Bei jedem Schritt des Brexit-Prozesses ließ sich verlässlich voraussagen, was die EU tun würde. Es war von Anfang an verdammt einfach, die Motive der wichtigsten europäischen Akteure zu verstehen. Der Trick bestand darin, auf das zu hören, was sie tatsächlich sagen.
Die unvermeidliche Dynamik der Verhandlungen wurde sogar schon beschrieben, bevor das Ergebnis des Referendums bekannt wurde, und zwar von Angela Merkel, drei Wochen vor der Abstimmung. Die deutsche Kanzlerin wollte sich nicht in die innenpolitische Debatte einmischen und wusste, dass alles, was sie sagte, von der Leave-Kampagne als Beweis für die Einmischung gemeiner Ausländer genommen werden würde. (Und in der paranoiden, euroskeptischen Folklore ist niemand gemeiner als die Deutschen.)
Aber Merkel sah auch, dass wichtige Fakten vor der Abstimmung nicht ausgesprochen wurden. Sie brachte ihre „persönliche Hoffnung“ zum Ausdruck, dass Britannien in der EU bleiben werde, und fügte hinzu, dass ein Ausscheiden einem Verlust von Einfluss gleichkäme, denn die besten Deals würden in der EU gemacht, und es sei wesentlich besser für das Vereinigte Königreich, mit am Verhandlungstisch zu sitzen, als von außerhalb mit der EU verhandeln zu müssen.
Britannien muss sich entscheiden
Merkel hatte recht. Von dem Augenblick an, in dem der Austritt nach Artikel 50 des EU-Vertrages in Gang gesetzt wurde, folgte der Brexit-Prozess einem EU-Zeitplan, der in EU-Verträgen festgeschrieben ist. In jeder Phase haben die europäischen Staatschefs die goldene Regel wiederholt, im Privaten, in der Öffentlichkeit, in gedruckter Form: Die Privilegien der Mitgliedschaft sind für Nicht-Mitglieder nicht erhältlich. Britannien muss sich entscheiden, was ihm an den gegenwärtigen Vereinbarungen gefällt und dann einen Preis aushandeln, um sie beizubehalten. Die neuesten Bedingungen werden regelmäßig auf der Internetseite der Europäischen Kommission aktualisiert.
Das macht es einfach, die Machbarkeit einer jeden Idee zu überprüfen, die von den Anhängern des Brexit angeboten wird: Man muss sich nur ansehen, was der Plan bezüglich der Beibehaltung eines Vorteiles der EU-Mitgliedschaft beinhaltet (zum Beispiel der reibungsloser Warenverkehr über Grenzen hinweg), um dann zu fragen, was der Autor oder die Autorin des Plans abzugeben bereit ist – einen Beitrag zum Budget oder die Unterwerfung unter die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Wenn die Antwort „nichts“ lautet, kann der Vorschlag getrost ignoriert werden.
Wenn man diesen Test anwendet, wird deutlich, dass alles, was Boris Johnson zum Thema Brexit gesagt hat, einschließlich seiner jüngsten „Super Kanada“-Bemerkung, reiner Unsinn ist. Wenn man Johnson diesen Wortschwall abzieht, bleibt nur noch seine Weigerung, zu akzeptieren, dass der Brexit Britannien etwas kosten wird. Er hat zusammen mit David Davis die Regierung verlassen, weil er nicht ertragen konnte, diesen Preis aus nächster Nähe zu spüren. Dem Kabinett weiter anzugehören hätte für ihn bedeutet, sich die Schwäche der Regierung eines Landes eingestehen zu müssen, die versucht, mit einem kontinentalen Block zu verhandeln.
Das Spektakel der hohlen euroskeptischen Rhetorik
Nur wenige Dinge haben die Logik des europäischen Projektes so effektiv vor Augen geführt wie das Spektakel der hohlen euroskeptischen Rhetorik, die an der Mauer der Einheit des Kontinents abgeprallt ist – und auf diejenigen zurückfiel, die glaubten, Britannien würde aus dieser Art von Solidarität keine Vorteile ziehen können.
