Mein Leben als Pleite

USA Wir waren nie reich, aber ein Studium wollten meine Eltern mir auf jeden Fall finanzieren. Heute bin ich verschuldet, wie so viele meiner Generation
Ausgabe 26/2019

An Halloween im Jahr 2008, das war sechs Wochen nach dem Lehman-Brothers-Crash, rief mich meine Mutter aus Michigan an, um mir zu sagen, dass mein Vater seinen Job im Vertrieb von Visteon verloren hatte, einem Zulieferer von Ford. Zwei Monate später war auch meine Mutter selbst arbeitslos; sie hatte für die Stadt Troy in der Nähe von Detroit gearbeitet. Ab diesem Moment nahmen unsere Leben Fahrt auf: Ein Schicksalsschlag jagte den anderen, die Ereignisse überschlugen sich derart, dass wir nicht mehr richtig mitkamen. Im Juni 2009 hatten meine Eltern immer noch keine neue Arbeit in Michigan gefunden, dem Bundesstaat, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatten. Sie zogen nach New York, wo meine Schwester und ich studierten. Einen Monat später kamen sie mit dem Kredit auf mein Elternhaus in Verzug.

Nach mehreren Monaten Arbeitslosigkeit fand meine Mutter in New York eine Stelle als Fundraiserin für einen Kinderchor. Im Sommer 2010 schloss ich mein Studium an der New York University mit einem Bachelor und einem Master in englischer Literatur sowie 100.000 Dollar Schulden ab, für die mein Vater Bürge war. Er war immer noch arbeitslos, als bei meiner Mutter eine aggressive Form von Brustkrebs diagnostiziert wurde. Sie arbeitete weiter, obwohl sich ihr Arbeitgeber daran störte, dass sie jeden Freitag wegen der Chemotherapie freinehmen musste. Um die Fehlzeiten wettzumachen, fuhr sie montags in aller Herrgottsfrühe mit dem Bus von ihrer Wohnung in der Bronx in die City, um als Erste im Büro zu sein.

Im Januar 2011 pfändete die Chase Bank unser Haus in Michigan. Die letzte Verbindung zu dem Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, wurde durch eine E-Mail von dem Makler gekappt, der es nicht geschafft hatte, das Haus zu verkaufen, und meinem Vater mitteilte, er könne jetzt Gas, Wasser und Strom abmelden.

Im Mai wurde ich freier Mitarbeiter bei einer Zeitung, die mir für ein Jahr später eine Festanstellung versprach; ich verdiente rund 1.800 Dollar im Monat. Im September 2011 wurde das Insolvenzverfahren meiner Eltern abgeschlossen, im Oktober wegen eines behördlichen Verwaltungsfehlers mitten in der Nacht ihr Auto gepfändet. Unterdessen summierten sich meine Schuldenzahlungen an verschiedene staatliche und private Kreditgeber, allen voran die Citibank, auf 1.100 Dollar im Monat.

Ein besseres Leben

Heute bin 30. Seit zehn Jahren hängen mir meine Schulden am Hals wie Mühlsteine. Der delikate Balanceakt, den ich und meine Familie vollführen, um jeden Monat die Rate zu zahlen, ist zum Organisationsprinzip unseres Lebens geworden. Ich bin kein Einzelfall, ich gehöre zu 44 Millionen Schuldnern in den USA, die insgesamt 1,4 Billionen US-Dollar an Studienkrediten abzahlen müssen. Das ist eine fast unvorstellbar hohe Summe – und doch wächst sie unaufhörlich weiter. Ein Gesetz, das Familien mit finanziellen Problemen hätte helfen können, bekam der Kongress nicht zustande. Trotz aller Anzeichen dafür, dass Studienkreditschulden einen Staatsnotstand darstellen, weigert sich die US-Regierung – die die Macht hätte, dieses Problem zu lösen –, seine Schwere anzuerkennen.

