wir werden es als echten Vermeer ausstellen“, sagte Pieter Roelofs, der Ko-Kurator der kommenden Ausstellung, gegenüber der Amsterdamer Zeitung Het Parool. „Der Zweifel löst sich irgendwo während des Flugs über den Ozean auf.“ Auf Anfrage des Guardian teilte das Rijksmuseum mit, dass niemand für ein Interview verfügbar sei.Einige sind der Ansicht, dass das Rijksmuseum nicht genug getan hat, um seine eigene Arbeit an Mädchen mit Flöte transparent zu machen. „Wir kennen ihre Argumente bislang nicht“, sagt Sluijter. Er widerspricht der „sehr eindeutigen Position“ des Museums und dessen Behauptung, das Gemälde sei mit Sicherheit Vermeer zuzuschreiben. Das Museum habe den Wissenschaftlern keine detaillierten Ergebnisse vorgelegt, außerdem „gibt es immer Ungewissheiten, und damit muss man als Kunsthistoriker leben“.Sluijter sagt, die Forschungsergebnisse der Experten aus Washington seien „schwer von der Hand zu weisen“, auch wenn er nicht glaube, dass sie in allen Details unbestreitbar richtiglägen. So hat die National Gallery of Art ein anderes Werk aus ihrer Sammlung Vermeer zugeschrieben: Mädchen mit rotem Hut. Es ist ebenfalls auf Holz gemalt und weist eine ähnliche Komposition wie Mädchen mit Flöte auf, und Sluijter ist der Ansicht, dass es ähnliche Abweichungen von Vermeers Technik aufweist.Malte es Tochter Maria?Sollte Mädchen mit Flöte tatsächlich nicht von Vermeer stammen, bleibt eine andere Frage offen: die Identität der Person in seinem Atelier, die es malte. Die National Gallery in Washington hat mehrere mögliche Kandidaten ins Spiel gebracht. Der Maler könnte ein Lehrling gewesen sein, oder ein wohlhabender Amateur, der Unterricht nahm und dem in Not geratenen Vermeer half, seine Rechnungen zu begleichen. Weniger überzeugt ist das Washingtoner Team von der These, dass es sich bei der Künstlerin um Vermeers ältestes Kind, Maria, gehandelt habe. „Wir können schlichtweg nicht wissen, wer das Werk gemalt hat und unter welchen Umständen“, lautet die Schlussfolgerung der Experten.Eric Jan Sluijter hält es durchaus für plausibel, dass Vermeers Tochter für Mädchen mit Flöte verantwortlich ist. „So abwegig ist das nicht, es ist eine Möglichkeit. Wir wissen von anderen Töchtern, die im 17. Jahrhundert im Atelier ihres Vaters gearbeitet haben“, sagt er. „Oft heirateten sie und hörten dann auf zu malen, sodass sie nicht selbst unabhängige Künstlerinnen geworden sind.“Da sich in den Archiven kaum Dokumente finden, bleibt die Identität der möglichen Künstlerin in Vermeers Atelier ein Rätsel, das noch zu lösen sein wird.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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