Mal anders

Porträt Oliver Stone reicht es nicht mehr, sich nur im Kino mit den dunklen Seiten amerikanischer Geschichte zu beschäftigen. Deswegen zeigt er sie jetzt in einer Fernsehdoku
Oliver Stone: „Ich kam blutbefleckt zurück, aber verstand nichts“
Oliver Stone: „Ich kam blutbefleckt zurück, aber verstand nichts“

Foto: Juan Naharro Gimenez/ AFP/ Getty Images

Oliver Stone geht – manche werden sagen: mal wieder – unter die Geschichtslehrer. Er hat vor Kurzem seine Mitarbeit an der US-Version einer britischen Fernsehsendung zugesagt, die auf der Idee gründet, dass Prominente besser Kinder unterrichten können als Lehrer. „Die Show wurde in Großbritannien stark kritisiert, aber ich finde die Idee gut“, sagt Stone bei Kaffee und Bagels in einem Londoner Hotel. Er wird natürlich den Geschichtsunterricht übernehmen. Bloß, so kann man vermuten, etwas radikaler als bei dem britischen Vorbild.

„Wir werden die Texte der vorherrschenden US-Geschichtsschreibung mit dem vergleichen, was unserer Ansicht nach passiert ist.“ Oliver Stone will lehren, dass die Bombardierung Hiroshimas mit einer Lüge legitimiert wurde, dass der geheime Krieg der CIA gegen linke Regierungen in Zentralamerika auf einer eingebildeten Bedrohung durch Kommunisten beruhte und dass die Invasionen in Afghanistan und im Irak Torheiten waren. Am härtesten wird amerikanische Patrioten aber seine These treffen, dass die Vereinigten Staaten genauso selbstsüchtig, korrupt, unterdrückerisch, expansionistisch und rassistisch sind wie es, nun ja, das Britische Empire einst war.

In den Sechzigern wurden Stone ein Bronze Star und ein Purple Heart für „außerordentlich mutiges Verhalten in Kampfhandlungen“ im Vietnamkrieg verliehen. Falls er die Attacken der amerikanischen Neokonservativen nun durchsteht, sollte er vielleicht einen weiteren Orden kriegen.

Stones Geschichtsunterricht wird das jüngste Kapitel in der Biografie eines Mannes sein, der zum Eisenhower-Republikaner erzogen wurde, als überzeugter Patriot in Vietnam kämpfte und sich in Hollywood einen Namen machte, indem er eigenwillige Drehbücher schrieb, etwa Scarface mit Al Pacino, aber auch Conan der Barbar mit Arnold Schwarzenegger. Für das Skript zu 12 Uhr nachts erhielt er 1978 seinen ersten Oscar. Seinen zweiten bekam er als Regisseur des Kriegsfilms Platoon, seinen dritten als Regisseur des Veteranendramas Geboren am 4. Juli. Er wurde Chávez-Bewunderer, Buddhist und erarbeitete sich den Ruf, einer der wenigen engagierten Linken im Mainstream-Kino zu sein.

Disney-Version der Geschichte

Für sein Engagement als Fernsehhistoriker nennt er jetzt als Grund eine aktuelle Studie, wonach nur zwölf Prozent der amerikanischen Schüler die Geschichte ihres Landes kennen. Woran liegt das? „Meiner Theorie nach ist Geschichte deswegen so langweilig, weil die Horrorszenen weggelassen werden. Übrig bleibt die gesäuberte Disney-Version, eine triumphalistische Erzählung. Irgendwie gewinnen die USA immer. Und wir haben auch immer recht.“

In den vergangenen fünf Jahren hat der 66-jährige Regisseur mit dem Historiker Peter Kuznick an einer ungesäuberten Version der US-Geschichte gearbeitet. So entstanden eine zehnstündige TV-Serie und ein 780 Seiten starkes Buch: The Untold History of the United States. Stone und Kuznick wollen die Idee widerlegen, dass die USA erfüllen, was 1630 von John Winthrop, einem puritanischen Anwalt und Mitgründer New Englands, als Gründungsmythos formuliert wurde – nämlich, dass es Amerikas Bestimmung sei, eine gottgewollte „Stadt auf dem Hügel“ zu werden, ein Ort, zu dem andere aufschauen sollen.

„Als Kind bin ich mit dieser Ideologie groß geworden“, sagt Stone. „Bis 40 war ich wie ein Schlafwandler.“ Als er bemerkte, dass seine Kinder nach wie vor jene gesäuberte Version gelehrt wurde, von der er sich längst verabschiedet hatte, entschied er sich, eine eigene Geschichtsdokumentation zu machen. Sie setzt 1945 ein. „Die üblichen Erklärungen für den Einsatz der Atombombe in Japan sind unaufrichtig. Aber wir haben sie geschluckt. Heute geht meine 17-jährige Tochter auf eine Schule – eine sehr gute Schule –, an der man sie das immer noch lehrt. In den Büchern dort heißt es: ‚Japan hätte nicht kapituliert. Die Bombe beendete den Krieg, um amerikanische Leben zu schützen.‘“