Meine Schulden sind ebenso auf eine Verkettung unglücklicher Umstände wie auf ein System zurückzuführen, das von Grund auf verfehlt ist. Meine Eltern lebten nie über ihre Verhältnisse. In den ersten Jahren ihrer Ehe jobbte mein Vater als Taxifahrer. Als wir Kinder kamen, begann er seine Laufbahn in der Autobranche, wir gehörten fortan zur Mittelschicht. Es fehlt uns an nichts, wir fuhren sogar jedes Jahr in Urlaub, nach Myrtle Beach oder Miami. Dennoch reichte das Geld immer nur gerade so, um die laufenden Rechnungen zu bezahlen – Auto-Leasing-Raten, das Darlehen auf unser Haus, unsere Wocheneinkäufe. Meine Schwester und ich besuchten eine öffentliche Schule. Der Preis von Dingen war dauernd Thema. In meinem ersten Highschool-Jahr verlor ich mein Jahrbuch, das 40 Dollar gekostet hatte – meine Mutter war den Tränen nah. Nur bei der Uni, Kostenpunkt rund 50.000 Dollar im Jahr, schien Geld auf einmal keine Rolle zu spielen. „Wir werden schon einen Weg finden“, sagten meine Eltern. Wann immer wir nicht sofort zahlen konnten, gab uns eine Bank bereitwillig Kredit. Auch dann noch, als meine Eltern inmitten der Weltfinanzkrise beide ihren Job verloren hatten.

Wie viele wohlmeinende, aber fehlgeleitete Babyboomer hatten meine Eltern selbst keine Elite-Ausbildung genossen, waren aber überzeugt, dass ein teurer Uni-Abschluss keine Geldverschwendung sei, sondern der Schlüssel zu einem besseren Leben für ihre Kinder. An dieser Fehleinschätzung hielten sie fest, auch als sie alles andere verloren hatten. So zahlten wir weiter jeden Monat Geld, das wir nicht hatten – Geld, das uns die Banken weiter gaben.

In den vergangenen zehn Jahren habe ich viel darüber nachgedacht, wem ich die Schuld an meinen Schulden geben könnte. Meinen Eltern, die mich ermutigten, eine Uni zu besuchen, die wir uns nicht leisten konnten? Den Banken, die nie und nimmer Leuten hätten Geld leihen dürfen, bei denen klar war, dass sie es nicht zurückzahlen können? Die die Hoffnung von Familien wie meiner ausbeuten? Und damit weitermachten, selbst als von dieser Hoffnung nichts mehr übrig war? Oder war es meine Schuld, dass ich den Fehler nicht erkannt hatte, 200.000 Dollar für einen Studiengang zu zahlen, für dessen Abschluss ich ein Lesetagebuch über meine Virginia-Woolf-Lektüre schrieb?

Als sich die Dinge nach dem Kollaps der Wirtschaft wieder einigermaßen beruhigten, fand sich meine Familie in einer ausweglosen Lage wieder: Wir schuldeten der Bank jeden Monat mehr, als wir zusammen bezahlen konnten. Also schrieben wir Bittbriefe an ein Postfach der Citibank in Sioux Falls, South Dakota; Briefe, die ohne Zweifel nie ein menschliches Wesen erreichten. Die Briefe waren wie eine Art Tagebuch, insbesondere für meinen Vater, eine Möglichkeit, seine Wut und Ängste zu kommunizieren, die er sonst größtenteils hinunterschluckte, als bewahre er sie für später auf. In einem Brief, den er mit „Liebe Citi“ begonnen hatte, bat er um einen langfristigeren Zahlungsplan mit niedrigeren Raten. Er beschrieb, wie die steigenden Rechnungen wegen der Krankheit meiner Mutter sowie Forderungen der Chase Bank für das zwangsvollstreckte Haus unsere Familie in die Insolvenz gezwungen hatten, welche aber für private Studienkredite keinerlei Schutz bot. Es ging nicht darum, die Schulden zu erlassen, sondern nur darum, eine monatliche Summe zu vereinbaren, die wir bezahlen konnten. „Das ist ein Appell an Citi, mit uns an diesem Darlehen zu arbeiten“, schrieb er irgendwohin ins Nichts.

