Mit zwei Regisseuren

Fringe-Festival Die Live-Performance hat eine Revolution erlebt, ohne dass davon wirklich Notiz genommen wurde: Theater findet jetzt auch im Kino statt

Das Edinburgher Traverse Theatre hat der Reihe von Stücke-Lesungen in diesem Jahr einen netten Titel gegeben: Impossible Things Before Breakfast. Eigentlich ist das nicht ganz korrekt, denn im Eintrittspreis ist ein Frühstück oder zumindest ein kleines Schinkenbrötchen und ein Schluck Kaffee enthalten. Ansonsten geht der Alice im Wunderland entlehnte Titel aber in Ordnung.

Im vergangenen Jahr mussten die Zuschauer die Qualen von Geiseln nachempfinden (ein neues Stück von Enda Walsh) und wurden gezwungen, Fetzen des Scripts nachzuspielen (David Greig). In diesem Jahr reitet Simon Stephens in T5 auf den Nachwirkungen einer Messerstecherei herum, während Linda McLeans neues Stück This Is Water aus dem wörtlichen Bericht eines Verhörs besteht. Das ist für neun Uhr in der Früh ganz schön starker Tobak, vor allem, wenn man einen Kater von der Größe eines Mittelgebirges mit sich herumschleppt.

Nun versucht das Traverse etwas, das man früher, wenn zwar nicht für unmöglich, so doch für hoch ambitioniert gehalten hätte: An einem Abend wurden diese zwei kurzen Stücke zusammen mit drei weiteren mithilfe eines Videobeamers in 30 Kinos in ganz Großbritannien und Irland übertragen. Das Theater ist freilich nicht das erste, das etwas derartiges macht. Bereits im Jahr 2006 begann die Metropolitan Opera in New York mit der Übertragung ihrer Aufführungen in Kinos auf der ganzen Welt und im vergangenen Jahr folgte Londons National Theatre unter anderem mit Hellen Mirren in Racines Phèdre, was weltweit 200.000 Menschen mitverfolgten. Vor ein paar Wochen gab das Londoner Donmar, bei dem es aufgrund der geringen Platzkapazitäten und des großen Andrangs schwierig sein kann, eine Karte zu bekommen, bekannt, man werde den King Lear des Herbstspielplanes ebenfalls live auf Videobeamer senden.

Wie bei Big Brother

Ohne dass groß jemand Notiz davon genommen hätte, hat die Live-Performance eine Revolution erlebt. An der einst einzigartigen Erfahrung einer begrenzen Anzahl von Zuschauern können heute Massen von Menschen teilhaben. Wie ist es dazu gekommen? Aber ist das denn überhaupt zu begrüßen? Und was ist überhaupt mit den Stücken selbst?

Während mir diese Fragen durch den Kopf gehen, sitze ich auf dem Boden eines Proberaumes im Werftenviertel von Leith in Edinburgh. Vier Schauspieler, eine Regisseurin und ihr Assistent diskutieren voller Ernst den Text mit dem Autor. Aber nicht nur ich sehe ihnen dabei zu. Überall sind Videokameras und Knopfmikrophone aufgestellt, im Zimmer nebenan hört ein Tontechniker geduldig zu. Obwohl die Künstler hier sind, um das Stück Quartet miteinander durchzugehen – eine herzzerreißende Liebesgeschichte von Marina Carr – kommt es einem eher vor wie das Big-Brother-Haus.

Die Kameras halten jede Sekunde der Probe für eine etwaige spätere Verwendung fest und experimentieren mit verschiedenen Einstellungen für die Live-Übertragung. Sie gehören einer Firma namens Hibrow, die von dem dynamischen, 62-jährigen Don Boyd geführt wird, der schon Filme von Derek Jarman und John Schlesinger produziert hat. „Die Zuschauer im Kino machen nicht einfach nur eine gute Erfahrung, sie werden etwas sehen, wozu sie normalerweise nie eine Chance erhalten würden.“ Boyd zufolge wird die Breitband-Technik es den Zuschauern bald ermöglichen, ihre eigenen Kameraeinstellungen auszuwählen, einen Blick hinter die Bühne zu werfen, die Handlung durch zusätzliches Videomaterial zu ergänzen oder einfach nur der Aufführung zu folgen, wie sie es im Theater selbst auch tun würden.

