Modebewußte Rollstuhlfahrerinnen wie ich hatten lange Zeit ein großes Problem: Kleidung, die speziell für Menschen mit Behinderung entworfen wurde, war einfach enttäuschend unelegant. Namhafte Designer wie Tommy Hilfiger oder die in Toronto ansässige Designerin Izzy Camilleri, die schon für David Bowie, Angelina Jolie und Meryl Streep gearbeitet hat, könnten das jetzt mit besonderen Kollektionen ändern.
Nachdem Camilleri in den frühen 2000er Jahren Maßanfertigungen für eine Tetraplegikerin – also eine Querschnittsgelähmte, bei der sowohl Beine als auch Arme betroffen sind – geschneidert hatte , wurde ihr klar, dass Frauen, die im Rollstuhl sitzen, normale Kleidungsstücke nicht ohne Weiteres tragen können. Eine „normale Taille“ bedeutete beispielsweise, dass viele Hosen, die für Menschen ohne Behinderung entworfen wurden, bei Camilleris Kundinnen herunterrutschten oder drückten.
Damals gab es kaum Kleidung, bei deren Herstellung auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung Rücksicht genommen wurde. Und die, die es gab, war nicht für modebewusste junge Erwachsene gemacht. „Die meisten Sachen sahen aus wie für ältere Leute in Pflegeeinrichtungen“, sagt Camilleri. „Mir wurde klar, dass es nichts für jüngere Menschen gibt – und ich hatte Lust, diese Lücke zu füllen.“
Camilleri entwickelte eine solche Leidenschaft für das Thema, dass sie 2009 die IZ-Kollektion herausbrachte. Das kam einer Revolution gleich, denn es war eine der ersten Modelinien, die speziell für Menschen im Rollstuhl entworfen wurden. Die Hosen rutschen und drücken nicht mehr. Die Mäntel waren so geschnitten, dass man sie auch im Sitzen gut anziehen kann; sie bedecken vorne die Oberschenkel, reichen hinten aber nur bis zur Sitzfläche, damit sie sich nicht aufbauschen.
Eine Nische sieht anders aus
Camilleris neue Kollektion, IZ Adaptive, geht über die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern hinaus und soll Menschen mit verschiedenen Behinderungen gerecht werden. Die Hosen haben jetzt horizontale Zuglaschen, die Bünde sind elastisch und machen damit Reißverschlüsse überflüssig. Die Mäntel haben Magnetverschlüsse und die Reißverschlüsse haben Laschen, damit man sie leicht auf- und zuziehen kann. Anstatt nur über Camilleris Webseite, wie ihre vorherigen Kollektionen, wird man IZ Adaptive auch über den weltweit agierenden Online-Versandhandel Zappos beziehen können. Die 55-teilige Kollektion ist zu einem „erschwinglicheren Preis“ erhältlich als ihr bisheriges Sortiment – von 25 Dollar (umgerechnet etwa 30 €) für ein T-Shirt bis zu 425 Dollar (etwa 500 €) für eine Herrenjacke.
Camilleri reagiert damit auf ein weitverbreitetes Problem: Ich selbst liebe Mode, seit ich ein Teenager war, aber mir wurde schnell klar, dass sich das nicht besonders gut damit verträgt, Rollstuhlfahrerin zu sein. Im Laufe der Jahre habe ich ein Vermögen dafür ausgegeben, Röcke und Kleider ändern zu lassen, die zu lang oder zu kurz waren. Ich kann auch keine Standardjeans kaufen, weil mich der Reißverschluss und die Knöpfe drücken. Im letzten staatlichen Prüfbericht aus dem Jahr 2014 heißt es, es sei „schockierend“, wie schlecht es um die Barrierefreiheit in britischen Modegeschäften bestellt sei – über dieses Problem wird aber wenigstens gesprochen, während der Zugang zu Kleidung kaum erwähnt wird.
Stephanie Thomas, die in Los Angeles als Beraterin arbeitet und das Mode- und Lifestyle-Blog über Menschen mit Behinderung, Cur8able.com, betreibt, ist sich dieses Widerspruchs bewusst. „In den USA haben wir den ,Americans with Disabilities Act‘, ein Gesetz, das zwar dafür sorgt, dass wir wirklich wunderschöne barrierefreie Umkleidekabinen haben …, es gibt aber kein einziges Kleidungsstück für Menschen, die im Rollstuhl sitzen. Jedes Mal, wenn ich einen Laden betrete, kann man mich vor mich hin murmeln hören: ,Rampen? Kabinen? Aber keine Kleider?‘ “
Doch auch die Mainstreammarken ziehen langsam nach. Im April stellte Tommy Hilfiger seine zweite vollständige Kollektion für Menschen mit Behinderung vor, die auf eine Produktlinie für Kinder mit Behinderung im Jahr 2016 und eine erweitere Kollektion für Erwachsene im Jahr 2017 folgte. Die Kollektion für 2018 mit Komplementärfarben, Streifen und der charakteristischen Farbpalette aus Rot, Weiß und Blau wird von Models wie dem Goldmedaillengewinner bei den Paralympischen Spielen, Jeremy Campbell, beworben, der eine Beinprothese trägt. Oder von der Tänzerin und Rollstuhlfahrerin Chelsie Hill.
Auch hier gibt es Magnetknöpfe, die Weite der Hosenbeine lässt sich verändern, leicht zu öffnende Halsausschnitte, verstellbare Hosenbünde und Reißverschlüsse, die man mit einer Hand auf- und zuziehen kann. Die Kollektion, die in den USA bereits erhältlich ist, wird 2019 im Vereinigten Königreich in den Verkauf gehen. „Die Mission besteht darin, inklusiv zu sein“, so ein Unternehmenssprecher.
Es handelt sich dabei in vielerlei Hinsicht um eine naheliegende Entwicklung für eine Branche, die immer auf der Suche nach Neuem ist. Heute findet man in jedem beliebigen Klamottenladen Textilien für bestimmte Gruppen wie Schwangere oder Menschen mit Über- oder Untergrößen. Warum also nicht auch für Menschen mit Behinderung? Ein solcher Schritt wäre kein Akt der Wohltätigkeit, sondern würde sich durchaus rechnen. Schließlich sind Kunden mit Behinderung alles andere als ein Nischenmarkt: In England und Wales hat fast jeder Fünfte eine Behinderung, in den USA sind die Zahlen ähnlich, und Menschen mit Behinderung stellen den Vereinten Nationen zufolge weltweit die am schnellsten wachsende Minderheit dar. Ihre Kaufkraft wird allein in Großbritannien auf 249 Milliarden Pfund geschätzt.
Stephanie Thomas sieht darin einen der Anreize für Unternehmen, sich um ein besseres Verständnis für ihre Kunden mit Behinderung zu bemühen. „Jeder möchte seine oder ihre Lieblingsmarke tragen und nicht etwas, was suggeriert: ‚Ich bin im negativen Sinne völlig anders als du.‘ “
Schluss mit beige und hässlich
Der Prozess, der gerade in Gang kommt, ist längst überfällig. Thomas, der von Geburt an Gliedmaßen fehlen, brachte es 2016 in einem TEDx-Talk auf den Punkt: „In den Geschäften gibt es mehr Kleidung für Hunde als für Menschen mit Behinderung.“
Der Markt ist von unabhängigen Kleinunternehmen geprägt: Chairmelotte aus den Niederlanden bietet eine Rollstuhl-Couture an, während das US-Unternehmen Abl Denim Jeans für Rollstuhlfahrer vertreibt, die aus besonders leichtem Stoff bestehen und hohe Taillen haben, damit sie nicht herunterrutschen. Die Entwicklung ist in einzelnen Ländern unterschiedlich weit gediehen: Während Nordamerika und einige europäische Länder Fortschritte machen, hinkt Großbritannien anscheinend hinterher.
Emma McClelland aus Manchester hofft, das zu ändern. Im Dezember kündigte die 30-Jährige ihren Job in einer Anwaltskanzlei, um Kintsugi Clothing zu präsentieren, eine Modelinie, die den Anspruch erhebt, „modisch, zugänglich und inklusiv“ zu sein. Für McClelland ist das eine Herzenssache – sie finanziert das Projekt und die Entwicklung des Sortiments mit ihren Ersparnissen, ihrer Arbeit als Selbstständige und dem Erlös aus dem Verkauf ihres Hauses. Thomas’ TEDx-Rede hatte sie inspiriert: Sie sah sich auf dem Markt um und „war überrascht, dass die Sachen überwiegend beige, langweilig und hässlich sind“, sagt sie. „Je mehr ich darüber lese, desto klarer wird mir, wie Menschen mit Beeinträchtigungen an den Rand gedrängt werden, selbst von so simplen Dingen wie Mode.“
Sie verweist auf die Sortimente für Menschen mit Behinderung, die es in Großbritannien gibt und die eher auf ältere Menschen und Pflegerinnen abzielen als auf junge Erwachsene und modebewusste ältere Kundinnen. Nachdem sie Kleidungsstücke zusammen mit Therapeuten für Arbeitsgesundheit und Mitgliedern ihrer lokalen Para-Sport-Mannschaften genauer in Augenschein genommen hat, arbeitet McClelland jetzt mit einem Hersteller zusammen an der Entwicklung von Musterstücken, die Menschen mit Behinderung im Gebrauch testen sollen. Zum Sortiment wird ein Hemd gehören, das sich mit Magnetknöpfen und Klettverschlüssen schließen lässt, zweiteilige Kleider und Overalls für Rollstuhlfahrerinnen, außerdem Röcke mit versteckten Taschen für Katheterbeutel und Gürtel für Stomabeutel.
„Vogue“ hat’s echt nicht gerafft
Dass Kleidung, die sich den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung anpasst, langsam zu einem rentablen Markt wird, sagt viel über das sich verändernde Verhältnis der Mode zu Behinderungen aus: Die Branche überwindet die Vorstellung, dass Behinderungen für sie kein Thema seien und es sich hier um den einzigen Bereich von Diversität halte, den man noch immer außen vor lassen könne. So dachte allerdings noch die Zeitschrift Vogue, die auf ihrem Mai-Cover vorgab, Diversität in ihrer ganzen Breite zu feiern. Eine Frau mit Behinderung sucht man hier vergebens.
Solche Arroganz hat damit zu tun, dass Menschen mit Behinderung – die in der Vergangenheit oft als „hässliche Freaks“ oder als „asexuell“ diskriminiert und häufig sogar in geschlossene Einrichtungen gesteckt wurden – immer noch nicht in ausreichendem Maß in die Gesellschaft integriert worden sind. Aber seit Kurzem tut sich etwas, sagt Thomas. Die Modeindustrie holt langsam auf. „Man kann nicht für jemanden arbeiten, den man nicht wertschätzt, und man kann Leute nicht schätzen, die man nicht sieht“, sagt Thomas. „Wir müssen die Aufmerksamkeit, die wir Behinderungen schenken, verstärken.“
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