Anfang 2012 schließlich begann mein Vater an das Büro des Kongressabgeordneten Joseph Crowley zu schreiben, der den Wahlkreis in der Bronx repräsentierte, in dem meine Eltern nun lebten. Er und meine Mutter seien ein „Paradebeispiel für diese ganze Finanzgeschichte“, schrieb mein Vater, wobei er Leute meinte, die auf dem Papier alles richtig gemacht und damit ihren eigenen Niedergang besiegelt hatten. Damals hatte mein Vater wieder angefangen zu arbeiten, aber er hatte zwei Jahre gebraucht, um einen Job zu finden, in dem er deutlich weniger verdiente als vorher. Er glaubte nicht mehr daran, dass das Gute Bestand haben würde: „Wir sind beide über 60, und ich gehe davon aus, dass mit Mitte 70 das Leben wieder schwieriger wird.“

Die Bank beherrscht uns

Crowleys Büro antwortete. Es war das erste Mal seit zwei Jahren, dass jemand auf unsere Briefe mit so etwas wie Ermutigung reagiert hatte. Jemand in Crowleys Büro in Washington half, eine Telefonkonferenz mit Citigroup anzusetzen, um einen anderen Zahlungsplan zu besprechen. Die monatlichen Raten beliefen sich damals auf 800 Dollar, wir versuchten sie zu überreden, die Laufzeit zu strecken, aber die Raten auf 400 Dollar zu senken. Die Antworten hatten etwas von einer automatischen Ansage: „Es ist uns aus regulatorischen Gründen nicht möglich, auf Ihren Vorschlag einzugehen“, sagte jeder einzelne der Vertreter der Bank. Was diesen Gesprächen eine absurde Note verlieh, war der Umstand, dass Citibank dabei war, sich aus dem Studienkreditmarkt zurückzuziehen, indem sie meine Schulden an Discover Financial weiterverkauften. Die würden uns die gleiche Antwort geben. Für die Banken waren wir nichts als eine Zahl in einer Datenbank. Dabei beherrschten sie unser Schicksal vollkommen.

Ich fragte mich oft, ob die Mitarbeiter dieser Banken selber Kinder hatten. Ob sie je selbst pleite sein würden, ohne zu wissen, wo sie wohnen sollten? Und was sie tun würden, wenn ihre Kinder einen Kredit aufnehmen mussten, um ihr Studium zu bezahlen. Nachdem ich zehn Jahre mit den Folgen meiner Entscheidung in puncto Schulbildung gelebt hatte, behandelte ich meine Schulden wie einen alkoholabhängigen Verwandten, zu dem ich auf Abstand gegangen war, der aber regelmäßig auftaucht und glückliche Momente zerstört. Als ich mit der Uni grade fertig war und mir klar wurde, wie hoch ich verschuldet war, waren meine Schulden eher eine fortwährende drückende Sorge, eine Frage von Leben und Tod gewesen.

Ich hatte Englisch studiert, weil ich Schriftsteller werden wollte. Ich dachte nie daran, reich zu werden. Ich machte mir nichts aus Geld. Nach meinem Abschluss schrieb ich mich in einen Französisch-Abendkurs ein, weil der weniger kostete als die Rückzahlraten, mit denen ich ohne diese Fortsetzung meiner Ausbildung hätte beginnen müssen. Irgendwann ließen sie sich nicht mehr aufschieben. Seitdem ging mir oft den ganzen Tag eine Frage nicht aus dem Kopf: Ich nahm mein Gehalt, subtrahierte die Miete, die Kosten für eine Packung Eier und eine Dose Bohnen (meine Grundnahrungsmittel in den ersten mageren Jahren jenes Desasters) sowie meine Kreditrate, und stellte mir dann die Frage: Was wirst du tun, wenn vom Gehalt nichts mehr übrig ist?

Eine Antwort fand ich nie. Zu meinen schlechtesten Zeiten begann ich, an den Tod zu denken, nicht weil ich suizidgefährdet gewesen wäre, sondern weil er versprach, dass ich mich nicht mehr mit dieser Frage herumschlagen müsste. Ich fühlte mich, als sei meinem Leben ein Geldwert zugeordnet worden. Ich wusste, was ich wert war, und konnte es mir nicht leisten. Also war es vielleicht das Beste, vorzeitig auszusteigen. Die Schulden waren niederschmetternd und beherrschten meine Gedanken – die ganze Zeit überlegte ich, wie ich genug zu essen kriegen oder rechtzeitig meine Miete bezahlen würde; die Hoffnung auf eine Zukunft, in der ich einen Kreditrahmen, verfügbares Einkommen oder einfach nur irgendetwas besitzen würde, hatte ich schon lange aufgegeben – aber sie war auch einfach nur banal. Ich verbrachte sehr viel Zeit damit, Formulare auszufüllen oder in einer Warteschleife darauf zu warten, mit einer roboterartigen Stimme zu sprechen, die mein Anliegen zurückweisen würde. Egal, was es war oder wen ich fragte, es wurde immer abgelehnt.

