Forschung Die Erfahrungen mit mRNA-basierten Impfstoffen gegen das Corona-Virus helfen Wissenschaftlern dabei, ähnliche Impfstoffe gegen Melanome und andere Tumore zu entwickeln
mRNA-Impfungen könnten als Therapie eingesetzt werden, nicht als Prävention
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Im Dezember 2022 veröffentlichte die US-amerikanische Biotech-Firma Moderna, ein Unternehmen, das aus relativer Unbekanntheit während der Pandemie zur Berümtheit wurde, die Ergebnisse einer klinischen Studie, die die Welt der Krebsforschung in Aufruhr versetzte. Die Studie entstand in Zusammenarbeit mit dem Pharmaunternehmen MSD und untersuchte die Wirkung eines mRNA-Krebsimpfstoffs in Kombination mit Immuntherapie auf Patient:innen mit einem fortgeschrittenen Melanom, deren Tumor operativ entfernt wurde. Nach einjähriger Behandlung war laut der Phase-IIb-Studie das Risiko, erneut an Krebs zu erkranken oder zu sterben um 44 Prozent reduziert.
Heute ist mRNA zu einem Synonym für die von Moderna, Pfizer und BioNTech entwickelten Corona-Impfstoffe geworden. Aber davor
ber davor war lange Zeit die Krebstherapie das eigentliche Ziel der Technologie. Seit kurzem arbeitet der britische öffentliche Gesundheitsversorger National Health Service (NHS) daher mit BioNTech zusammen, um in den kommenden sieben Jahren die Entwicklung von mRNA-Krebsimpfstoffen zu beschleunigen. Im Rahmen der wegweisenden Partnerschaft werden ab Herbst 2023 geeignete Krebspatient:innen in Großbritannien frühzeitig an klinischen Studien teilnehmen können. Im Jahr 2030, so die Hoffnung, könnten rund 10.000 Krebskranke von der innovativen Behandlungsmethode profitieren.Diese Entwicklung ist bemerkenswert. Noch vor gar nicht langer Zeit wurden die Gründer von BioNTech – das Unternehmerehepaar Uğur Şahin und Özlem Türeci – von Onkolog:innen mit Argwohn betrachtet. Die Technologie, an der sie arbeiteten, wurde als unplausibel und unpraktisch abgetan. „Ich erinnere mich noch daran, wie ich 2012 erstmals öffentlich über unseren Ansatz sprach. Als ich fertig war, gab es keine Fragen“, erzählte Şahin mit einem Lachen. „Dann kam eine Führungskraft eines Pharmaunternehmens zu mir und sagte: ,Sehr interessant, aber das funktioniert nie. Und wenn es funktioniert, dann wird es niemals finanzierbar sein.’”Vom Außenseiter zur wissenschaftlichen BerümtheitDann kam Covid-19. Plötzlich wurde mRNA zu Impfstoffen gegen den Sars-CoV-2-Virus umfunktioniert, die seither Milliarden Menschen auf der ganzen Welt erhalten haben. Şahin und Türeci wurden über Nacht zu wissenschaftlichen Stars, die von der New York Times porträtiert wurden und generell eine Medienaufmerksamkeit erfuhren, von der die meisten Unternehmer träumen.„Für uns war es ein langer Weg“, sagt Şahin. „Vor zwanzig Jahren fragten mich die Leute: ,Warum beschäftigen Sie sich überhaupt mit mRNA?‘ Damals war es das hässliche Entlein. 2020 wurde es zum schönen Schwan.“Dabei unterscheiden sich mRNA-Krebsimpfstoffe grundlegend von herkömmlichen Impfstoffen, wie sie etwa gegen Covid-19 eingesetzt werden, oder von HPV-Impfstoffen, die vor Gebärmutterhalskrebs schützen sollen. Der Fokus liegt nicht auf Prävention. Stattdessen handelt es sich um personalisierte Medikamente, die das Immunsystem des Patienten darin trainieren, wie es am besten gegen seinen individuellen Krebs ankämpfen kann. Weil hierbei der Zeitfaktor zentral ist, müssen sie innerhalb von Wochen produziert werden und individuell auf die einzigartige Kombination von DNA-Mutationen zugeschnitten sein, die die Krankheit des Patienten oder der Patientin antreiben.Moderna und MSD planen eine Phase-III-Studie für fortgeschrittene Melanome im Jahr 2023, während BioNTech die Ergebnisse seiner eigenen Melanom-Studie voraussichtlich noch in diesem Jahr veröffentlichen wird. Zusammen genommen haben Moderna, BioNTech und CureVac – der dritte Player auf dem Gebiet – Krebsarten wie Eierstockkrebs, Kopf- und Halskrebs, Darmkrebs, Lungenkrebs und sogar Bauchspeicheldrüsenkrebs im Visier.Die richtigen Ziele identifizierenLangfristig sieht Şahin zwei Haupteinsatzgebiete für mRNA-Krebsimpfstoffe. Zum einen könnten der kombinierte Einsatz mit CAR-T-Zell- oder anderen Zelltherapien große, schnell wachsende Tumore zum Schrumpfen bringen und so das Leben von Patient:innen im fortgeschrittenen Stadium verlängern, die innerhalb weniger Monate zu sterben drohen. Das zweite Einsatzgebiet ist in Fällen, in denen kürzlich ein Tumor operativ entfernt wurde. Hier ist das Ziel, zu verhindern, dass der Krebs zurückkehrt und metastasiert.