Womit soll man bei Raymond Kurzweil anfangen? Mit den 150 Pillen, die er täglich schluckt? Oder mit der schwindelerregenden Mischung aus Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln, die er sich spritzen lässt und deren Namen wie die Inhaltsstoffe von Gesichtscremes klingen (Koenzym Q10, Lecithin, Glutathion)? Oder damit, dass er sich gute Chancen ausrechnet, ewig zu leben – wenn er einfach nur lange genug durchhält, bis der Durchbruch bei den lebensverlängernden Technologien geschafft ist. Oder mit seiner Prophezeiung, dass Computer in spätestens fünfzehn Jahren klüger sein werden als wir. Kurzweil – der Erfinder, Futurist, Autor und Unternehmer – ist davon überzeugt, dass Computer sehr bald in der Lage sein werden, zu verstehen, was wir sagen. Dass sie aus Erfahrungen lernen, Witze machen, Geschichten erzählen und flirten können. Spätestens im Jahr 2029 werden sie alles beherrschen, was Menschen auch tun. Nur besser.
Das Beunruhigende an Kurzweils Theorien: Für gewöhnlich bewahrheiten sie sich. Er hat schon viele Dinge erfunden, die unsere Welt verändert haben: Den ersten Flachbettscanner, die erste optische Schrifterkennung, den ersten Vorleseautomaten. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit künstlicher Intelligenz und ihren Möglichkeiten. Lange Zeit galt er als eine einsame Stimme abseits des Mainstreams. Aber mit vielem, mit fast allem, hatte er Recht.
150 Vitaminpillen täglich
Jetzt ist der 66-Jährige von Google zum neuen Technikchef berufen worden. Und seit er diesen Posten innehat, ist Google auf einer beispiellosen Einkaufstour. Es sieht so aus, als wolle der Konzern das weltweit größte Labor für künstliche Intelligenz aufbauen – ein Labor mit Ressourcen, die noch niemals und niemandem in dieser Masse zur Verfügung standen: Gewaltige Datenmengen über alle Details des menschlichen Lebens. Zur Zeit kauft Google praktisch jedes Unternehmen, das sich mit maschinellem Lernen und Robotik beschäftigt. Etwa Boston Dynamics: Die Firma baut lebendig wirkende Militärroboter. Es folgte, für 3,2 Milliarden Dollar, Nest Labs, das intelligente Thermostate herstellt. Dann, für 242 Millionen, DeepMind, ein Start-up für künstliche Intelligenz.
Ich treffe Raymond Kurzweil – er wird lieber Ray gennant – in seinem neuen Zuhause. Er wohnt jetzt in einem hoch aufgeschossenen Block mit Luxusapartments im Zentrum von San Francisco. Es amüsiert ihn, dass er „zum ersten Mal im Leben einen festen Job“ hat. Dafür ist er sogar von der Ostküste weggezogen, wo seine Frau, Sonya, nach wie vor lebt.
19 Ehrendoktortitel hat er gesammelt, nicht nur Bill Gates hält ihn für ein Genie. Ich stelle allerdings schnell fest, dass er zu der Sorte von Genies gehört, die nicht in der Lage sind, sich einen Kaffee aufzubrühen: Er bietet mir einen an, eilt in die Küche, füllt den Wasserkocher, gibt einen Löffel Instantpulver in eine Tasse und gießt viel zu kaltes Wasser hinterher. Er rührt die Klumpen um, die aber keine Anstalten machen, sich aufzulösen, und verfeinert das Ganze mit einem Schuss Mandelmilch. Ich überlege kurz, etwas dazu zu sagen, bedanke mich dann aber höflich. Es ist der mit Abstand furchtbarste Kaffee, den ich je in meinen Händen hielt.
Doch dann geht es gleich um andere, um wichtige Dinge – um die Zukunft. Kurzweil sagt, einer der Schlüssel für den Erfolg neuer Produkte bestehe darin, sie im richtigen Augenblick zu erfinden. 1990 sagte er vo-raus, dass 1998 zum ersten Mal ein Computer einen Schachweltmeister matt setzen würde. 1997 schlug IBMs Deep Blue dann Garry Kasparow. Kurzweil skizzierte die Explosion des Worldwide Web schon zu einer Zeit, in der es nur von ein paar Akademikern benutzt wurde. Und er prophezeite, dass „Cyber-Chauffeure in der Lage sein werden, Autos zu fahren“ – was Google inzwischen möglich gemacht hat. Nicht jede seiner Vorhersagen ist eingetreten. Noch immer kann etwa Krebs nicht mit Genmanipulationen geheilt werden. Aber die Prognosen sind ja nicht der Kern von Kurzweils Arbeit, sondern nur ein Beiprodukt seines intensiven Nachdenkens.