Deshalb fühlte es sich gut an, über den Tod nachzudenken, so wie es sich gut anfühlt, ein längeres Schläfchen zu halten, nur um eine Weile nichts zu fühlen. Diese Gedanken kulminierten im November 2010, als ich mich mit meinem Vater wegen irgendwelchen Papierkrams in einem Restaurant in Brooklyn traf. Ich war zehn Tage lang ernsthaft krank gewesen, was an einer Halsentzündung lag, und weigerte mich, zum Arzt zu gehen, in der Hoffnung, das Ganze würde sich zu einer ernsthaften Infektion auswachsen, die – wenn sie mich schon nicht umbringen würde – zumindest dazu führen würde, dass mich andere mit Mitleid überschütteten. Nachdem ich einen großen gelben Schleimbatzen abgehustet hatte, betraten mein Vater und ich das Restaurant. Am Tisch begann ich das Gespräch mit der Frage: „Sagen wir, jetzt rein theoretisch, ich würde mich umbringen: Was würde dann mit meinen Schulden passieren? – „Dann würde ich sie zurückzahlen müssen“, sagte mein Vater im gleichen Tonfall, in dem er wenig später Eier bestellen würde. Er machte eine Pause und schenkte mir ein melancholisches Lächeln, das ihn einige Anstrengung gekostet haben muss. „Hör zu, es sind nur Schulden“, sagte er. „Davon stirbt man nicht.“

Mein Vater hatte in den zwei Jahren davor einiges mitgemacht. Innerhalb weniger Monate hatte er alles verloren, was er in seinem Leben aufgebaut hatte – erst seinen Beruf, dann sein Haus, schließlich seine Würde. Jetzt, als 60-jähriger Mann, hatte er widerwillig seinen grau werdenden, 40 Jahre alten Schnurrbart rasiert, um jünger zu wirken. Er ging von einem erfolglosen Bewerbungsgespräch zum nächsten, nur um sich anzuhören, er habe „zu viel Erfahrung“.

Auf das ganze Elend hatte mein Vater in einer Weise regiert, die ich plötzlich als stoisch erkannte. Lange hatte ich sie fälschlich für Gleichgültigkeit gehalten. Dieses Missverständnis war zum Teil auf meine Mutter zurückzuführen, die vielleicht am meisten durchgemacht hatte. Nicht, dass das Ganze ein Wettbewerb gewesen wäre, aber wenn doch, dann glaube ich, hätte sie ein kleines bisschen Befriedigung daraus gezogen, zu gewinnen. Der Verlust von Haus und allem Vermögen war doch annähernd so schlimm wie Krebs – und trotzdem saß da mein Vater und sagte mir, all das sei nicht das Ende der Welt. Ich spürte auf einmal eine Welle der Zuneigung zu ihm. Und schämte mich. „Okay“, antwortete ich, und das war’s. Als ich nach Hause kam, machte ich einen Arzttermin. Es waren einfach nur Streptokokken im Hals.

Der größte Teil des Schuldendilemmas bestand aus Zahlen, die ich nur abstrakt verstehen konnte. Da waren 38.840 Dollar mit einem Zinssatz von 2,25 Prozent und der Ankündigung, dass er sich im Mai 2016 auf 2,5 Prozent erhöhen würde. Dann ein Kredit über 25.000 Dollar zu 7,5 Prozent. Im Laufe von drei Jahren hatten wir dafür 12.531,12 Dollar zurückgezahlt. Dennoch schuldete ich immer noch 25.933,66 Dollar, also mehr als die ursprüngliche Summe. Ich bekam Nachrichten mit Betreffzeilen wie „Wichtige Informationen“, aber keine von ihnen änderte mein Schicksal. Manchmal stiegen die monatlichen Raten, manchmal mein Gehalt, schließlich wurde mein Kredit von einer Bank an eine andere weiterverkauft. Das einzige Bleibende war, dass ich einen Betrag schuldete, der nie geringer zu werden schien.

