Großbritannien Das Gesicht von Widerstand und Würde: Mick Lynch hat ein Leben lang malocht. Jetzt führt er als Gewerkschaftschef den Streik der Eisenbahner an – und bietet der regierenden Gewerkschaftsfeindin Liz Truss die Stirn
„Wir weigern uns, sanftmütig zu sein. Und wir weigern uns, weiter arm zu sein“, sagt der Chef der National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT)
Foto: Wiktor Szymanowicz/aa/dpa
Es ist in Großbritannien selten, dass der Generalsekretär einer Gewerkschaft, zumal einer kleinen, zu einer nationalen Berühmtheit wird. Genau das hat Mick Lynch erreicht, Chef der Gewerkschaft für Eisenbahner, Schiffs- und Transportarbeiter (RTM) mit 80.000 Mitgliedern. Der 60-Jährige mag keine Komplimente. Aber seit sich die Eisenbahner nach der Trauerzeit für die Queen erneut zum Streik rüsten, gibt er zu: „Viele Leute sagen mir, dass ich das ganz gut hinkriege“.
Ich treffe Lynch in einem Sitzungszimmer von RMT, ganz in der Nähe der Euston Station, einem Bahnhof im Zentrum Londons. Erst kürzlich schaffte es die Gewerkschaft, dort spontan tausend Menschen zu mobilisieren, um eine Kette von Streikposten im Konflikt zwischen den Bahnb
den Bahnbeschäftigten und Network Rail zu unterstützen. Lynch beschreibt sich selbst als „Personifizierung eines RMT-Generalsekretärs“: „Weiß, männlich, glatzköpfig, 60 Jahre alt“. Er sage das in der Hoffnung, dass seine Gewerkschaft künftig ein „vielfältigeres Führungspersonal“ habe. Er wirkt wie jemand, der den Laden im Griff hat, empathisch, trotzdem unverkrampft. Lynch hat durch Auftritte in Hörfunk und Fernsehen Aufsehen erregt, indem er die gewohnte Anti-Streik-Polemik an sich abtropfen ließ. Ein besonders absurder Angriff kam von dem bekannten Moderator Piers Morgan. Warum Lynch das Bild von „The Hood“, dem Schurken aus der 1960er-Kindersendung Thunderbirds, als Facebook-Profil habe? Weil er selbst ein Bösewicht sei?Der Befragte reagierte mit amüsiertem Spott. Die Frage sage nicht nur etwas über Morgan aus, sondern auch über die Medienkultur in Großbritannien. Wie absurd seien die Prioritäten gesetzt, wenn man 17 Geschichten über Waisenkinder, Rentner und Hunde finde, deren Tag durch einen Bahnstreik ruiniert werde, aber auf der Suche nach einer Erklärung zu den Hintergründen des Arbeitskampfes nur Glück bei Tiktok habe? Es gehe darum, ob die Eisenbahner für die nächsten zwei Jahre eine reale Gehaltskürzung hinzunehmen hätten. „Der Journalismus befindet sich in einem Zustand...“, schüttelt Lynch den Kopf, „die Fragen, die einem gestellt werden, sind ziemlich ... nun ja, beschränkt“. Es werde ignoriert, wofür Gewerkschaften da sind, und das Klischee vermittelt, er als Gewerkschaftsboss könne seine Mitglieder nach Belieben herumkommandieren. „Dabei ist es genau umgekehrt: Gewerkschaften sind sehr demokratisch organisiert. Es klingt vielleicht ein bisschen schwülstig, aber unsere Mitglieder sind souverän, sie bestimmen, was wir tun.“Der traditionelle Vorwurf gegen streikende Transportarbeiter, sie würden hart arbeitende Menschen davon abhalten, zur Arbeit zu kommen, zieht nicht mehr. Umfragen zeigen, dass 70 Prozent dafür sind, dass Eisenbahner Löhne erhalten, die den Anstieg der Lebenshaltungskosten decken. Die klassische Mitte-Links-Position, die auch von der Labour Party vertreten wird – die Forderungen sind gerecht, Streiks aber schlecht – gerät ins Wanken. Beim Eröffnungsmeeting der Initiative „Genug ist genug“ brachte Lynch das Haus zum Toben, als er ausrief: „Unsere Botschaft muss sein: Die Arbeiterklasse ist zurück. Wir weigern uns, sanftmütig zu sein. Wir weigern uns, bescheiden zu sein, wir weigern uns, auf Politiker zu warten – und wir weigern uns, weiter arm zu sein.“Lynch erzählt über sich, dass es ihm eigentlich an Ehrgeiz fehlte, RTM-Chef zu werden. „Meine erste Funktion in der Gewerkschaft übernahm ich mit 54. Ich habe keine Gewerkschaftskarriere hinter mir, sondern immer meine Schichten geschoben, 37 Jahre lang als Elektriker.“ An einer Gewerkschaftsschulung habe er nie teilgenommen. An ihm und seinen Argumenten sei nichts Besonderes. „Es gibt viele Leute, die an meiner Stelle sein könnten. Das ist es, was die Mittelschichtjournalisten so schockiert: Dass sie jemanden treffen, der in der Lage ist, Führungspersonal aus Staat und Wirtschaft gegenüberzutreten, obwohl er sein Leben lang einen Arbeiterjob gemacht hat.“Geboren wurde Lynch im Stadtteil Paddington in Westen Londons. Er stammt aus einer irischen Familie mit fünf Kindern und wenig Geld. „Als mein Vater 1971 einmal sieben Wochen lang streikte, war das ein schwerer Schlag für das Familieneinkommen. Ich selbst habe das kaum bemerkt, als Jüngsten schotteten mich die Geschwister von den Problemen der Familie ab. So eng es auch wurde, damals hatte man keine Schulden. Das ist der entscheidende Unterschied zu heute. Inzwischen haben die Leute Schulden, bei denen meine Eltern gedacht hätten: Das ist unmöglich.“ Mit 16 Jahren ging Lynch von der Schule ab und machte eine Ausbildung. Er rattert die Berufe seiner Geschwister herunter – Dekorateur, Lehramt, Maler, Hebamme. „Wir waren eine funktionierende und respektable Familie. Nach meiner Erinnerung gab es viele Familien, die so waren. Jetzt werden Arbeitermilieus meist so dargestellt, als wären sie ständig in der Krise, ohne Lebenskultur, einem freudlosen Dasein ausgeliefert.“ Lynch arbeitete auf dem Bau, bis er auf die schwarze Liste kam, weil er sich für eine Gewerkschaft einsetzte, und zur Eisenbahn wechselte.Es zählt zu den Versprechen von Premierministerin Liz Truss, gegen die Gewerkschaften in den Krieg zu ziehen und innerhalb von 30 Tagen ein Gesetz zu verabschieden, das Gewerkschaftsmacht beschneidet. „Sie wollen die Auseinandersetzung, und wir müssen reagieren“, so Lynch. „Aber das braucht eine Antwort aller Gewerkschaften, auch der Labour-Partei. Der Widerstand muss größer sein als meine Gewerkschaft. Allein können wir nichts ausrichten.“Placeholder infobox-1