Die „Singularität“ ist sein Lieblingsbegriff, seine Spezialität. Mit dem Begriff bezeichnet er, kurz gefasst, den Augenblick, in dem das Verhalten eines Computers nicht mehr von dem eines Menschen zu unterscheiden sein wird. 2029: An diesem Jahr hält er bis heute fest, dann wird „es“ passieren. Als Kurzweil das zum ersten Mal behauptete, gab es noch nicht einmal Faxgeräte, man hielt ihn für einen Fantasten. „Heute wirken meine Ansichten nicht mehr so radikal. Die Leute kennen etwa Dinge wie die iPhone-Worterkennung Siri. Ich habe meine Einschätzung über all die Jahre nicht verändert. Es ist der Rest der Welt, der seine Ansichten geändert hat.“
Mehr als eine Milliarde Menschen benutzen heute mindestens einmal täglich Google. Der sogenannte Google Knowledge Graph besteht aus gut 800 Millionen Begriffen, die wiederum milliardenfach miteinander verknüpft sind. Das ist bereits ein neurales Netzwerk – ein gewaltiges, dezentrales, globales Gehirn. So sieht es ein Technologe und Zukunftsfreak wie Kurzweil.
Mit Google-Mitbegründer Larry Page arbeitet er seit Jahren schon locker zusammen. „Wir haben laufend über künstliche Intelligenz geredet, und über das, was ich versuche. Irgendwann sagte Larry: „Mach es hier. Wir geben dir die Unabhängigkeit, die du mit deinem eigenen Unternehmen hattest, stellen dir aber Ressourcen im Google-Maßstab zur Verfügung.“ Seine Jobbeschreibung kurz und knapp, in seinen eigenen Worten: „Google ein natürliches Sprachverständnis beizubringen. Wie ich das mache, ist meine Sache.“
Die Sprache hält er für den entscheidenden Schlüssel: „Wenn man einen Zeitungsartikel schreibt, schafft man keine Sammlung interessanter Wörter, sondern man hat etwas zu sagen. Die Kernaussage eines Artikels stellt eine Information dar, die die Computer noch nicht erfassen können. Wir würden den Rechnern gerne beibringen, wirklich zu lesen. Wir wollen sie in die Lage versetzen, sich mit dem User über die Inhalte auszutauschen und dessen Fragen beantworten zu können.“ Eines der besten Beispiele für das, was Kurzweil vorschwebt, ist vielleicht der IBM-Computer Watson, der 2011 bei der US-Quizshow Jeopardy gegen seine menschliche Konkurenz gewann. „Die Fragen bei Jeopardy sind anspruchsvoll und vielseitig“, sagt Kurzweil. „Es sind auch Gleichnisse, Witze und Scherzfragen dabei. Watsons Wissen war nicht programmiert, er hat sich alles selbst angelesen. Bei Wikipedia, zum Beispiel.“
Roboter sind einfach schneller
Im Grunde versuche er nun nichts anderes, als das Watson-Experiment „im Google-Maßstab“ zu wiederholen. Und das klingt ebendso großartig wie beunruhigend: „Google wird die Antwort auf Ihre Frage kennen, bevor Sie sie gestellt haben. Es wird jede E-Mail gelesen haben, die Sie je geschrieben haben, jeden müßigen Gedanken, den Sie jemals in eine Suchmaschine eingegeben haben. Google wird Sie besser kennen als Ihr Partner. Vielleicht sogar besser als Sie sich selbst.“
Aber was, wenn die Rechner sich eines Tages selbst Anweisungen geben? Sie könnten die Herrschaft über den Rest des Universums an sich reißen!
Es gibt Experten, die genau solche Befürchtungen hegen. Etwa Dan Barry, ein Mitarbeiter des Instituts für Robotik an der Singularity University, einem Forschungsinstitut, das Kurzweil mitgegründet hat und das von Google finanziert wird. Dort sah ich erstmals die verblüffend intelligent wirkenden Roboter von Boston Dynamics, der Firma, in die Google sich gerade eingekauft hat. Dan Barry, der Robotik-Experte, war bei der Präsentation der Kampfmaschinen dabei – und sagte mir: „Es wird den Punkt geben, an dem die Menschen nicht mehr schnell genug sind. Also wird man die Roboter autonom agieren lassen. Und wohin soll das führen? Zum Terminator?“
Kurzweil aber vertraut dem technischen Fortschritt. Nein, er habe keine Angst, von einer neuen „Herrenrasse“ befreiter Smartphones unterworfen zu werden, sagt er. So wie wir unsere Fähigkeit, uns Telefonnummern zu merken, in unsere Telefone ausgelagert hätten, so würden wir uns eines Tages auch mit den Nanotechnologien anfreunden, die unser Blut verdünnen und unsere Gehirnzellen antreiben. Seine gedankenlesende Suchmaschine stellt er sich als „kybernetischen Freund“ vor.