Der Krebs meiner Mutter war verschwunden, und meine Eltern hatten, mit Mitte 60, neue Arbeit in New York gefunden. Ich hatte seit meinem Uni-Abschluss im Journalismus gearbeitet und bekam 2016 eine Redakteursstelle bei der New York Times. War es möglich, dass wir wieder Glück hatten? Ich hatte mich so oft gefragt, wann der Tiefpunkt erreicht worden wäre, jetzt fragte ich mich, ob er vielleicht schon hinter uns lag.

Meine Frau hilft jetzt mit

Im Sommer 2017 hatte mein Vater, der auf die 70 zuging, wieder einen Job verloren. Also ersetzte ich ihn endlich als Bürgen, indem ich mein Darlehen bei SoFi, einer der wenigen Firmen, die diese Dienstleistung anboten, refinanzierte. Meine Frau würde, wenn es ging, zu den Raten beitragen. Die Last der Schulden mit meiner Frau, statt mit meinen Eltern zu teilen, fühlte sich an wie ein kleiner, deprimierender Sieg, ein Meilenstein, den vielleicht nur meine Generation kennt – und ungefähr so bedeutsam wie für meine Eltern, ein Haus zu kaufen und ein Darlehen dafür aufzunehmen.

Auch SoFi hat meine Lage nicht groß verändert. Der Unterschied ist, dass ich jetzt nur einen Scheck ausstelle statt mehrere und ein Zieldatum dafür habe, wann meine Schulden inklusive Zinsen – rund 182.000 Dollar – getilgt sein werden: im Jahr 2032, ich werde 44 sein. Meine Monatsrate ist immer noch meistens mehr, als ich mir leisten kann. Ich bin abhängig von der Hilfe der Menschen, die ich liebe, und lebe von einer Lohnzahlung zur nächsten. Und immer ist da die Angst davor, was passiert, wenn das Gehalt ausbleibt.

Aber die „Wichtigen Informationen“, die ich bekomme, haben sich verändert. SoFi ist ein Start-up aus dem Silicon Valley, das sich selbst als „eine neue Art Finanzfirma“ bezeichnet; der Name ist ein Kürzel für Social Finance. Zusätzlich zu Krediten werden den Kunden Seminare zum Thema „Finanzen verstehen“ und kostenlose Abendessen angeboten. Erklärtes Ziel ist es, „unsere Mitglieder zu ermächtigen“ – eine Mission, die im September 2017 durch den Rücktritt von CEO Mike Cagney wegen des Vorwurfs wiederholter sexueller Belästigung in Zweifel gezogen wurde. Zu den Vorwürfen gegen Cagney gehören laut der New York Times die Versendung expliziter SMS-Nachrichten an Angestellte, in denen er mit der Größe seiner Genitalien prahlte.

Es gab auch Kritik, SoFi sei elitär und werbe nur vermögende, gut verdienende Schuldner an – wozu ich nur sagen kann, dass ich mich dazu auf jeden Fall nicht zähle, insbesondere immer dann, wenn ich SoFi meinen monatlichen Betrag überwiesen habe. Trotzdem bekam ich von nun an merkwürdige E-Mails: „Sie sind eingeladen: NYC Single-Event“ oder „Feiern Sie mit uns!“

„Lieber NYC SoFi’er“, hieß es in einer dieser E-Mails, „schnappen Sie sich einen befreundeten Single und machen Sie sich mit uns einen schönen Abend in der Rare View Dach-Bar und Lounge in Murray Hill! Sie treffen einige unserer interessantesten Mitglieder (die noch zu haben sind!).“ Dazu kann ich nur wiederholen, dass ich ein 30-jähriger, verheirateter Mann mit mehr als 100.000 Dollar Schulden bin, der jedes Jahr weniger verdient, als er schuldet. Eine Hose zu kaufen, ist für mich eine größere finanzielle Entscheidung. Ich halte mich in keiner Weise für eine gute Partie, noch finde ich meine Schulden irgendwie amüsant oder Small-Talk-würdig.

