„Unter russischen Aktivisten kursieren Witze über die ‚tiefe Besorgnis‘ des Westens“
Russland Die Pussy-Riot-Aktivistin und Musikerin Maria Aljochina warnt schon lange vor Putins totalitären Ambitionen. Hoffnung setzt sie vor allem in den Widerstand der russischen Frauen
Als Maria Aljochina von Pussy Riot im April dieses Jahres Russland verließ, ging sie nach Island, im Grunde als politische Geflüchtete. Sie war seit Anfang 2021 wiederholt aufgrund fadenscheiniger Anschuldigungen verhaftet worden – „Verstoß gegen sanitäre und epidemiologische Vorschriften“, Aktivitäten in sozialen Medien, Teilnahme an einer Demonstration zur Unterstützung von Alexej Nawalny.
Inzwischen ist sie nicht mehr in Island, sondern an einem Ort, dessen Name nicht genannt wird. Aber sie verwahrt sich gegen Floskeln, die ihre Situation dramatisieren – Verfolgung, Flucht, Exil – und zieht die nüchternen Fakten vor: „Ich wurde verhaftet, viele Male – und nicht nur verhaftet. Gegen mich wurde ein Reiseverbot ver
verbot verhängt, zwei Jahre lang konnte ich nicht über die Grenze, ich musste einen Weg finden, um auf Tour gehen zu können. Die Chefs der politischen Polizei in Moskau versuchten immer wieder, zu mir nach Hause zu kommen, mit meiner Mutter zu sprechen, und mich dort zu erwischen.“ Der Auslöser für ihre Abreise war dann die Nachricht, dass sie vom Hausarrest in ein Gefängnis verlegt werden sollte.Sie ist also nicht geflohen; sie hat einen Weg gefunden, auf Tour zu gehen, in einem Van zu leben und Geld zu sammeln, durch Performancekunst, Merchandising und NFTs. „Ich verstehe den Aufruhr um meine sogenannte Flucht, aber ich habe nicht vor, zu emigrieren. Ich will nur der Ukraine helfen, mehr nicht.“ Mit dem Verkauf von T-Shirts hat sie 10.000 Euro eingenommen und an ein ukrainisches Kinderkrankenhaus geschickt. Aljochina und ihre Freundin Lucy Shtein, ebenfalls von Pussy Riot, haben die Fußfesseln ihres Hausarrests eingeschmolzen und daraus NFTs erstellt: „Sie sind unsere Trophäen aus dem Kampf mit der russischen Regierung. Wir glauben, dass diese Fesseln verschwinden werden.“„Ein neuer Hitler“Der Erlös aus dieser Aktion wird zwischen ukrainischen Hilfsorganisationen und russischen politischen Gefangenen aufgeteilt. „Wir können den Albtraum, den die russische Armee und Wladimir Putin geschaffen haben, nicht ausgleichen. Aber ich glaube, als Russen können wir etwas Gutes tun. Als Mensch und vor allem als Künstlerin ist es sehr wichtig, unsere Solidarität mit der Ukraine zu zeigen und dazu aufzurufen, diesen Krieg zu beenden.“Die Geschichte von Pussy Riot und die Reaktion der Welt darauf ist so lehrreich wie bedrückend. Als sie sich 2011 gründeten, waren sie ein loser Verbund von Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Aktivistinnen und Anarchistinnen. Aljochina studierte Journalismus und Kreatives Schreiben in Moskau. Die Band schrieb Protestsongs, trug neonfarbene Sturmhauben und klebte sich den Mund zu. Aljochinas Kritik ist breit gefächert – die Unterdrückung von Frauen, die brutale Homophobie des russischen Staates, die Klimakrise, Putins Kleptokratie –, aber sie läuft auf ein Ziel hinaus: Antiautoritarismus. Für die internationalen Medien waren sie einfach lustige, aufregende Rebellinnen.Als drei von ihnen, darunter Aljochina, 2012 wegen Rowdytums verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurden, schadete das Putins