Zeugnisse seiner Leidenschaft schmücken die Wände seines Apartments. Da ist zum Beispiel das Bild einer Fernsehshow, an der er mit 17 teilnahm. Er hatte einen Computer so programmiert, dass dieser ernst zu nehmende Musik komponieren konnte. Daneben hängen Bilder, die von einem Computer gemalt wurden, selbsttätig, ohne menschlichen Einfluss. Es finden sich aber auch Notizbücher überall. Sie geben Auskunft über die Schicksale von Familienmitgliedern. Etliche von Kurzweils Verwandten konnten sich im letzten Moment vor den Nazis in Sicherheit bringen.
Ja: In einem strahlend hellen Apartment wohnt der Mann, große Glasfenster, modernste Inneneinrichtung – und es ist voll mit Dingen und Erinnerungen, die keine Maschine je verstehen wird. Seine Verwandten seien dem Holocaust entkommen, weil sie „ihren Verstand benutzt haben“, sagt Kurzweil. „Das ist die Macht der menschlichen Vorstellungskraft. Ich erinnere mich, wie mein Großvater einmal von einem Besuch in Europa zurückkam. Ich war sieben, und er erzählte mir, dass er Originaldokumente von Leonardo da Vinci in den Händen gehalten habe. Er sprach von ihnen, als handle es sich um heilige Schriften.“ Und er setzt hinzu: „Die menschliche Vorstellungskraft hat die Welt verändert. Nichts anderes vermag das.“
Mit menschlicher Vorstellungskraft will er auch den Tod besiegen. „Die meisten Menschen akzeptieren den Lauf des Lebens. Aber mit den Fortschritten in der Medizin und der Informationstechnologie stehen wir vor großen Veränderungen. Es gibt eine Trendwende in Sachen Lebensdauer.“ Eine seiner fixen Ideen: Tote könnten eines Tages als Avatare wiederauferstehen.
In solchen Augenblicken unseres Gesprächs hat sein Blick etwas Verrücktes. Etwas von der unerschütterlichen Gewissheit eines fundamentalistischen Priesters. Das Magazin Newsweek zitierte einmal einen seiner Kollegen anonym mit den Worten: „Ray durchlebt die öffentlichste Midlife-Crisis, die je ein Mann durchlebt hat.“
Kurzweils Sendungsbewusstsein geht so weit, dass er für eine Reihe von Nahrungsergänzungsmitteln wirbt. Vielleicht liegt das daran, dass sein Vater viel zu früh, mit nur 22 Jahren, an einem Herzinfarkt starb. Oder dass bei ihm selbst Diabetes festgestellt wurde, als er gerade 35 Jahre alt war. Womöglich fällt es ihm einfach schwer zu akzeptieren, dass wir alle älter werden – und eines Tages eben sterben müssen? Kurzweil sagt: „Seit Tausenden von Jahren versuchen wir, den Tod, eine sehr schlechte Sache, in etwas Gutes umzubiegen. Das ist das Hauptziel jeder Religion. Aber der Tod ist und bleibt eine Tragödie. Wovon ich spreche, worum es mir im Grunde geht, das ist eine radikale Lebensverlängerung.“
Entwürfe für das Übermorgen: Woran Google arbeitet
Der Trend zum Zweit-Hirn
Das große Hauptprojekt heißt Google Brain. Sein Ziel ist, mit einer Maschine aus 16.000 Computerkernen die Neuronenverbindungen des menschlichen Gehirns zu imitieren. Das Ergebnis könnte ein lernfähiger Computer sein, der in einer menschlichen Logik denkt und, wer weiß, eines Tages vielleicht auch fühlt.
Keine Funklöcher mehr
Noch immer gibt es Menschen, die sich vom Internet fernhalten, teils, weils sie keine Lust darauf haben, teils weil ihnen der technische Zugang fehlt. Mit dem Projekt Google Loon soll sich das ändern. Geplant sind Stratosphärenballons, die in 20 Kilometern Höhe über der Erde schweben.Mit diesen Hotspots der Lüfte sollen auch die ent-legensten Winkel mit einem Webzugang versorgt werden.
Für immer jung
Das von Google gegründete Biotech-Unternehmen Calico erforscht, wie der menschliche Alterungsprozess verlangsamt und wie Krankheiten bekämpft werden können. Das Projekt ist noch im Anfangsstadium. Bislang vergleicht das Unternehmen die Daten umfangreicher medizinischer Studien und versucht, neue Zusammenhänge zu finden.
Erleichterung für Diabetiker
In den Forschungslaboren von Google wird derzeit ein Chip entwickelt, der in einer Kontaktlinse sitzt und konstant den Blutzuckergehalt in der Tränenflüssigkeit misst. Die Ergebnisse sollen an das Smartphone gesendet und dort analysiert werden.
Die Welt am Handgelenk
Google hat Patente für eine Smartwatch angemeldet. Das wäre nach den Google Glasses der nächste Schritt zur voll vernetzten Kleidung. TOT
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