Aber hat Präsident Harry S. Truman nicht argumentiert, dass die Bombardierung Hiroshimas das Leben Hunderttausender GIs schonte, die sonst bei einer Invasion gestorben wären? „Das ist Schwachsinn“, blafft Stone. „Aus einem praktischen Grund: Wir hätten eine Invasion bis November nie auf die Beine stellen können.“ Seine These: Der Atombombeneinsatz gegen Zivilisten sollte nicht die japanische Kapitulation sichern, sondern Stalin in Angst und Schrecken versetzen. Stone und Kuznick glauben, dass ohne die Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki im August 1945 etwas geschehen wäre, was aus Sicht der Amerikaner inakzeptabel gewesen wäre: eine Invasion der Roten Armee in Japan, die im August bereits durch die japanisch besetzte Mandschurei gefegt war.

Die Bomben töteten Stone und Kuznick zufolge aber nicht nur Zehntausende Unschuldige, sondern entfesselten auch das atomare Wettrüsten und den Kalten Krieg. Nach Stones Darstellung sind die USA seit diesen schicksalhaften Tagen im August 1945 im Griff von Militär und hegemonialen Selbsttäuschungen gefangen. Sie inszenierten sich oft als jene, die demokratische Ideale exportierten, weiteten aber nur ihre Einflussgebiete weltweit aus und setzten dazu alle nötigen Mittel ein: Todesschwadrone, Drohnenangriffe, Invasionen.

„So unbarmherzig die Russen in Deutschland sein konnten, wir konnten unbarmherziger sein. Wir hatten keine Probleme damit, die Atombombe über Zivilisten abzuwerfen – ein verheerendes Kriegsverbrechen. Hätten die Deutschen diese Bombe abgeworfen, wäre diese Waffe für alle Zeiten stigmatisiert worden.“ Aber, argumentieren Stone und Kuznick, da die USA zuerst Atombomben einsetzten, kam es nicht zu einem internationalen Bann.

Stone porträtiert Henry Wallace als den Mann, der den USA ihre Nachkriegsdebakel hätte ersparen können – den Kalten Krieg, Vietnam, den Krieg gegen den Terror –, wenn es ihm gelungen wäre, 1944 von den Demokraten als Kandidat für die Vizepräsidentschaft nominiert zu werden. Dann wäre Wallace im April 1945 auf den verstorbenen Franklin D. Roosevelt gefolgt, nicht Truman. „Unter einem Präsidenten Wallace oder Roosevelt wäre die Bombe meiner Meinung nach nicht abgeworfen worden“, sagt Stone. Kurz: Wallace war der gute Vater, der Amerika entrissen wurde, als es ihn am meisten brauchte.

Wenn man Stone so zuhört, kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass er diese Geschichte schon einmal erzählt hat. In seinem Film JFK von 1991 stellte er Präsident Kennedy als einen friedliebenden Liberalen dar, der Amerika durch eine mörderische konservative Verschwörung genommen wurde. Kuznick und Stone schreiben: „Wir wissen, dass Kennedy viele Feinde hatte, die den gesellschaftlichen Wandel ebenso leidenschaftlich missbilligten wie jene, die 1944 Henry Wallace blockiert hatten, als er versuchte, die USA und die Welt auf einen ähnlichen Weg zu Frieden und Wohlstand zu führen.“

Wollte man Stone selbst genauso psychologisieren, wie er und Kuznick es mit Harry S. Truman und seinen Entscheidungen machen, käme man nicht um seine enge Beziehung zu seinem Vater und die Auswirkungen der abrupten Scheidung seiner Eltern herum. Stones Vater, ein Börsenmakler und säkularer Jude, war mit einer Französin verheiratet. Sie ließen sich 1962 scheiden, in jenem Jahr, in dem Kennedy der sowjetischen Bedrohung während der Kuba-Krise entgegentrat. Im folgenden Jahr wurde Kennedy erschossen und damit zum verlorenen Vater einer trauernden Nation.

Für Stone ist Kennedy bis heute der Mann, der den USA das Vietnam-Debakel hätte ersparen und den Kalten Krieg beenden können. „Es ist unvorstellbar, dass er Ja zu Bodentruppen in Vietnam gesagt hätte. Er hatte Nein gesagt, als es um Laos ging. Er hatte Nein zur Luftunterstützung in der Schweinebucht gesagt. Und Nein während der Kuba-Krise – das war bisher das Mutigste, was die Welt in einer Situation, in der so viel auf dem Spiel steht, jemals erlebt hat.“

Man könnte die meisten Stone-Filme in diesen ödipalen Interpretationsrahmen einfügen, etwa Platoon, der Stones Vietnamkriegserfahrungen verarbeitet. Dort trifft der von Charlie Sheen gespielte Rekrut auf zwei kriegserfahrene Vaterfiguren, den guten Sergeant (Willem Dafoe) und den bösen Sergeant (Tom Berenger). In Wall Street steht dem naiven Trader (Charlie Sheen) der käufliche Gordon Gekko (Michael Douglas) als Förderer zur Seite. Stones Biopic Nixon mit Anthony Hopkins ließe sich als dunkle Kehrseite von JFK interpretieren: Der böse Vater wird zu Fall gebracht. Und auch bei The Untold History lohnt sich eine ödipale Lesart. Die Serie ist Stones jüngste Rebellion gegen die konservative Politik, die sein Vater ihm einimpfte.

