Egal, mit wem und auf welcher Ebene der politischen und wirtschaftlichen Hierarchie man spricht, ob offiziell oder inoffiziell – die Botschaft aus Deutschland war stets eindeutig: Berlin will, dass Großbritannien in der EU bleibt und wird sein Äußerstes tun, um einen Austritt der Briten zu verhindern. Nun jedoch scheint es so, als habe sich diesbezüglich etwas verändert. Der Spiegel berichtete über die Sorge der deutschen Kanzlerin, Großbritannien könnte sich in den Beziehungen zu Europa einem „point of no return“ angenähert haben.
Einiges spricht dafür, dass Berlin Großbritannien beim Thema Einwanderung die Unterstützung verweigern könnte, was keine große Überraschung wäre. Merkel hat oft genug deutlich gemacht, dass Deutschland bezüglich der Personenfreizügigkeit, die man zu den Gründungsprinzipien der EU zählt, keine Kompromisse eingehen werde. Die Kanzlerin scheint sogar bereits Vorkehrungen für eine bislang unerwünschte Konsequenz zu treffen: Sollte David Cameron Einschränkungen der Reisefreiheit als seine rote Linie definieren, müsste Großbritannien aus der EU austreten – ein Schritt, der im Eurojargon „Brexit“ genannt wird.
Wohl überlegter Warnschuss
Allerdings zitiert der Spiegel Quellen aus „Regierungskreisen“, nicht Merkel persönlich und heißt eine Debatte auch gern mal ein wenig an. Wir stehen am Anfang einer neuen Legislaturperiode des EU-Parlaments, gerade ist eine neue EU-Kommission angetreten. Da will jeder zeigen, wo er steht. Doch kann man nicht ausschließen, dass das deutsche Kanzleramt einen wohl überlegten Warnschuss vor den Bug des Briten-Premiers abgegeben hat. Das, was man in Kontinentaleuropa als neue und gefährliche Faxen der Briten beim alten Thema der britisch-europäischen Beziehungen betrachtet, strapaziert die Geduld der Regierungen vieler EU-Länder. Besonders die der Deutschen.
Ob die an britischen Maßstäben gemessen recht zahme Aufwallung anti-migrantischer Gefühle Merkel dazu veranlasst hat, ihre rote Linie aufzuzeigen, bevor diese Ressentiments stärker werden oder ob sie einfach genug hat von der britischen Sonderrolle, lässt sich schwer deuten. Jedenfalls scheint sie jetzt zu sagen: Macht, was ihr wollt, tretet doch aus! Wir werden euch nicht hinterherrennen.
So zumindest lautete gestern die in London bevorzugte Interpretation. Dazu beteuerten Schatzkanzler George Osborne und Co., die Regierung handle bloß im nationalen Interesse, wenn sie beim Thema Zuwanderung auf die Sorgen der Öffentlichkeit reagiere. Diese Reaktion lässt sich als eine Mischung aus Sorglosigkeit und einem freundlich formulierten „Ihr könnt uns mal“ zusammenfassen.
Die Haltung birgt zwei Schwierigkeiten. Erstens lässt der britische Zeitplan für Wahlen Cameron wenig Spielraum. Möglicherweise haben die Konservativen die anstehenden Unterhauswahlen im britischen Rochester gedanklich bereits an die Ukip abgetreten. Vielleicht trösten sie sich auch mit der Vorstellung, dass die Menschen bei Parlamentswahlen anders abstimmen als bei Nachwahlen.
Doch dagegen, wie die Ukip mit ihren Parolen verbreitete Sorgen beim Thema Zuwanderung mit einer ablehnenden Haltung gegenüber der EU kurzschließt, kommen Cameron und seine Minister kaum an. Selbst wenn sie dies wollten, was keineswegs gewiss ist.
Fragwürdige Loyalität
Einen Kompromiss – die Vergabe neuer Sozialversicherungsnummern an ungelernte EU-Migranten zu beschränken – hat Brüssel offenbar bereits mit der Begründung abgelehnt, es handle sich um einen Verstoß gegen die Personenfreizügigkeit. Cameron wird mehr Einfallsreichtum brauchen, wenn er die Zuwanderungszahlen im Rahmen der geltenden Regeln reduzieren will. Realistisch betrachtet wird er sich vor den Unterhauswahlen im Mai 2015 kaum flexibel zeigen können.
Die zweite Schwierigkeit in Hinblick auf den offenbar signifikanten Wandel in Merkels Position besteht in Camerons miserabler Bilanz bei der Deutung der deutschen Absichten. Immer wieder schien er auf die Zusagen zu setzen, die die deutsche Kanzlerin ihm in seinen Augen für seine Unterfangen gegeben hat – nur um dann enttäuscht festzustellen, dass Deutschlands Loyalität im Fall eines Konflikts zwischen London und Brüssel klar der EU gehört.
Wenn Cameron als Politiker eine Schwäche hat, dann ist dies seine mangelnde Fähigkeit, ausländische Amtskollegen richtig einzuschätzen. Er macht sich nicht gern auf Reisen, noch nicht mal, wenn diese ihn in die USA führen. In dieser Hinsicht war sein Koalitionspartner Nick Clegg ein echter Glücksgriff. Der kann als vollendeter Kosmopolit vieles wettmachen. Aber Clegg kann nicht an Stelle des Premiers in Europa auftreten. Ebenso wenig kann er Cameron im Vorfeld einer Wahl helfen, bei der eine rechte, europaskeptische Partei den Tories dicht auf den Fersen ist.
Alles in allem sind die Aussichten für die britisch-europäischen Beziehungen in den kommenden sechs Monaten wenig erbaulich. Cameron wird vor Mai 2015 kaum irgendetwas unternehmen, was nach einem Zugeständnis aussehen könnte, oder auch nur einen gemäßigteren Ton anschlagen. Zudem kann er nicht völlig sicher sein, dass Merkel lediglich taktiert und nicht doch irgendwann einmal ernst macht. Der „Brexit“ könnte Realität werden, noch bevor die Briten darüber abstimmen. Alle, die wollen, dass Großbritannien in der EU bleibt, sollten deshalb jetzt ihre Argumente vorbringen.
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