Ruf nicht besonders nachhaltig. Ihr Protest war todernst: Er richtete sich gegen die Unterstützung der orthodoxen Kirchenführer für Putin, die vor seiner Korruption und seinem sich schleichend entwickelnden Totalitarismus die Augen verschlossen. Doch der Inhalt und die schwerwiegenden Folgen wurden ignoriert, weil man auf internationalen Gipfeltreffen gute Miene machen wollte.Schwache Reaktion des Westens schockierend„Am 23. Dezember 2013 wurden wir freigelassen. Einen Monat danach machten wir eine Aktion: ‚Putin wird euch lehren, wie man das Vaterland liebt‘. Das war in Sotschi, bei den Olympischen Spielen, und es war das erste Mal, dass wir geschlagen wurden. Da verstand ich: Russland war bereits schlimmer als zu der Zeit, als wir in Haft waren.“Zwei Wochen später annektierte Putin die Krim – „der erste Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab“, sagt sie. „Besonders schockierend war die sehr schwache Reaktion des Westens. Es gab zwar leichte Sanktionen, aber die Staaten machten weiterhin Geschäfte mit russischen Unternehmen. Deutschland verkaufte unter Umgehung des Waffenembargos Waffen an Putins Regime. Ein Großteil des Kapitals der Oligarchen floss nach Großbritannien. Ich sprach vor dem Europäischen Parlament, vor dem britischen Parlament und vor dem US-Senat. Alle waren ‚zutiefst besorgt‘, aber nichts geschah. Unter russischen Aktivisten kursieren viele Witze über die tiefe Besorgnis des Westens: Es bedeutet, dass sie nichts unternehmen werden.“Hätte es die heutigen Sanktionen nach der Annexion der Krim und der anschließenden Invasion im Donbass gegeben, wären wir heute nicht in diesem Schlamassel, ist sich Aljochina sicher. „Wir haben 2014 und 2015 ein vollständiges Embargo gefordert. Wir haben Straßenaktionen durchgeführt. Ich wurde 100-mal verhaftet. Ich höre viele Diskussionen im Westen, dass es sehr hart und schmerzhaft ist, kein Öl und Gas mehr zu kaufen – nun, ihr hattet acht Jahre Zeit. Innerhalb von acht Jahren wäre es machbar gewesen. Innerhalb eines Monats ist es schwer. Vielleicht hatten die Politiker Angst, dass ihre Wähler dagegen protestieren, dass ihre Häuser kalt sind. Jetzt haben die Ukrainer gar keine Häuser mehr.“Sie legt schonungslos dar, was diese Kombination aus Trägheit und Eigennutz hervorgebracht hat. „Geld aus dem Westen ist die Grundlage für unsere Inhaftierung, für unsere Vergiftung, für politische Morde und jetzt für den Krieg in der Ukraine. Ich möchte wirklich, dass die Menschen das verstehen und dem ein Ende setzen.“Maria Aljochina: „Die Propaganda funktioniert wie im Dritten Reich“Die Abwesenheit von Frauen im politischen Leben Russlands wird meist kommentarlos als historische oder kulturelle Besonderheit abgetan. „Diese ganze russische kriminelle Kultur, die aus der Sowjetunion stammt, ist sehr frauenfeindlich“, sagt Aljochina. „Es gibt keinen Platz für Frauen am Entscheidungstisch. Keine First Ladys, keine Rolle für Frauen. Wenn westliche Journalisten versuchen, über den russischen Feminismus zu schreiben – wen erwähnen sie? Alexandra Kollontai. Sie lebte in den 1920ern.“ Feministischer Widerstand gegen den Krieg werde in Russland unterdrückt und im Ausland nicht wahrgenommen. „Die Propaganda funktioniert wie im Dritten Reich“, sagt Aljochina. Besonders erschreckend ist, dass die Verfolgung von LGBTQ+-Personen rasant voranschreitet, von einschüchternden Verhaftungen – man kann schon für das Tragen einer Regenbogenfahne strafrechtlich verfolgt werden – bis hin zur Einrichtung von „Konzentrationslagern“ (so Nowaja Gaseta 2017) für schwule Männer in Tschetschenien. „Russland hat all die Jahre protestiert – es gab Straßen, Plätze voller Menschen, die geschlagen, verhaftet und für fünf, sechs, sieben Jahre eingesperrt wurden –, und niemand hat sich darum gekümmert, weil es sich innerhalb seiner Grenzen abspielte“, sagt Aljochina. „So war es schon immer.“Kommentatoren klammern sich an die Hoffnung, dass Putin nur ein wild gewordener Einzelner ist, dass es um ihn herum Menschen gibt, die irgendwann das Rückgrat finden werden, ihn zu stürzen. Kürzlich äußerte sich ein Vertreter von Rosneft, der größten staatlichen Ölgesellschaft: „Er sprach sich für Adolf Hitler aus. Er sagte, an den Entscheidungen im Westen trügen die Angelsachsen die größte Schuld. Die erste Atombombe müsse über Großbritannien abgeworfen werden. Das ist es, was in unseren sogenannten Nachrichten passiert. Sie reden fast täglich über Atombomben.“Die Nachrichten, die aus Russland durchsickern, zeigen, dass die staatliche Propagandamaschine bei der älteren Generation äußerst effektiv wirkt und Freunde und Familien entzweit. Aljochina erzählt von einem Mitglied ihres Kollektivs, deren Vater sie als Nazi bezeichnete, weil sie die Ukraine unterstützt. „Es gibt Eltern, die es der Polizei melden, wenn ihre Kinder, die um die 20 sind, auf Demonstrationen gehen. Es ist sehr sowjetisch, den Leute beizubringen, die Polizei oder den KGB zu rufen, wenn es eine politische Meinungsverschiedenheit gibt. Das kommt jetzt wieder auf.“Kriegsverbrecher vor GerichtAljoschinas Mutter, eine Programmiererin, die sie allein großzog, ist da ganz anders. „Meine Mutter ist toll. Sie versteht, dass wir in Russland einen neuen Hitler haben.“ Die zentrale Propagandalinie besteht darin, „die Botschaft zu vermitteln, alles sei kompliziert“, und zwar so lange, bis der Krieg aus den westlichen Medien verschwunden ist, „und dann werden sie ihre Angriffe verstärken“. Aber es gibt noch einen weiteren Strang in der Botschaft der staatlichen Medien – dass Putin den Nazismus in der Ukraine bekämpft. Das ist „sehr schwer für alte Menschen, deren Eltern gegen die Nazis gekämpft haben. Es gibt fast keine Familie in Russland, die ihre Angehörigen nicht im Zweiten Weltkrieg verloren hat. Aber meine Mutter ist sehr klar und sehr traurig über das, was hier passiert.“Sie ist überzeugt: Putin muss als Kriegsverbrecher vor Gericht. „Ohne die Übereinkunft, dass Putin ein Terrorist und Verbrecher ist, wird es nur noch mehr Blut geben. Mehr Leichen. Mehr vergewaltigte Frauen.“Sie hat nie den Glauben an den Widerstand in Russland verloren, vor allem nicht an den der russischen Frauen. Der Totalitarismus lebe von „dem Konzept, dass Frauen zu Hause sitzen, Kinder ernähren und in die Kirche gehen. Es ist sehr gefährlich, wenn die Frauen aufbegehren. Das wäre eine andere Revolution.“Ich frage nach der Trauer, die man empfinden muss, wenn man sieht, wie sich die Brutalität entfaltet, vor der man ein Jahrzehnt lang um den Preis der eigenen Freiheit gewarnt hat. „Ich werde nicht über meine Trauer sprechen, wenn auch heute zwei Bombenangriffe auf die Ukraine verübt werden“, sagt sie. „Gefühle sind nicht wichtig. Wir sollten weitermachen, wir alle, denn es herrscht ein Krieg.“