„Ich habe daran geglaubt“

Er wurde als Konservativer geboren, sagt Stone. „Mein Vater erzog mich zum Eisenhower-Republikaner. Ich hatte große Angst, dass die Kommunisten die Welt übernehmen.“ Diese Angst ließ ihn in Vietnam kämpfen. „Ich habe wirklich daran geglaubt.“ Hat Vietnam ihn dann radikalisiert? „Nein. Ich kam blutbefleckt zurück, aber ich verstand die geopolitische Realität nicht wirklich. Ich schrieb 1976 das Drehbuch zu Geboren am 4. Juli, nach der Autobiografie des Veteranen Ron Kovic. Ron war in Vietnam angeschossen worden, er war kastriert und saß im Rollstuhl. Er ist durch Vietnam radikalisiert worden, ich nicht.“

Stone erzählt, er sah erst klarer, als er beobachtete, was die USA in den achtziger Jahren in Zentralamerika machten. „Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, als ich die amerikanische Präsenz in Guatemala sah. Wir trainierten und finanzierten die dortigen Todesschwadrone, Elitetruppen, die einen Großteil der Massaker verübten. Ich habe auch gesehen, was wir in El Salvador, Honduras und Nicaragua anrichteten. Vielleicht bin ich blöd, aber ich brauchte 15 Jahre, um das zu begreifen. Dann sah ich, dass Amerika der böse Kerl war, und ich hasste es. Von da an machte ich linke Filme.“ Seine Filmkarriere seit Mitte der Achtziger bis zu The Untold History kommt einer Abrechnung mit dem gleich, was er früher über die USA glaubte.

Das Pentagon sei heute immer noch besessen von der Strategie der „vollständigen Dominanz“, warnt Stone: „Das bedeutet, wir kontrollieren Luft, Land, See, Weltraum und Cyberspace. Das ist zumindest der Plan. Wir haben bereits den Iran mit Cyberwerkzeugen attackiert. Jetzt versuchen wir wirklich, den Weltraum zu beherrschen. Sie reden über Drohnen, die aus einer Höhe von 250 Meilen feuern.“

Für Stone sind das Selbsttäuschungen, die Reagans Star-Wars-Träume wiederbeleben. Dagegen setzt er ein Gorbatschow-Zitat: „Alle haben sich daran gewöhnt, dass Amerika der Hirte ist, der allen sagt, was sie tun sollen. Aber diese Epoche ist vorbei.“ Nur hat das den USA schon jemand verraten? Stone gibt sich optimistisch: „In 15 oder 20 Jahren wird ein junger Mensch The Untold History of the United States sehen, und sie wird dann vielleicht denjenigen inspirieren, der die nächste Generation anführen wird. Es gibt immer Hoffnung.“

Stuart Jeffries ist Reporter des Guardian

An diesem Montag startet bei n-tv die zehnteilige Serie "Die Geschichte Amerikas" von Oliver Stone

Irgendwann muss Oliver Stone die Kinoleinwand zu klein vorgekommen sein – zumindest zu klein, um seine Darstellung der Historie zu fassen. Stone beschäftigt sich in seinen Filmen seit Langem mit den Wendepunkten der amerikanischen Geschichte. Seinen Durchbruch als Regisseur hatte er 1986 mit Platoon, in dem er seine eigenen Vietnam-kriegserfahrungen als Soldat 1967/68 verarbeitete. Mit Geboren am 4. Juli beschäftigte er sich 1989 mit dem Schicksal der Vietnamveteranen, und mit JFK stieß er 1991 eine Debatte um die Ermordung John F. Kennedys und eine vermutete konservative Verschwörung an. Die Kontroverse führte schließlich so weit, dass der US-Kongress ein Gesetz verabschiedete, mit dem Millionen Seiten von Regierungsdokumenten öffentlich gemacht wurden, die eigentlich noch Jahrzehnte unter Verschluss bleiben sollten.

Um aber seine Großdarstellung einer alternativen amerikanischen Geschichtsschreibung umzusetzen, erarbeitete Stone für den US-Bezahlsender Showtime zusammen mit dem Historiker Peter Kuznick fünf Jahre lang die zehnteilige Geschichtsdokumentation The Untold History of the United States. Das dazugehörige Begleitbuch umfasst knapp 780 Seiten. Behandelt werden unter anderem die Kriege Amerikas in Korea, Vietnam, gegen den Irak und Afghanistan sowie der fortgesetzte Kampf gegen den Terror

AUSGABE

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 17/13 vom 25.04.2013

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Übersetzung: Steffen Vogel
Geschrieben von

Stuart Jeffries | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden