Mythos vom Monster

Gewalt Seine Frau wurde von einem Fremden vergewaltigt und ermordet. Heute weiß unser Autor, dass die Gesellschaft nicht unschuldig daran ist
Ausgabe 20/2014
Die meisten Täter sind ganz normale Typen, mit denen wir zusammenleben
Die meisten Täter sind ganz normale Typen, mit denen wir zusammenleben

Bild: Trent Parke / Agentur Focus / Magnum Photos

Einer der irritierendsten Augenblicke der vergangenen 18 Monate war für mich der Moment, in dem ich hörte, wie der Mörder meiner Frau vor Gericht einen zusammenhängenden Satz bildete. Seit Jills Ermordung waren fast sechs Monate vergangen, und das Verteidigerteam des Täters hatte gerade beantragt, die Verhandlung zur Beweisaufnahme um vier Wochen aufzuschieben. Der Angeklagte wurde per Video in den Melbourner Gerichtssaal zugeschaltet, in dem ich zwischen zwei Freunden saß. Eine angespannte Stille erfüllte den Raum. Nur ab und zu hörte man, wie in Unterlagen geblättert wurde. Als sein Gesicht auf dem großen Bildschirm erschien, wurde ich kurz von Ekel erfasst.

Der Richter fragte ihn, ob er den Gerichtssaal sehen könne. Er entgegnete, er sehe seinen Anwalt und einen Teil des Gerichts. Obwohl ich ihm schon öfter vor Gericht begegnet war, hatte ich bis dahin nie mehr von ihm gehört als ein eintöniges Nuscheln. Jetzt war seine Artikulation klar, seine Sätze hatten Struktur, seine Grammatik war korrekt – mich schauderte.

Ich hatte mir eingeredet, dass dieser Mann kein Mensch war, sondern das personifizierte Böse. Doch etwas an seiner Fähigkeit, Wörter zu sinnvollen Sätzen zu verbinden, zwang mich nun dazu, meine Sichtweise zu hinterfragen.

Neues Bild vom Kontext

Mit der Vorstellung, gewalttätige Männer seien psychotische oder soziopathische Abweichler, hatte ich mich lange vor einer viel beängstigenderen Einsicht geschützt – dass sie nämlich mit dem tiefsitzenden Sexismus und den fest verwurzelten Männlichkeitsvorstellungen sozialisiert werden, die unsere Gesellschaft durchdringen. Ich verließ das Gericht an jenem Tag mit dem Wissen, dass ich mir ein neues Bild vom gesellschaftlichen, institutionellen und kulturellen Kontext machen musste, in dem ein Mann wie er sozialisiert wird und lebt.

Meine Frau Jill Meagher wurde am 22. September 2012 auf ihrem Nachhauseweg von einem Pub in einem Vorort von Melbourne überfallen, vergewaltigt und erwürgt. Sechs Tage später wurde ihre Leiche 50 Kilometer entfernt vergraben gefunden. Drei Tage nachdem Jills Leiche entdeckt worden war, nahmen 30.000 Menschen an einem Trauermarsch entlang der Hauptstraße unseres Wohnorts teil. Ich sah im Fernsehen, wie all diese Menschen auf das, was Jill angetan worden war, mit Mitgefühl reagierten. Wie sie Anteil nahmen.

Nach dem Gerichtstermin, bei dem ich den Mörder zum ersten Mal sprechen gehört hatte, erinnerte ich mich an dieses Bild. Aus irgendeinem Grund identifizierten die Menschen sich mit diesem Fall. Ich fragte mich: Lässt sich diese Anteilnahme verallgemeinern? Und wenn ja, wie kann man das nutzen, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen? Dass die öffentliche Empörung nicht immer so groß ist, wenn ein Mann einer Frau Gewalt antut, liegt unter anderem daran, dass es oft keine archetypischen Bösewichte gibt. Und dass die meisten Fälle im Stillen verübt und erduldet werden, weil die Gewalt von jemandem ausgeht, den das Opfer kennt.

Je stärker ich die Unterstützung der Menschen spürte, desto schwerer fiel es mir, die schweigende Mehrheit derjenigen zu ignorieren, die nicht auf der Straße von „Monstern“ vergewaltigt und geschlagen werden, sondern in ihrem Zuhause von Freunden, Bekannten, Ehemännern, Liebhabern, Brüdern und Vätern.

Seit Jills Tod quillt mein E-Mail-Postfach über vor Nachrichten von Frauen, die mir von ihren Erfahrungen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Gewalt erzählen. Einige von ihnen sind Prostituierte, die keinen Sinn darin sehen, die Übergriffe anzuzeigen. Andere Frauen haben Angst, in ihrer Stadt zu bleiben, weil ihre Peiniger nur Bewährungsstrafen bekommen haben. Diese Fälle passieren Tag für Tag.

Obwohl die große Mehrheit von Männern Gewalt gegen Frauen verabscheut, sind sie in der Öffentlichkeit kaum zu diesem Thema zu hören. Das allgemeine Verhalten von Männern kommt in der Diskussion nur selten vor. Das führt dazu, dass Männer keinen Handlungsbedarf sehen, etwas zu verändern. Viele wissen noch nicht mal, wie weit verbreitet und vielfältig Gewalt gegen Frauen ist. Schon allein die Formulierung „Gewalt gegen Frauen“ klingt nach einer subjektlosen, blinden Naturgewalt. Weitaus seltener ist von „Gewalt von Männern gegen Frauen“ die Rede. Einer EU-weiten Studie von 2010 zufolge sind in jedem fünften Freundes- und Familienkreis Fälle von häuslicher Gewalt bekannt.

