Strategische Analysen von Armeeangehörigen tragen für gewöhnlich keine allzu eingängigen Überschriften. Wenn das so wäre, würde der von General Stanley McChrystal am 31. August aufgestellte Forderungskatalog mit den Worten „Lasst uns aufhören, die Taliban zu bombardieren, und stattdessen die Zivilisten beschützen“ überschrieben sein. Dies ist jedenfalls sein permanentes Mantra, seit er im Juni das Oberkommando über die US-Truppen übernommen hat, das sein Chef beim zentralen NATO-Oberkommando, General David Petraeus, vehement unterstützt.
Acht Jahre nach Beginn des Krieges in Afghanistan sind sie alle zu der Überzeugung gelangt – die Konzentration auf die Tötung der Taliban ist kontraproduktiv. Die Aufständischen können stets aufs Neue Kämpfer rekrutieren – dies nicht zuletzt dank der mit der US-Strategie vollführten Luftschläge und der großen Zahl an zivilen Opfern, die damit unweigerlich verbunden sind.
Blick in den Rückspiegel
Zugleich wurde immer klarer, dass der Krieg nur durch eine politische Lösung beendet werden kann, die der paschtunischen Bevölkerung im Süden und Osten das Gefühl gibt, wirklich in der Regierung vertreten zu sein. Dies ist nur möglich, indem man sich mit vielen Stammesangehörigen zusammensetzt, die zuvor auf Seiten der Taliban gekämpft haben, um mit ihnen zu verhandeln. Diesem Element der Aussöhnung kommt bei der strategischen Neuausrichtung entscheidende Bedeutung zu. Nichts wirklich Neues. McChrystals Einschätzung ist im Grunde ein Blick in den Rückspiegel und eine Zusammenfassung aller Fehler, die bis zum heutigen Tag gemacht wurden. In der Konzentration auf den Schutz von Zivilisten und der Aussöhnung mit der Bevölkerung besteht der neue Konsens. McChrystal hätte den Job nicht von General David McKiernan übernehmen können, würde er eine anderen Kurs fahren.
Für McKiernan, der sich bereits dem gleichen Ziel verschrieben hatte, war der Abschied nach nur elf Monaten beschämend. NATO-Insider verbreiten McKiernan sei nicht in der Lage gewesen, die „militärische Kultur“ zu ändern, um einen Strategiewechsel zu vollziehen – McChrystal werde dies zugetraut. General McKiernan führte drei Monate nach seinem Amtsantritt im Dezember 2008 zwar neue, strengere Richtlinien für den Einsatz von Luftschlägen ein, doch kam es im April, fünf Monate später, zu einem der schlimmsten Zwischenfälle bisher, bei dem die US-Luftwaffe ein vermeintliches Camp der Taliban bombardierte, ohne sicherzustellen, dass keine Zivilisten anwesend waren: Fast 100 Menschen kamen ums Leben, 86 davon Frauen und Kinder. Wenige Tage später wurde McChrystals Nominierung bekannt gegeben.
Der neue Kommandeur ist entschlossen, dafür zu sorgen, dass die Dinge ab sofort anders laufen – er handelt mit mehr Schwung, sein Stil ist ein anderer, der Ton auch. Vor den Präsidentschaftswahlen am 20. August sagte er seinen NATO-Kollegen, er werde in Helmand und Kandahar stationierte US-Truppen zur Verstärkung tief in von Taliban kontrolliertes Gebiet schicken. Dies geschehe aber nicht nur, um den Afghanen die Beteiligung an diesem Votum zu ermöglichen. Vielmehr werde er grundsätzlich nur noch in Regionen vorstoßen, die seine Truppen dauerhaft halten könnten, um die dort lebenden Menschen zu beschützen. Diese Strategie erfordert natürlich weit mehr Soldaten als der Abwurf einer 1000-Kilo-Bombe von einem klaren blauen Himmel herab. So hat denn auch Barack Obama die Stärke der amerikanischen Truppen am Hindukusch auf über 60.000 verdoppelt. Insgesamt stehen dort inzwischen über 100.000 ausländische Soldaten – mehr hatten die Sowjets in den achtziger Jahren zu keinem Zeitpunkt disloziert.
Menü von Petraeus
Im Herbst werden McChrystal und General Petraeus vermutlich nach noch mehr US- und alliierten Truppen zur Umsetzung ihrer Strategie verlangen. Als er vergangenen Monat London besuchte, sagte Petraeus, er werde keine Forderungen stellen, sondern ein „Menü“ anbieten – verschiedene Truppenstärken würden bestimmten Resultaten zugeordnet werden. Die Veranschlagung der Truppenstärken dürfte den Politikern indes klar machen, dass die angestrebten Ergebnisse nicht ohne die Entsendung weiterer Soldaten erreicht werden können. Der Zeitpunkt hierfür ist allerdings ausgesprochen schlecht. Die Auffassung, in Afghanistan kämpfe man (im Gegensatz zum Irak) den „richtigen“ Krieg, verliert in Nordamerika und Europa immer mehr Anhänger. Eine Entwicklung, die durch die täglichen Berichte über angebliche Wahlmanipulationen noch verstärkt werden dürfte. Sollte aus der Wahl eine afghanische Regierung hervorgehen, an deren Legitimität erhebliche Zweifel bestehen, dürfte der Krieg im Ausland noch schwerer zu verteidigen sein. In Afghanistan selbst dürfte sich dann eine jede militärische Strategie als sinnlos erweisen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.