„Bei Darmkrebs beispielsweise erleiden etwa 30 bis 40 Prozent der Patient:innen in den ersten drei Jahren nach der Operation einen Rückfall“, sagte er. „Mit einem Test auf zirkulierende Tumor-DNA lässt sich herausfinden, ob nach der Operation noch Krebszellen vorhanden sind. Wenn das der Fall ist, erhalten Patienten den Impfstoff.“ Trotz reichlich Optimismus in Bezug auf das zukünftige Potenzial der Impfstoffe, sind aber noch einige große Probleme zu lösen.Um einen Krebsimpfstoff zu entwickeln, müssen Proben vom Tumor und gesundem Gewebe genommen werden. DNA und RNA werden sequenziert. Dann wird verglichen, wie sich diese Sequenzen bei den Krebszellen und gesunden Zellen unterscheiden. Ziel ist, problematische Mutationen zu identifizieren, die als Antigene oder Impfstoffziele verwendet werden können. Da beginnen die Schwierigkeiten: Wie identifiziert man die relevantesten Mutationen, die wirklich den Krebs antreiben? Das ist erfahrungsgemäß einfacher gesagt als getan.„Die Genomik in der Tumorzelle ist chaotisch“, erklärt Professor Alan Melcher vom Institute of Cancer Research. „Es gibt Teile, die sich in Eiweiß verwandeln, die sich nicht in Eiweiß verwandeln sollten, und es gibt andere Stellen, an denen große DNA-Stücke entweder einfach herausfallen oder eingefügt oder umgedreht werden. Bisher wissen wir noch nicht, wie man die Antigene bestimmt, die von Bedeutung sind.“Individualisierbare Krebsimpfstoffe schaffenMit dieser Unklarheit erklären sich Wissenschaftler:innen einen Teil der Abweichungen, die in klinischen Studien beobachtet wird: Einigen Patient:innen bringen die Impfstoffe eine deutliche Verbesserung, während andere weniger gut darauf ansprechen. Laut Norbert Pardi, Assistenzprofessor an der Universität von Pennsylvania, gibt es Studien, nach denen ein Impfstoff das Immunsystem des/der Patient:in stimulierte, aber nur wenig Wirkung auf den Tumor hatte. „Ich glaube, das ist die wichtigste Hürde, die wir nehmen müssen“, erklärte er. „Wieso sehen wir nicht immer eine Verbesserung bei den Patient:innen, selbst wenn eine stabile Immunreaktion da ist?“Wenn BioNTech und Moderna die Tumorzellen eines Patienten und gesunde Zellen vergleichen, tun sie das durch eine Sequenzierung des kleinen Teils des Genoms, der mit der Proteinproduktion zusammenhängt. Das ist schneller und preisgünstiger als das gesamte Genom zu untersuchen. Zudem geht die Forschung davon aus, dass identifizierte Tumor-Proteine für das Immunsystem relativ leichte Ziele darstellen.Die Kosten für Genomsequenzierung sinken jedoch stark: Im vergangenen Jahr wurde das erste 100-US-Dollar-Genom bekannt gegeben. Damit wird es rentabler, das gesamte Genom zu sequenzieren. CureVac leistet in dieser Richtung Pionierarbeit. Das Ziel ist, subtilere und verstecktere Ziele zu identifizieren, die damit in Zusammenhang stehen, dass die Fehlfunktion der genetischen Veranlagung des Körpers dem Tumor ermöglicht, zu wuchern.„Das Tumorgenom ist voll von so genannten strukturellen Variationen“, sagt Ronald Plasterk, Senior-Vizepräsident für Wissenschaft und Innovation bei CureVac Niederlande. „Durschnittlich gibt es bei Lungenkrebs etwa 100 bis 200 dieser strukturellen Variationen. Bei den bisherigen Untersuchungen wurden sie vollkommen außer Acht gelassen, weil man das gesamte Genom sequenzieren muss, um sie herauszufiltern.