Dadurch, dass der Mörder meiner Frau wirklich den Archetyp eines „Monsters“ darstellte, gab er dem weitverbreiteten Mythos Nahrung, wonach Männer, die Frauen vergewaltigen, gewalttätige Fremde sind, die ihren Opfern nachstellen und zuschlagen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet. Dieser Mythos verzerrt die Wirklichkeit. Er betont die seltenste Form von Vergewaltigung und ignoriert die ganze Bandbreite an nicht einvernehmlichem Sex, der täglich stattfindet. Er dient dazu, den Grund für Vergewaltigungen eher im Verhalten des Opfers zu suchen als beim Täter.

Und der Monster-Mythos erlaubt uns, die öffentliche Verletzung weiblicher Souveränität in ihrer Bedeutung herabzustufen – schließlich ist der Mann, der sich übergriffig oder respektlos verhält, kein Monster. Er mag sich nicht immer korrekt benehmen, aber so jemand wie der ist er nicht. Wir können so etwas in Bars erleben, wenn Männer wütend und beleidigend werden, weil Frauen ihr Interesse nicht erwidern. Wir sehen es auf der Straße, wenn Männer in Gruppen Frauen Anzüglichkeiten hinterherrufen, sie anfassen, begrabschen und einschüchtern – und die Freunde dies entweder ignorieren oder sogar mitmachen. Und wir finden es in Männergruppen, in denen Vergewaltigungswitze erzählt werden.

Während die meisten rassistischen Kommentare unter Freunden niemals unwidersprochen durchgehen würden, unterbleibt der Widerspruch oft, wenn Gewalt von Männern gegen Frauen verharmlost wird. Es gibt zwei Möglichkeiten, sich dazu zu verhalten: Entweder grenzen wir unser Verhalten gegenüber dem Monster-Vergewaltiger ab. Oder aber wir gestehen uns ein, dass dieses Verhalten zu einer Kultur beiträgt, die Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen schweigend hinnimmt.

Als ich hörte, wie der Mörder meiner Frau normale Sätze bildete, erschauderte ich, weil ich mit der Vorstellung sozialisiert worden war, dass Vergewaltiger brabbelnde Irre sind, die Halbschuhe zu Trainingshosen tragen und die Socken bis an die Knie hochziehen. Viel mehr als eine solche Freak-Figur irritiert einen aber die Tatsache, dass die meisten Vergewaltiger normale Typen sind, Typen, mit denen wir zusammen arbeiten oder unsere Freizeit verbringen, Nachbarn, Familienmitglieder. Und wenn ein Mann seine Frau verprügelt, schieben wir das oft ohne nachzudenken auf die sozioökonomischen Umstände oder auf Alkohol und Drogen. Wir denken nicht daran, wie Jungs erzogen und in ihrem Blick auf Frauen sozialisiert werden.

Die Vorstellung eines lauernden Monsters ist dabei zweifellos ein nützlicher Mythos. Mit ihm können wir die Angst mildern, dass der Frau, die wir lieben, etwas angetan werden könnte. Ohne dass wir uns selbst und die von Männern dominierte Gesellschaft hinterfragen müssen.

Naiv und zynisch

Der Monster-Mythos dient auch als Rechtfertigung dafür, Frauen eine Reihe von Regeln aufzuerlegen, an die sie sich halten sollen, um nicht vergewaltigt zu werden. Dabei mischen sich Naivität und Zynismus auf befremdliche Weise. Naiv daran ist, dass Vergewaltiger als homogene Gruppe dargestellt werden, die man an ganz bestimmten Merkmalen zu erkennen glaubt. Zynisch ist die Haltung, weil solche Regeln uns erlauben, die Opfer zu klassifizieren: Wenn sie X getragen oder Y getrunken hat, nun ja, dann wird das Ungeheuer zuschlagen – hat sie die Regeln nicht verstanden?

Aber die Wahrheit ist: Keine dieser Regeln hätte den Mörder von Jill in jener Nacht davon abgehalten, eine Frau zu vergewaltigen. Und es würde diese Tragödie noch tragischer machen, wenn wir das, was Jill widerfahren ist, von Fällen von Gewalt von Männern gegen Frauen trennen würden, in denen das Opfer den Täter kannte, früher eine Beziehung mit ihm hatte oder mit ihm nach Hause gegangen ist. Man kann die Fälle nicht voneinander trennen. Wir dürfen nicht die Tatsache ignorieren, dass all diese Verbrechen dieselbe Ursache haben – gewalttätige Männer und das Schweigen nicht-gewalttätiger Männer.

Seit Jills Tod lese ich jeden Tag nach dem Aufwachen ein Zitat der afroamerikanischen Schriftstellerin Maya Angelou: „Die Geschichte kann trotz aller Schmerzen, die sie mit sich bringt, nicht ungeschehen gemacht werden. Doch wenn man ihr mit Mut begegnet, braucht sie nicht noch ein zweites Mal durchlebt werden.“ Damit Männer ihr Verhalten hinterfragen, braucht es diesen Mut. Wir können die Gewalt von Männern gegen Frauen nicht überwinden, ohne unser Schweigen zu brechen.

Tom Meagher engagiert sich für die White-Ribbon-Kampagne, eine internationale Organisation, die gegen die Gewalt von Männern gegen Frauen kämpft. Dieser Text erschien zuerst auf whiteribbonblog.com.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Tom Meagher | The Guardian

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