Mit extrem scharfer Kante

Nachruf Der verstorbene Claude Cabrol sezierte die französische Mittelklasse. Der Suspense seiner Filme übertraf selbst noch Vorbild Alfred Hitchcock

Nach dem Tod Alfred Hitchcocks hielt der französische Filmemacher Claude Chabrol so gut wie alleine ein Genre am Leben, das ohne ihn wohl zu einem Museumsstück geworden wäre, wie das Musical oder der Western: den eisig-eleganten Suspense-Thriller. Die Existenz dieser spannungsgeladenen Form des Dramas beruht auf einer ganzen Reihe strikter sozialer Codes, einem strengen Ordnungssinn und einer zugeknöpften bürgerlichen Gesellschaft, innerhalb derer der bloße Gedanke eines Verbrechens unvorstellbar ist.

Die Dramatik des Genres bedingt jedoch nicht allein der Schauer, den der Verstoß hervorruft, sondern auch die Erkenntnis, dass eine Straftat oder ein psychopathisches Verbrechen verdeckt werden und bis in alle Ewigkeit im Verborgenen gären können, sofern einer mit der notwendigen Rücksichtslosigkeit oder Einfallsreichtum vorgeht oder über gesellschaftliche Privilegien verfügt.

Vielleicht ist es bezeichnend, dass Hitchcock Engländer war; Chabrol machte in der französischen Gesellschaft etwas aus, das dem Suspense-Genre aufs höchste zuträglich war, und doch basiert einer seiner renommiertesten Filme, La Cérémonie (Biester; 1995), auf dem Thriller Urteil in Stein (1977) der britischen Autorin Ruth Rendell.

In Chabrols Film schämt sich eine Haushaltsgehilfin, die von einer reichen Dame angestellt wurde, ihres Analphabetismus. Die Freundschaft zu einer Frau aus dem Ort, gespielt von Isabelle Huppert, treibt sie zu Besessenheit und Gewalt an. Der Film befasst sich mit Klassenunterschieden, Missgunst und sozialen Spannungen. Chabrol stellt diese Themen jedoch, anders als viele seiner Zeitgenossen der Nouvelle Vague, in den Dienst der guten alten Unterhaltung – wenn auch mit einer extrem scharfen Kante.

Die Persistenz der Nouvelle Vague

Fast 50 Jahre lang hat Chabrol äußerst diszipliniert beinahe jährlich einen neuen Film veröffentlicht. Sein Werk zeugt von der Unterstützung der französischen Filmindustrie für ihre etablierten Meister – und von der bemerkenswerten Energie und Persistenz der Generation der Nouvelle Vague, zu deren Gründervätern er zählte. Jean-Luc Godard, Jacques Rivette und Alain Resnais, die 79, 82 und 88 Jahre zählen, sie arbeiten alle noch.

Wie die anderen Regisseure der Nouvelle Vague begann Chabrol seine Karriere als Kritiker für die Cahiers Du Cinéma und war einer von denen, die kritische Studio-Regisseure nach amerikanischem Vorbild mit vollem Autoren-Status forderten. Auf keinen traf dies mehr zu als auf Alfred Hitchcock, mit dem Chabrol und Truffaut 1955 ein ehrfurchtsvolles Interview führten. Doch es war Chabrol, der den Kult um Hitchcock zum Prüfstein für seine eigene Arbeit machte, indem er Suspense-Thriller drehte, in denen er die Scheinheiligkeit und Eitelkeit der französischen Mittelklasse mit einem mikroskopischen Realismus untersuchte, der wohl alles, was der Meister selbst je zuwege brachte, übertraf.

Moderner. Und weitaus schmutziger

Einer seiner bekanntesten frühen Filme war La Femme Infidèle (Die untreue Frau), in dem ein Mann seinen Verdacht gegen seine Frau auf die Probe stellt, indem er eine schaurige Bekanntschaft mit ihrem potentiellen Verführer eingeht. Im Original spielten Michel Bouquet und Stéphane Audran den Ehemann und seine Frau; in einem Remake übernahmen Richard Gere und Diane Lane die Rollen.

Mein persönlicher Lieblingsfilm ist einer der ersten Filme Chabrols: Les Bonnes Femmes (Die Unbefriedigten) aus dem Jahr 1960. Es ist sicherlich eine Geschichte über Gewalt und sexuelle Obsessionen, doch sie wird atypisch erzählt und so ist dieser Film kaum als gradliniger Suspense-Thriller zu bezeichnen. Die Unbefriedigten ist wesentlich moderner: Eine verblüffend indirekte Darstellung von Angst und Grauen mischt sich mit der typischen romantischen Komödie um ein alleinstehendes junges Mädchen, wie man sie aus Agnès Vardas Mittwoch zwischen 5 und 7 und Rivettes Paris gehört uns kennt. Vier junge Frauen arbeiten in einem französischen Geschäft und träumen davon fortzukommen, egal wohin. Ihr Leben läuft ziellos vor sich hin, ohne den strengen, strukturierten Plot, für den Chabrol später bekannt werden sollte. Sie haben Männerbekanntschaften, Abenteuer. Es wird gelacht und wir erwarten vielleicht ein reuevolles, bittersüßes Finale, wie man es aus den britischen Alltagsdramen kennt. Doch dieser Film endet weitaus schmutziger. Er ist das faszinierende Werk eines Mannes, der die französische Mittelklasse mit einer sadistischen Drehung des Skalpells sezierte.

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Peter Bradshaw | The Guardian

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