“Kann sich die öffentliche Gesundheitsversorgung die Impfstoffe leisten?Während die Wissenschaft noch damit beschäftigt ist, wie man Krebsimpfstoffe gegen Tumore am besten optimiert, könnte es nicht mehr lange dauern, bis der erste mRNA-Krebsimpfstoff auf den Markt kommt. Moderna und MSD wollen in diesem Jahr eine deutlich größere Phase-III-Studie an Patient:innen mit fortgeschrittenem Melanom durchführen. Wenn diese erfolgreich verläuft, könnten die Unternehmen in den kommenden Jahren die Zulassung beantragen.Die Frage ist dann, ob der NHS sich den Impfstoff leisten kann.Personalisierte Medizin wie Krebs-Impfstoffe sind von Natur aus extrem teuer, da sie komplexe, maßgeschneiderte Produkte sind. Experten schätzen die Partnerschaft Großbritanniens mit BioNTech als vielversprechend ein. Aber es erfordert weiter viel Arbeit für die Feststellung, ob die Kosten für den NHS gerechtfertigt werden können, sollten die Impfstoffe sich in den Studien beweisen.Der Krebsforscher Christopher Scott von der Queen's University Belfast verweist auf die aktuelle Krise in diesem Winter, die zeige, wie schwer es für das NHS-Personal ist, den derzeitigen Pflegestandard zu gewährleisten, ganz zu schweigen von maßgeschneiderten Behandlungen. „Ich bezweifle weiter, dass ein vollständig personalisierter Impfstoffansatz in unserem Gesundheitssystem umgesetzt werden kann“, erklärte Scott. „Wegen der Corona-Impfstoffe gibt es jetzt Herstellungswege, die zugelassen sind. Das ist großartig. Aber es bleibt weiterhin eine teure Technologie.“Melcher ist optimistischer, zieht aber Parallelen zu anderer relativ neuer Krebsmedizin wie CAR-T-Zelltherapie, die im NHS verfügbar ist, aber nur für eine sehr beschränkte Gruppe von Kranken. Bei CAR-T-Zelltherapien wie Tisagenlecleucel – die rund 315.000 Euro pro Patienten kosten – werden T-Zellen aus dem Blut entnommen, verändert und dann wieder in den Blutkreislauf eingeführt. Seit 2018 bietet der NHS Tisagenlecleucel an, allerdings nur für junge Leute unter 25 Jahre mit akuter lymphoblastischer B-Zellen-Leukämie, weil sie erfahrungsgemäß am besten auf die Therapie ansprechen.Dabei tun die mRNA-Krebsimpfstoff produzierenden Unternehmen nach eigenen Angaben einiges, um den Herstellungsvorgang für individualisierte Impfstoffe so günstig wie möglich zu machen. CureVac etwa hat ein Abkommen mit Tesla getroffen. Der Elektroauto-Hersteller soll kleine, tragbare mRNA-Biodrucker produzieren, die dazu genutzt werden könnten, die Herstellung der mRNA für einen individuellen Impfstoff zu automatisieren.2030 könnte die Behandlung Routine seinŞahin gibt zu, dass derzeit die Kosten relativ hoch sind. Er ist aber überzeugt, dass sie gedrückt werden können, sobald die Impfstoffe für eine große Zahl an Patient:innen hergestellt werden. „Wenn man personalisierte Impfstoffe für tausend Kranke im Jahr produziert, ist das eine völlig andere Rechnung als bei einer Produktion für jährlich 10.000 oder 100.000 Patient:innen“, erklärte er.Eine Alternative, die derzeit untersucht wird, ist ein mRNA-Krebsimpfstoff, der mehr „von der Stange“ ist. Personalisierte Impfstoffe sind für sehr aggressive, sich schnell entwickelnde Krebsformen gut, bei denen es zentral ist, eine sehr spezifische Momentaufnahme der betroffenen DNA-Mutationen zu erreichen. Andere Krebsarten dagegen wachsen langsamer. In diesen Fällen könnte eine Kombination aus Standardantigenen, die bei einer großen Zahl von Patient:innen am Krankheitsprozess beteiligt sind, genutzt werden. Das würde es vereinfachen, den Impfstoff in großen Mengen anzubieten.Zu mRNA-Krebsimpfstoffen sind noch viele Fragen offen. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, gegen welche Krebsarten sie am wirksamsten sind. Eierstock- und Bauchspeicheldrüsenkrebs sind laut Melcher wegen der Beschaffenheit der Tumore eine weitaus größere Herausforderung als ein Krebsimpfstoff gegen Melanome. Dennoch geht er davon aus, dass derartige Impfstoffe eine Hoffnung für viele Menschen darstellen, die an fortgeschrittenen Formen dieser Krankheiten leiden.Şahin ist zuversichtlich, dass am Ende dieses Jahrzehnts viele mRNA-Krebsimpfstoffe routinemäßig für Krebskranke verfügbar sein werden.„Bis 2030 wird das in noch größerem Umfang der Fall sein“, sind er und seine Kolleg:innen überzeugt. „Der Covid-19-Impfstoff und unsere Expertise bei seiner Entwicklung hat unsere Arbeit in der Krebsmedizin vorangebracht. Wir können jetzt Impfstoffe besser und schneller herstellen. Wir wissen auch, wie bei einer großen Gruppe von Menschen das Immunsystem auf mRNA reagiert. Und nicht nur wir haben viel über mRNA-Impfstoffe gelernt, sondern auch die für die Zulassung Verantwortlichen. Das alles wird zur Beschleunigung der Entwicklung von mRNA-basierten Krebsimpfstoffen beitragen.”