Die einzige Überraschung auf Seiten der EU war die Sturheit, mit der britische Politiker ignoriert haben, was ihre Gesprächspartner in Brüssel, Berlin und Paris ihnen sagten, und ihre Feigheit, diese Botschaft an die Wähler weiterzugeben. Das ist kein Zeichen dafür, dass Politiker außerhalb Großbritanniens aufrichtiger wären. Aufrichtigkeit ist unter den Nationen ziemlich gleichmäßig verteilt. Es handelt sich vielmehr schlicht um das Merkmal einer Union aus mehreren Ländern, dass gemeinsame Positionen, wurden sie erst einmal etabliert, nicht ohne Weiteres wieder geändert werden können. Und im Falle von Michel Barniers Mandat als EU-Chefunterhändler hatten die Mitgliedsstaaten keinerlei Anlass, diesbezüglich aus der Reihe zu tanzen.
Der Brexit ist lediglich eines der Probleme der EU, und noch nicht einmal das größte. Die finanzielle Stabilität der Eurozone, die Migration über das Mittelmeer, der Handelskrieg mit Donald Trump, populistische Demagogen, die in Polen, Ungarn und Italien die Rechtsstaatlichkeit untergraben, Cyber-Sabotage durch den Kreml – all dies sind drängende Themen auf der Brüsseler To-do-Liste. Und während alle EU-Mitglieder ein Interesse daran haben, dass der Brexit sicher über die Bühne geht und viele Regierungen sich wünschen würden, Britannien würde dabeibleiben, um von innen an der Bearbeitung der kollektiven Probleme Europas mitzuhelfen, bedeutet der Akt des Austritts automatisch, dass wir unsere eigenen nationalen Bedürfnisse herabstufen. Doch der gute Wille gegenüber einem Nachbarn bedeutet nicht, dass man jedem ranzigen Rülpser von einer Idee nachgibt, der aus den Gedärmen einer Tory-Party entweicht, die versucht, ihre historische Fehleinschätzung zu verdauen.
Viele Länder zusammen sind größer als eines allein
All dies bedeutet in keiner Weise, Brüssels Umgang mit dem Brexit zu romantisieren. Ich habe gehört, wie sich europäische Diplomaten über die Kompromisslosigkeit auf ihrer eigenen Seite in ähnlicher Weise beklagen, wie dies aus Whitehall zu vernehmen ist. Eine weit verbreitete Klage lautet, Franzosen und Deutsche hätten zu große Angst vor einer nationalistischen Ansteckung und seien zu sehr darauf fixiert, den Euroskeptizismus als Straße ins Nirgendwo darzustellen. Doch selbst in Hauptstädten, die der britischen Position in Europa traditionellerweise am nächsten liegen und in denen die Enttäuschung über den britischen Austritt folglich am größten sein dürfte, ist niemand erpicht darauf, Theresa May aus der Bredouille zu helfen. Das Kalkül ist dasselbe: Jeder Staatschef mit einem Platz am Tisch des Gipfeltreffens, bei dem die Brexit-Angelegenheiten letztendlich entschieden werden, schätzt diesen Sitz am Ende mehr als das bilaterale Verhältnis seines oder ihres Landes mit dem Vereinigten Königreich. Und May sitzt nicht mit an diesem Tisch..
Das ist, wovon Merkel im Juni 2016 gesprochen hat. Ihr einziger Vorstoß in die Debatte wurde von den Brexit-Befürwortern als eine Herabwürdigung der britischen Wirtschaftskraft und als Affront gegen die Demokratie verschrien, dabei war er weder das eine noch das andere. Es war reine Mathematik: Viele Länder zusammen sind größer als eines allein. Das war von Anfang an das Argument, das für Europa sprach und es ist der Grund dafür, warum der Brexit scheitert und von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.
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