Diese Operation – Khanjar (Schwertstoß) genannt – steht ohne Zweifel für einen Wandel in der NATO- und US-Strategie. Es gilt nicht mehr als Priorität, Taliban zu töten, sondern die Bevölkerung zu schützen und ein Gefühl der Sicherheit zu verbreiten. Sollte das Erfolg haben, werden Offensiven nach dem gleichen Raster im Osten Afghanistans folgen.
Da die Präsidentenwahlen am 20. August nach Auffassung der westlichen Allianz für die Glaubwürdigkeit einer künftigen Regierung in Kabul unverzichtbar sind, erhalten US-Marines den Befehl, Außenposten in Dörfern zu beziehen und die Afghanen davon zu überzeugen, dass die Taliban nicht zurückkehren werden. Es sei daher kein Risiko, an diesem Votum teilzunehmen. Die Gotteskrieger hatten gedroht, wer an die Wahlurne trete, habe sein Leben verwirkt.
Captain Bill Pelletier, US-Militärsprecher in Kabul, reflektiert die neue Herz-und-Verstand-Doktrin wie folgt: Es dürfe keine zivilen Opfer geben, es dürfe kein Besitz zerstört werden, es dürfe nur noch indirektes Feuer der Artillerie geben und „keine Bomben aus Flugzeugen“, die erneut Unbeteiligte treffen.
Anthony Cordesman, einer der bekanntesten US-Militärstrategen, der im Washingtoner Zentrum für Strategische und Internationale Studien sitzt, stimmt zu: Die USA folgten einer nachhaltigen Strategie, die sich auf dauerhafte Sicherheit und Entwicklung konzentriere, statt Rebellen im Feld zu schlagen. Äußerst wichtig für einen Erfolg bleibe jedoch eine größere Beteiligung der afghanischen Regierung. Es sei geradezu eine Enttäuschung für die Amerikaner gewesen, dass aus der Nationalarmee nur 600 Mann bei der Operation Khanjar im Tross seien. Cordesman, der sich derzeit in Afghanistan aufhält, ist sicher, die Koalitionstruppen werden gewinnen, schon wegen ihrer taktischen Vorteile. Die Frage sei allerdings, ob sie in der Lage seien, mit afghanischen Kräften zu kooperieren, um Bevölkerungszentren zu halten, Sicherheit zu garantieren und den Einfluss der Taliban auf Dauer einzudämmen. Cordesman: „Die Kämpfe in Helmand sind nur ein erster Schritt in einem Prozess, der mindestens zwei Jahre dauert und eine ehrlichere sowie effektivere Mitarbeit der afghanischen Regierung braucht, um der Bevölkerung zu helfen.“
Vorbild für künftige Operationen
„Es handelt sich um einen exemplarischen Fall des Kampfes für Demokratie,“ glaubt Michael Clarke, der Direktor des Royal United Services Institute in London. Es gehe einfach um das Besetzen von Grund und Boden, „damit die Menschen sich für die Wahl im August registrieren können.“
Der neue Kommandeur der US-Truppen am Hindukusch, General Stanley McChrystal, hat seinen Einheiten mitgeteilt: Falls sie während eines Gefechts mit den Taliban Gefahr liefen, das Leben der Zivilbevölkerung zu gefährden, seien sie aufgefordert, sich sofort zurückzuziehen und an einem anderen Tage wiederzukommen.
