Mubaraks Lebensversicherung

Ägypten Auch wenn die Wahlen manipuliert wurden, müssen sich die Oppositionsparteien vorwerfen lassen, nicht den Schulterschluss mit dem Widerstand von unten gesucht zu haben

Das Ergebnis der jüngsten Parlamentswahlen in Ägypten verspricht der institutionellen Opposition des Landes fünf Jahre der politischen Bedeutungslosigkeit. Mit lediglich 16 von insgesamt 504 Sitzen errang sie das schlechteste Resultat seit 1990. Entscheidend für dieses Enttäuschung war aber die Kombination aus systematischem Wahlbetrug und gewaltsamer Niederschlagung von Protesten, um die Herrschaft der regierenden Nationaldemokratischen Partei von Präsident Mubarak abzusichern. Ganz kann dies die Niederlage der institutionellen Opposition in Gestalt der etablierten Parteien freilich nicht erklären.

El Baradei im Fokus

Oft hört man, die ägyptische Gesellschaft sei so lebendig und dynamisch wie immer. Wenn man aber von dieser Dynamik verbunden mit dem Wunsch nach gesellschaftlichem Wandel spricht, scheinen aus- und inländische Beobachter oft von verschiedenen Dingen zu reden. Während die Aufmerksamkeit der Beobachter von draußen fast vollständig durch die Rückkehr von Ex-IAEO-Generaldirektor Mohammed El Baradei und die wachsenden Macht der Neuen Medien absorbiert wird, sind innerhalb Ägyptens die Streikwellen und Proteste in den urbanen Zentren, den Industriestädten des Nildeltas wie auch in der Provinz beherrschende Themen.
Die unterschiedliche Wahrnehmung korrespondiert mit der Tatsache, dass die ägyptische Gesellschaft immer noch von zwei tiefen, äußerst zählebigen traditionellen Gräben durchzogen wird: Der erste trennt die Ober- von den unteren Schichten – der zweite verläuft zwischen Land- und Stadtbevölkerung. Der vierfache Bezugsrahmen, der daraus resultiert, erklärt nicht nur die Wahrnehmungsunterschiede zwischen in- und ausländischen Analysten, sie lässt auch begreifen, wie sehr die mangelnde Zusammenarbeit und fehlende Verbindung zwischen der institutionalisierten Opposition etablierter Parteien und der Gewerkschaftsbewegung die Aussichten auf einen Wandel in Ägypten schmälert.

Was die Aufmerksamkeit des Auslandes erregte, betraf durchweg den in den Städten lebenden wohlhabenden Teil der ägyptischen Gesellschaft. Es ist kein Geheimnis, dass der Großteil von El Baradeis Unterstützern zur gut situierten und ausgebildeten städtischen Bourgeoisie gehört. Demzufolge besteht eine seiner größten Schwächen darin, als elitär wahrgenommen zu werden.

Große digitale Kluft

Und was die mutmaßliche Durchdringung der ägyptischen Gesellschaft durch die Neuen Medien und somit die reale Macht der Blogosphäre angeht, so zeigt bereits ein kurzer Blick auf den ICT-Entwicklungsbericht der UN-Telekommunikationsbehörde, dass die Verbreitung von Internetanschlüssen zuletzt zwar dramatisch zugenommen hat, die digitale Kluft zwischen Stadt und Land aber bei weitem noch nicht geschlossen ist. Im nicht urbanen Raum hatten 2008 gerade einmal drei Prozent der Haushalte Zugang zum Internet, was viel über das Profil der etwa 160.000 ägyptischen Blogger aussagt. Auch sie zählen zu den wohlhabenden, gut ausgebildeten Stadtbewohnern, die das Privileg eines Internetzugangs auskosten, wie es der Mehrheit nach wie vor versagt bleibt.

Auch die in Form politischer Parteien etablierte Opposition ist tief in diesem Milieu verwurzelt und gefangen: Die linke Tagammu- und die liberale Al-Ghad-Partei rekrutieren ihre Wähler vornehmlich in den städtischen, die Wadf-Partei – sie vertritt traditionell die Großagrarier – reflektiert die begüterten ländlichen Schichten.
Auch die Muslim-Bruderschaft ist trotz eines großen Mobilisierungspotenzials immer noch überwiegend eine konservative Bewegung der oberen Mittelklasse, deren Wurzeln bei wohlhabenden Facharbeitern und Akademikern in den Großstädten liegen. Da sie aus diesen Milieus kommen und weitgehend auch heute noch an sie gebunden sind, waren die Oppositionsparteien nicht in der Lage, die Bedeutung der zwei wichtigsten Bewegungen zu verstehen, die sich in der unteren Sphäre der Gesellschaft gebildet haben – geschweige denn, sie zu repräsentieren.

Das "Gesetz 96"

Einerseits hat die Bewegung für die Rechte der Lohnabhängigen seit den ersten Streiks in der Textilindustrie in Mahalla al Kubra im Jahr 2007 bedeutende Konzessionen von der Regierung erwirkt, an Fahrt aufgenommen und sich auf andere Sektoren des verarbeitenden Gewerbes ausgeweitet. Auf der anderen Seite ist auf dem Land nach der Umsetzung des "Gesetzes 96" von 1992 – das auch als „Gesetz zur Vertreibung der Bauern von ihrem Land“ bekannt ist und bis heute zur Vertreibung von über einer Millionen Bauern geführt hat – trotz permanenter Repressionen eine Bewegung der Landarbeiter entstanden.

Durch ihr Unvermögen, diese Entwicklungen und die ihnen zugrund liegenden Missstände ernst zu nehmen, hat sich die etablierte Opposition zur parlamentarischen Nullnummer verurteilt und verhindert, dass die sozioökonomischen Bedürfnisse der Industrie- und Landarbeiter parteipolitisch aufgegriffen und artikuliert werden. Es wird nicht begriffen, wie wichtig die Einbeziehung dieser Bewegungen wäre, sollte je das Regime Mubaraks ernsthaft herausgefordert werden. Es ist daher nicht so sehr die Kluft zwischen der religiösen und der säkularen Opposition, sondern vielmehr die zwischen der etablierten Opposition der Mittel- und Oberschicht und der Gewerkschaftsbewegung der Industrie- und Landarbeiter, die dem ägyptischen Autoritarismus immer wieder Leben einhaucht.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Roberto Roccu | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden