„Man hat das Gefühl, es ist allen scheißegal“

„Run the Jewels“ Killer Mikes Rede zum Tod von George Floyd ging viral. Hier versuchen er und El-P zu erklären, warum ausgerechnet ihr 40-Something-Hiphop womöglich den Zeitgeist trifft

Run The Jewels Erfolg ist in der jüngeren Geschichte des Hip Hop eher untypisch. Zwei Typen, die auf die Vierzig zugingen und deren Musik eher an den Rändern des Genres anzusiedeln ist – Killer Mike an den Rändern des in Atlanta ansässigen Rapper- und Produzenten-Kreises Outkast, sein Partner, El-P als Gründungsmitglied von Company Flow und langjähriger Kritikerliebling des Ostküstenrap-Untergrunds –, taten sich zusammen, um ein Mixtape zu produzieren. Nachdem sie dieses kostenlos zur Verfügung gestellt hatten, sahen sie mit Erstaunen, dass es und auch seine zwei Nachfolger zu durchschlagenden Erfolgen wurden.

Und das, obwohl ihre Musik – politisch, wütend und mit einem größeren Gewicht auf den Texten als auf den Hooks – ihren Ursprung in dem Hip Hop des Goldenen Zeitalters von Public Enemy und EPMD hat und gegen die vorherrschenden Trends des Genres schwimmt. Doch auch wenn sie sich den Erfolg von Run The Jewels selbst nicht recht erklären können, lässt sich das Gefühl nur schwer vermeiden, dass sie die richtige Band für den Augenblick sind: eine mal surreale und dann wieder wütende Reaktion auf eine Welt, die auf bizarre und zugleich schreckliche Art und Weise außer Kontrolle geraten ist.

Der Schlüsselmoment in ihrer Geschichte könnte jene Nacht im Jahr 2014 gewesen sein, in der sie Stunden nach Bekanntwerden der Entscheidung, dass der Polizeibeamte Darren Wilson nicht für die Erschießung des unbewaffneten afroamerikanischen Jugendlichen Michael Brown in Ferguson, einem Vorort von St Louis, Missouri, zur Verantwortung gezogen werden würde, in St Louis auftraten. Alle anderen Gigs in der Stadt waren abgesagt worden, aber Run The Jewels traten auf. Vor dem Auftritt wandte Mike sich mit brechender Stimme an das Publikum und sprach über die Angst, die er um seine Kinder hat. Videoaufnahmen seiner Rede verbreiteten sich im Netz.

Eingebetteter Medieninhalt

Inzwischen gibt es eine neue Aufnahme von einer neuen Rede, die er unter ähnlich schrecklichen Umständen hielt. Ich spreche mit den beiden zwei Tage, nachdem George Floyd, ein unbewaffneter schwarzer Mann, starb, nachdem ein weißer Polizist, Derek Chauvin, neun Minuten lang auf seinem Nacken kniete, obwohl Floyd darüber klagte, keine Luft zu bekommen. Die Unruhen hatten sich zwar noch nicht von Minneapolis über die ganzen USA ausgebreitet, aber die Lyrics von Walking in the Snow – ein Track vom neuen Album, RTJ4, dessen Titel sich auf den Tod von Eric Garner aus dem Jahr 2014 bezieht – haben bereits eine schreckliche neue Aktualität erlangt: „And you so numb you watch the cops choke out a man like me / Till my voice goes from a shriek to whisper, ,I can’t breathe‘ / And you sit there in the house on the couch and watch it on TV / The most you give’s a Twitter rant and call it a tragedy.“ („Und du bist so abgestumpft, dass du zusiehst, wie die Bullen einen wie mich würgen / Bis meine Stimme sich von einem Schrei in ein Flüstern verwandelt, ,Ich krieg keine Luft‘ / Und du sitzt zuhause auf dem Sofa und guckst es dir im Fernsehen an / Das äußerste, zu dem du dich durchringen kannst, ist, auf Twitter ein wenig Dampf abzulassen und von einer Tragödie zu sprechen“)