Dennoch beschlich mich das Gefühl, dass sich in den letzten zehn Jahren zwar nicht meine Schulden verändert hatten, aber doch die Welt oder zumindest die Sicht der Welt darauf. Diese Plage des 21. Jahrhunderts, die Ruin und Verzweiflung über meine Familie gebracht hatte, war jetzt so normal, so selbstverständlich, dass sie von der Wellnessindustrie im Silicon Valley vereinnahmt wurde. Meine Schulden waren jetzt ein Weg, Leute kennenzulernen. Sie waren – tatsächlich – eine Investition in die Zukunft, was ja der Grund gewesen war, warum ich den Kredit überhaupt aufgenommen hatte. Aber würde SoFi auch so freundlich sein, wenn ich meinen Job verlöre und eine Monatsrate nicht bezahlte?

Sagen wir, ich war auf eine morbide Art davon fasziniert. Am Tag nach dem Valentinstag ging ich in ein mexikanisches Restaurant in der Nähe der Wall Street zu einem SoFi-Community-Dinner. Es war keine Single-Veranstaltung, sondern ein kostenloses Abendessen. SoFi hatte das Hinterzimmer gemietet, wo sich ein paar Dutzend Leute versammelten. Alle trugen Namensschilder und sprachen über Finanzsorgen. Sid, ein Software-Entwickler aus Queens, der nach dem Studium Kreditkartenschulden angehäuft hatte, erklärte mir, Schulden seien das Verbindende bei diesen Treffen. „Wenn ein Gespräch stockt, muss nur einer sagen: ‚Also, Schulden, was?‘ – und es läuft wieder“, sagte er.

Wir packten das Fleisch ein

Trotz der Namensschilder wirkte das Ganze eher wie ein Treffen der Anonymen Alkoholiker, eine Art Gruppentherapie-Sitzung. Alle konnten von Problemen mit Studienkrediten erzählen und wie sie versuchten, Tag für Tag, ihre Lage zu verbessern. Keine Geschichte war außergewöhnlich, auch meine nicht. Ian, ein Google-Angestellter, der vor Kurzem seine Schulden für ein Master-of-Business-Administration-Programm abgezahlt hatte, wurde so etwas wie mein Mentor an jenem Abend. Er erzählte von seinen „mageren“ Jahren, in denen er von Fertignudeln gelebt hatte. Ich sagte, dass meine Schulden noch lange nicht getilgt wären. „Immerhin machst du etwas“, sagte er ernsthaft.

Wir setzten uns zum Essen. Mir gegenüber saß Mira, eine Strafverteidigerin aus Brooklyn, die an der Elite-Uni Stanford Jura studiert hat. Sie zahlt 2.300 Dollar monatlich zurück, mehr als doppelt so viel wie ich. Als ich sie fragte, warum sie hier sei, blickte sie mich an, als sei das offensichtlich: 2.300 Dollar pro Monat! Die Leute am Tisch – auch ich – blickten sie fast ehrfürchtig an. Sie trug einen Hosenanzug und hatte ihr Haar hinten zusammengebunden, aber auf mich wirkte sie wie ein alter und weiser Rocker, der in seiner Weisheit darüber spricht, dass man die Dinge akzeptieren muss, die man nicht ändern kann.

Nach dem Essen brachte ein Kellner einen Stapel dieser Verpackungen aus Alufolie zum Mitnehmen von Essen. Eine Weile standen die unberührt da, während alle sie vorsichtig beäugten. Wir zögerten, dann sagte Ian: „Das Hähnchen war eigentlich schon ziemlich lecker“, und packte eine Box voll. Mira hob die Schultern und zückte eine Gabel: „Schäbig, oder? Aber ich finde es schrecklich, Essen wegzuschmeißen.“ Der Rest von uns folgte ihrem Beispiel.

Die nächste Generation wird es vielleicht besser machen, dachte ich, wir aber sind pleite, finanziell und moralisch, und noch so viele Abschlüsse und berufliche Erfolge werden uns nicht heilen können. Immerhin war unsere nächste Mahlzeit gesichert.

M. H. Miller ist Kunstredakteur des New York Times Style Magazine und hat diesen Text im Guardian veröffentlicht

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

M. H. Miller | The Guardian

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