Morsches Land

Labour Der Corbynismus ist beim Brexit noch nicht radikal genug, um ihn als Chance für den Systemumbau zu nutzen
Ausgabe 42/2018
Auf dem Parteitag in Liverpool wurde viel über Verstaatlichung und Lösungsansätze gesprochen
Auf dem Parteitag in Liverpool wurde viel über Verstaatlichung und Lösungsansätze gesprochen

Foto: Christopher Furlong/Getty Images

Manche Leute mögen an der Schwelle zum Brexit glauben, dass unsere Gesellschaft irgendwie auf die Zeit vor Margaret Thatcher zurückgedreht werden könnte. Aber in einer Welt, in der das Arbeitsleben akutem Wandel unterliegt und die Öffentlichkeit selbstbewusster denn je ist, gibt es kein Zurück. Auch Labour wird davon nicht verschont, wie das soeben der Parteitag in Liverpool gezeigt hat. Das Programm der alternativen, von der Momentum-Bewegung geführten Begleitkonferenz The World Transformed erinnerte unverblümt daran, dass „der Staatssozialismus der 1970er tot ist“. In die gleiche Richtung wies die Ankündigung der Partei, sie wolle sich künftig einer „Ermächtigung der Kommunen“ widmen. Schattenkanzler John McDonell sagte auf dem Kongress: Der Staat könne zwar alle Probleme lösen, doch halte er diese Auffassung inzwischen für elitär. Ihn interessiere das Potenzial von Kooperativen in den Kommunen und in der Wirtschaft.

Wie es Kulturwissenschaftler Jeremy Gilbert formuliert, bleibt Labour gespalten zwischen einer „dezentralisierten Bewegung, die gern eine demokratischere, auf mehr Kooperation aufbauende Ökonomie hätte, und einem Von-oben-nach-unten-Projekt, das an eine Rückkehr zur etatistischen Sozialdemokratie der Nachkriegszeit denkt“. Letzteres sei ein Kuscheltuch, an dem die Partei instinktiv festhalte.

In Liverpool wurde viel über Verstaatlichung gesprochen. Wenn das eine Antwort auf das unterfinanzierte britische Gesundheitssystem NHS sein sollte, schien man ein versunkenes Zeitalter zu beschwören, in dem eine Regierung nur die richtigen Schalter umlegt, und schon ist alles in Ordnung. Linke Politik war schon immer anfällig für Konservatismus, der sich bei Labour mit der Vorstellung wichtiger Leute an der Parteispitze verbindet, dass der Brexit die Bedingungen für ein wirtschaftlich unabhängiges, nostalgisch gefärbtes Utopia schafft, das wir uns als „Sozialismus in einem einzelnen Land“ vorzustellen haben.

Stattdessen sollten wir uns bewusst sein, dass der Brexit eine neue Ära einleitet und viele Briten dem Corbynismus nicht wegen seiner angeblichen Radikalität skeptisch gegenüberstehen, sondern weil er nicht radikal genug ist. Warum begreift Labour den EU-Ausstieg nicht als Zäsur, um dem morschen Zustand des britischen Staates den Kampf anzusagen? Die meisten Labour-Politiker interessieren sich erschreckend wenig für das dysfunktionale Regierungssystem in Städten und Gemeinden und verkennen den Zwang, eine neue föderale Ordnung zu etablieren. Daher sollte das Gebot der Stunde nicht Nationalisierung, sondern Dezentralisierung und Demokratisierung sein. So könnte sich Labour mit der Idee anfreunden, nutzlose Ministerien wie die für Arbeit und Renten, für Wohnraum und Gemeinden aufzulösen und deren Macht auf lokaler Ebene zu verteilen. Wie viel wäre damit gewonnen.

John Harris ist Kolumnist des Guardian

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John Harris | The Guardian

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