„Man darf nicht sein eigenes Haus anzünden“

Nach unserem Treffen wird Mikes Kommentar unter seinem bürgerlichen Namen, Mike Render, auf der Nachrichtenseite Colorlines veröffentlicht. In ihm ermutigt er „Menschen, die aussehen wie ich, ihre Rechte ernst zu nehmen, die im zweiten Verfassungszusatz verbürgt sind … . Der einzige, auf den du vertrauen kannst, wenn es darum geht, dich und deine Familie zu beschützen, bist du … Ich rate meiner Frau, meinem Sohn und meinen Töchtern, euren Söhnen und Töchtern und allen Schwarzen dazu, sich eine Waffe zuzulegen.“

Dann, als die Aufstände sich nach Atlanta ausbreiten, tritt er zusammen mit dem Bürgermeister der Stadt auf einer Pressekonferenz auf und kämpft während einer bemerkenswerten Rede mit den Tränen. „Man darf nicht sein eigenes Haus anzünden, weil man wütend auf seine Feinde ist. Man hat vielmehr die Pflicht, das eigene Haus auszubauen, damit es in Zeiten der Organisation zu einem Zufluchtsort werden kann. Jetzt ist die Zeit, um zu planen, Strategien zu entwickeln, zu organisieren und zu mobilisieren … Wir wollen nicht, dass Supermärkte brennen, sondern wir wollen sehen, wie das System, das Rassismus hervorbringt, niedergebrannt wird.“ Die Rede erhielt ein derartiges Echo, dass es mittlerweile Forderungen gibt, Mike solle sich zur Wahl stellen: „Killer Mike ist eine Führungspersönlichkeit, für die ich eines Tages hoffentlich meine Stimme abgeben kann“, äußert sich etwa die Comedian Sarah Silverman.

El-P

Foto: Karl Walter/Getty Images

All dies kam später, spiegelt sich aber bereits in unserem Interview wider. Über die Randale sagt Mike: „Du hast das Gefühl, als wäre Polizeigewalt allen egal, wenn du schwarz bist. Deshalb setzt du deine eigene Community in Brand – nicht weil du das möchtest, sondern weil du das Gefühl hast, dass es allen scheißegal ist. Weißt du, ich hab mich gefragt, warum Rock’n’Roller ihre Hotelzimmer zerlegen. Nun, du hast noch nie den Rausch erlebt, tausende Menschen zu unterhalten, und dann allein zurück in dein Zimmer zu gehen, weit weg von deiner Frau, deinen Kindern und deiner Familie – dazu noch Drogen und Angst, dann kann es sein, dass du ein Hotelzimmer zerlegst. Nun, wo wir seit 60 Tagen zuhause hocken müssen, können die Leute das irgendwie verstehen. Das macht es nicht richtig. Das macht die Krawalle nicht richtig.“

Die Berichterstattung über die Proteste in den Medien ändere nichts an dem Gefühl, dass es die Mehrheit nicht störe, wenn Schwarze getötet werden, so Mike weiter. „Man hat wirklich das Gefühl, als sei es allen scheißegal, selbst wenn sie darüber berichten, denn die Medien … werden dir nicht sagen, dass da Weiße und Schwarze vor Ort waren, verschiedene Ethnien und Geschlechter. Sie werden Spaltung predigen und Angst, Konservatismus gegen Liberalismus – sie werden diese Feuer immer weiter schüren. Deshalb gibt es für uns nun einiges zu tun. Sich einen Scheiß zu kümmern ist die erste Phase: lass uns nun einen Schritt weiter gehen.“

„Ihr ganzes rassistisches System passt nicht mehr mit den Einstellungen der jungen Generation zusammen“

Unterdessen ist El-P, mit bürgerlichem Namen Jaime Meline, optimistisch, dass dies eine Zeit des wirklichen Wandels sein könnte und der Status möglicherweise kippt. „Ich möchte, dass die Herrschenden wissen, dass sie noch keine völlige Hoffnungslosigkeit geschaffen haben“, sagt er. „Ich will, dass die Arschlöcher wissen, dass es Menschen dem verschiedensten kulturellen Hintergrund gibt, die dies letztlich nicht akzeptieren werden. Die sollen nicht denken, sie seien aus dem Schneider. Wenn ich mir diese Krawalle ansehe, sehe ich Weiße, Schwarze, Asiaten, Frauen und Männer – und ich weiß, dass sich diese Scheiße zuspitzt. Es ist an dem Punkt angelangt, wo ihr ganzes rassistisches System nicht mehr mit den Einstellungen der jungen Generation zusammenpasst. Wir sind über euch hinausgewachsen, obwohl ihr euch nach Kräften bemüht habt, uns dort zu halten, wo wir waren. Ihr seid an der Macht, aber ihr seid nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Ihr seid der Mensch in seiner alten Form, und der neue Mensch sitzt euch schon im Nacken.“