„Das könnte als Vorbild für künftige Operationen im Süden und Osten dienen“, meint Christopher Langton, ein Militäranalytiker am International Institute for Strategic Studies. „General McChrystal hat das klar gemacht: Es werden keine 500-Pfund-Bomben aus großer Höhe abgeworfen. Man hat mittlerweile erkannt, wie sehr das zum mangelnden Erfolg in diesem Krieg beigetragen hat.“
General Stanley McChrystal, erst vor einem Monat ernannt, kommandierte zuletzt US-Spezialeinheiten und war Experte für Spionageabwehr. Offenbar passt er bestens zum neuen Denken Barack Obamas, der die Herzen der Zivilbevölkerung gewinnen will. Der Brigadekommandeur für die Marines, General Lawrence Nicholson, sekundiert: „In unserem Fokus sollten nicht die Taliban stehen. Uns sollte es darum gehen, der Regierung wieder auf die Beine zu helfen. Wir handeln anders, wir werden nah beim Volk sein. Wir werden nicht zur Arbeit fahren, sondern laufen.“
David Benest, der 2008 Jahr als britischer Berater in Afghanistan diente, kann nur zustimmen. Genau das habe er schon längst empfohlen. „Ich war stets der Meinung, entweder wir tun selber verdammt viel mehr oder wir akzeptieren, dass notwendig ist, was die Amerikaner tun. Das ist der einzige Weg vorwärts.“ Auch Benest bemängelt, dass ein eindeutiges Statement der afghanischen Regierung fehlt, „die anerkennen sollte, dass es sich um ihren Krieg handelt.“
Gilles Dorronsoro hingegen empfindet die Konzentration auf die Provinz Helmand als Fehler. Die USA sollten sich lieber auf die Kämpfe nördlich von und um Kabul konzentrieren. „Die Taliban haben eine Strategie und eine kohärente Organisation, sie umzusetzen. Das war bisher durchaus erfolgreich. Sie haben die meisten ihrer Ziele im Süden und im Osten erreicht und preschen derzeit in den Norden vor. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie angesichts des Vorgehens der US-Truppen ihren Kurs ändern.“
Die Helmand-Offensive
Vernetzte Sicherheit Strategie der USA
General Stanley McChrystal, neuer Oberkommandierender der US-Truppen am Hindukusch, will die Taliban dort angreifen, wo sie am stärksten sind in den Süd- und Ostprovinzen sowie in ihren pakistanischen Rückzugsräumen. Die dafür nötigen Kampfverbände sind durch die von Präsident Obama angeordnete Aufstockung des Afghanistan-Korps um 21.000 Mann verfügbar. Der dafür erforderliche Operationsraum wird durch die Regionalisierung des Krieges in Richtung Pakistan gewonnen. Unterstützung kommt von der NATO mit ihren ISAF-Verbänden sowie den pakistanischen Streitkräften.
Den Taliban stehen damit alliierte Truppen in einer Stärke zwischen 100.000 und 150.000 Soldaten gegenüber. Bei Offensiven wie der jetzigen in Helmand wird nach der Taktik der vernetzten Sicherheit verfahren. Die Taliban sollen in drei Schritten vertrieben und ferngehalten werden: durch militärische Schläge, bei denen die Zivilbevölkerung geschont wird. Durch Präsenz im eroberten Terrain. Und durch den Aufbau staatlicher Strukturen, die für Sicherheit bürgen. Anders als bisher werden die US-Soldaten nach einer Operation nicht geschlossen in ihre Basen zurückkehren, sondern Außenposten errichten, die als Frühwarnstation für die Bevölkerung gedacht sind. Befriedete Regionen bekommen im Namen der vernetzten Sicherheit spezielle Hilfsprogramme verordnet. Dafür sind das Pentagon, das US-Agrarministerium sowie Hilfsorganisationen verantwortlich.
Schura von Quetta Strategie der Taliban
Anfang 2009 hat sich der geistliche Führer der Aufständischen, Mullah Omar, so unmittelbar wie nie zuvor in das operative Vorgehen der Taliban eingeschaltet. Er entscheidet über die Kommandostruktur in allen Provinzen Afghanistans, er ordnete Anschläge an und die Verlagerung von Kampfeinheiten. Bisher blieb das Vorgehen gegen die US-Truppen vorwiegend lokalen Rebellenführern überlassen. Inzwischen wurde aus der Schura von Quetta (einer Stadt in Pakistan), die sich bisher auf die religiöse Führung beschränkte, ein Koordinationsrat für operative Fragen, dem Mullah Omar vorsteht. Der Strategiewechsel gilt nicht zuletzt als Reaktion auf die neue Afghanistan-Strategie der US-Regierung und erinnert an das militärisch geschlossene Handeln der Taliban im Vorfeld der Eroberung Kabuls im Jahr 1996.
Operation Schwertstoß Schlachtfeld Helmand
Die Provinz im Süden ist das weltgrößte Anbaugebiet für Schlafmohn, aus dem man Opium und Heroin gewinnt. Die Flächen ziehen sich auch um die Provinzhauptstadt Laschkarga, in deren Nähe es seit dem 1. Juli Kampfhandlungen gibt. Obwohl 2008 die Anbaugebiete um 19 Prozent vermindert werden konnten, ist Afghanistan immer noch der größte Lieferant für den Handel mit Opium.
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