Jede Produktion hat zwei Regisseure – einen fürs Theater und einen für die Übertragung. Als ich vorbeischaue, führt gerade die Leiterin die Intendantin des National Theatre von Schottland, Vicky Featherstone, Regie. Sie gibt zu, dass es sich um ein Experiment handelt. „Wenn ich ehrlich bin, bin ich hier um zu lernen, ohne die komplette Verantwortung übernehmen zu müssen“, lacht sie. „Das ist sehr befreiend.“

Vier Leute, die in einer Reihe sitzen

Dann weist sie auf einen grundlegenden Unterschied zwischen den Übertragungen aus dem Traverse und denen des National Theatre oder der Met hin: Bei letzteren handelt es sich um aufwendige Aufführungen kompletter Produktionen, hier handelt es sich um einstudierte Lesungen neuer Texte, die mit dem Script in der Hand vorgetragen werden und mit einem eher bescheidenen Budget ausgestattet sind (60.000 Pfund, etw 73.470 Euro, über die Betriebskosten hinaus – das National Theatre gibt über das Doppelte für eine Live-Übertragung aus, hat aber zugegebenermaßen auch einen viel größeren Bühnenaufbau). „Ihrer ureigensten Natur nach sind Lesungen untheatralisch, auch wenn ich diese Form sehr ehrlich finde – nur vier Leute, die in einer Reihe sitzen und Geschichten erzählen“, sagt Featherstone.

Dies könnte einer Schwierigkeit von Live-Übertragungen von Theaterstücken entgegenwirken: dass man ein normales Theaterstück auf Kinoformat aufbläst. Ich jedenfalls fand die Übertragung von Verdis Troubadour, die ich einmal in einem Sportstadion in San Francisco gesehen habe, irgendwie übertrieben. Der künstlerische Leiter von Boltons Octagon Theater zeigt sich skeptisch, räumt aber ein, dass er noch keine Live-Übertragung gesehen habe. „Für mich rührt die einzigartige Kraft des Theaters daher, dass wir alle in einem Raum zusammensitzen. Dreharbeiten erfordern eine besondere Ästhetik und völlig andere Fähigkeiten des Regisseurs.“

Das Team vom Traverse Theatre würde ihm wahrscheinlich zustimmen, nicht zuletzt in Bezug auf das Risiko, dass neue Zuschauer eher abgeschreckt als für das Theater gewonnen werden könnten. Featherstone ist zu diplomatisch um zu sagen, ob sie die Ausstrahlungen des National Theatre wirklich gelungen fand, ist sich aber der Herausforderungen sehr bewusst. „Wir wissen noch nicht wirklich, wie diese neue Form aussieht. Die Spannung ist interessant, aber nicht aufgelöst. Es ist niemals möglich, dass eine Produktion als Film genauso gut ist. Wenn das möglich wäre, sollten wir alle nach Hause gehen.“

Alle sind sich einig, dass die neue Technologie künstlerisch etwas Neues bieten muss – nicht zuletzt weil das Theaterstück in eine hybride Form überführt wird, die Live-Video, digitale Animation, Surround-Sound und vieles mehr umfasst. Vielleicht liegt ja eine Möglichkeit, die Live-Übertragungen von Theaterstücken erlebbar zu machen, darin, das Ungeschliffene und Rohe nicht als Mangel, sondern als Tugend zu begreifen, und die Spannung der Live-Aufführung ebenso zu betonen wie den Charakter des Gemeinschaftserlebnisses.

Der digitale Freitag

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Andrew Dickson | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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