Im Gespräch über Zoom – Mike zu Hause in Atlanta, El-P in New York – sagen die beiden, die Art und Weise, wie in den USA mit der Coronavirus-Pandemie umgegangen werde, sei zwar schockierend, für sie aber nicht überraschend. El-P bietet eine gewohnt farbenfrohe Analogie, um die Art und Weise zu erklären, wie die Pandemie politisiert und dazu benutzt wurde zu spalten. „Ich habe dieses Gespräch mit Mike schon einige Male geführt. Mike hat zu mir gesagt: ,Ich wünsche mir nur, Außerirdische würden kommen, damit uns das alle zusammenbringt‘, und ich sage dir hier und heute, Mike, das wird nicht passieren! Die Außerirdischen sind gekommen, und wisst ihr was? Wir sind trotzdem nicht zusammengekommen! Es ist unglaublich deprimierend. Ich hätte in meinem Leben nie gedacht, dass ich mal erleben würde, dass jemand ein Virus politisiert. Aber ich hätte es wissen müssen, denn ich habe gesehen, wie Aids die schwule Community verwüstet hat, und meine Freunde, meine Eltern, haben Dutzende und Aberdutzende von guten Freunden verloren. Dieselbe Art von Politikern war im Amt und haben die Menschen, die sie für die Randgruppen der Gesellschaft hielten, völlig ignoriert.“

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Im Jahr 2018 hatte sich Run The Jewels nach „acht Jahren auf der Straße“, wie Mike es ausdrückt, für ein Sabbatical entschieden. Die beiden waren „erschöpft, nicht nur als Performer, sondern auch ein wenig als Freunde“, gesteht El-P – was angesichts ihrer berühmten Bromance recht bemerkenswert ist. Wenn man sie bei Zoom interviewt, fällt auf, wie die beiden sich gegenseitig ihre Sätze beenden und sich häufig genauso oft gegenseitig anzusprechen wie mich. „Nun, welche winzigen Probleme auch immer existiert haben mögen, sie vergrößern sich“, nickt El-P, „weil man anderthalb Jahre lang zusammen in einem Bus lebt und am Ende seinen Freund erwürgen will. Man wacht auf und denkt: ,Wie kann ich dich töten und damit davonkommen? Wie kann ich dich töten und trotzdem in der Gruppe bleiben?‘"

Mike wurde zu einem Polit-Experten, Aktivisten, Fernsehstar und einem lauten Fürsprecher der Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders, der bei der für Run The Jewels charakteristischen Handbewegung fotografiert wurde – eine Hand in Pistolenimitation gespannt, die andere zur Faust geballt.

„Geld hat unser System total korrumpiert“

„Aus dem Wahlkampf mit Sanders habe ich gelernt, ist, dass es nur um Geld geht“, seufzt er. „Geld hat unser System total verdorben und korrumpiert, und mehr noch, wir sind so apathisch geworden, dass wir ihnen nicht schon auf lokaler Ebene auf die Finger klopfen, um das zu ändern. Ich hoffe, dass sich das noch zu meinen Lebzeiten ändern wird.“

Killer Mike verfolgte auch eine Fernsehkarriere. In seiner urkomischen und nachdenklich stimmenden Netflix-Show „Trigger Warning“ versuchte er, Mitglieder der Crips-and-Bloods-Gangs dazu zu bringen, ihre eigene Sodamarke zu vermarkten und eine neue Religion zu gründen, die auf der Anbetung eines Freundes mit dem Spitznamen „Sleep“ basiert.

Bernie Sanders und Killer Mike

Foto: Scott Olson/Getty Images

El-P schrieb unterdessen den Soundtrack zu Capone, dem gefeierten Tom-Hardy-Film über die Demenzerkrankung des Gangsters. Als sie in den ehrwürdigen New Yorker Electric Ladyland und Miamis Shangri-La-Studios wieder zusammenkamen „mit Bruce Springsteen, der auf dem Weg zum Pinkeln vorbeischaute, und Rick Rubin, der hereinkam, Yoga machte und ein paar Kommentare abgab“, stellten sie fest, dass sie dabei waren, ein merklich anderes Album aufzunehmen.

Ihre vorherige Platte, RTJ3, wurde vor Beginn von Trumps Präsidentschaft fertiggestellt und hatte, so Mike, „den Blues – wie Picasso, der den Tod eines Freundes betrauert ... Es gab Zeiten, da wollte ich ins Studio gehen und aufnehmen. Dann schaltete ich die Nachrichten ein und sah, wie ein weiterer schwarzer Mann auf unseren Straßen ermordet wurde, und ich sagte nur: ,El, es tut mir leid, ich kann heute nicht kommen.‘"

Die Energie des Nachfolgers ist weniger elegisch. „Mit diesem Album weißt du, wie das Leben dich zum ersten Mal auf deine Hände drückt. Du sitzt eine Minute lang da und sagst dir: ,Verdammt, was soll der Scheiß? Fürchtest du dich vor dem Leben?‘ Dann stehst du auf und rennst. Du rennst der Wut und der Gefahr und den wilden und frenetischen Zeiten entgegen, die Hip-Hop sind. Das war der Geist dieser Platte: Wir ziehen an, dringen zum harten Kern vor. Die Leute werden denken, wir werden zu einer Emo-Band, aber das sind wir nicht. Wir sind Run The Jewels ... wir schlagen euch in die Fresse.“

Und so sind die Beats deutlich härter, der Kontrast zwischen der gerechten Wut ihrer gesellschaftspolitischen Verse und denen, die sich mit albernem „Blödsinn“ beschäftigen – was ebenso zu ihnen gehört wie ihre ernstere Seite – ist stärker ausgeprägt.

„Es war wirklich so, dass wir von den Tables aufgesehen haben“, sagt El-P, „und ich so: ,Okay, hier erzähle ich von einer Katze, die auf meinen Teppich scheißt, und Mike redet davon, einen Pudel zu erschießen, und im nächsten Lied haben wir den Sänger von Rage Against the Machine Zack de la Rocha, der über Polizeibrutalität spricht. Sie hören, wer wir wirklich sind. Mike und ich sind uns in vielem einig, nicht nur, was die große Scheiße angeht. Wir finden es beide lustig, frei über offensichtlich lächerliche, übertriebene Gewalt gegenüber einem Pudel zu reden.“

Album-Stream

„Die Namen der Arschlöcher sind austauschbar“

Zur offensichtlichen Aktualität ihrer Musik sagt Mike, er sei sich nicht sicher, was die Formulierung mit der „richtigen Band für die Zeit“ anbelangt. „Wenn ich rappe, reagiere ich nicht auf die Zeit, sondern ich rappe nur über die gesellschaftlichen Verhältnisse. Ich spreche nicht speziell über irgendjemanden, weil diese Namen austauschbar sind. Trump ist austauschbar mit Nixon ist austauschbar mit Reagan ist austauschbar mit so vielen anderen miesen Arschlöchern, die dieses Amt bekleidet haben. So schlecht Trump für unsere Zeit auch ist – stell dir vor, wie es in noch schlimmeren Zeiten war, als Eugene Debs (ein amerikanischer Sozialist) gegen Woodrow Wilson kandidierte – sie sperrten ihn ein (weil er den Ersten Weltkrieg ablehnte).“

„Wenn überhaupt, dann sorgt es bei uns für ein gewisses Unbehagen, dass unserer Musik eine gewisse Bedeutung zuzukommen scheint“, seufzt El-P. „Das Beste, was der Welt passieren könnte, wäre, wenn Run The Jewels nur Unsinn reden würden, wenn wir nur zwei Idioten wären, die den Bezug zur Realität völlig verloren haben. Deshalb erlauben wir uns, auch in unseren Aufzeichnungen völlig bescheuert und surrealistisch zu sein. Das brauchen wir auch.“

Und wie um diesen Punkt unter Beweis zu stellen, gehen sie dazu über, über ihre Pläne für einen Run The Jewels-Spielfilm zu sprechen: „Eine Buddy-Criminal-Action-Komödie ... eine abgefuckte Version von The Blues Brothers.“ „Es sieht so aus, als ob es sehr gut möglich ist, dass das passiert“, lächelt El-P. „Hoffentlich sehen Sie mich und Mike in einem Grand National durch die Straßen hetzen und Nazis erschießen.“

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nur heute am Geburtstag von F+

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Alexis Petridis | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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