Nach dem Erdbeben: In den Hospitälern schwindet mit den Medikamenten die Moral
Syrien Im Nordwesten fühlen sich die Überlebenden des Bebens von der Welt vergessen. Währenddessen wollen Bewohner aus den Rebellengebieten nicht, dass sich die Vereinten Nationen bei ihrer Katastrophenhilfe mit der Regierung in Damaskus abstimmen
Unter den Verletzten sind in Syrien wie in der Türkei viele Kinder
Foto: Anas Alkharboutli/dpa
Ruqaya Mohammed Mustafa steht neben den verbliebenen Nachbarn und dem Haufen Schutt, der anzeigt, wo einst ihr Zuhause war. Müde begrüßt sie die ersten Bewohner des Ortes Jindires, denen sie seit dem Beben wieder begegnet. Die ganze Zeit über hätten sie hier im Norden Syriens um Hilfe gebettelt. Zuerst, um Überlebende aus den Trümmern zu graben, dann, um dem grausamen Griff des Winters zu entkommen, Schutz zu finden und Lebensmittel zu erhalten. „Wo war die Welt, als es darauf ankam?“, fragt die 58-jährige Ruqaya, umgeben von Überresten der Gebäude, in denen vermutlich bis zu 80 Menschen gestorben sind. „Warum unsere Geschichten erzählen, wenn davon nichts übrig ist?“
Assad fragen oder nicht
Als die Chefs der
Als die Chefs der internationalen Entwicklungshilfe in das von der Regierung Assad kontrollierte Damaskus und Aleppo reisten, war die Verzweiflung im von Rebellen kontrollierten Nordwesten erst in Wut, dann in Trauer umgeschlagen. „Wir haben gemerkt, dass wir mit kaum etwas rechnen konnten“, schildert Ruqaya das Erlebte. „Wir haben die Leichen mit bloßen Händen ausgegraben. Wen wir nicht erreichen konnten, der ist gestorben.“Da inzwischen als sicher gilt, dass unter den Steinhaufen von Jindires niemand mehr am Leben ist, hat ein Gerangel um lebensrettende Vorräte begonnen. Nicht zum ersten Mal fühlen sich die Bewohner Nordsyriens von einer Welt vergessen, die nach mehr als einem Jahrzehnt des Bürgerkrieges an ihr Leiden gewöhnt ist. Ein Statement der UNO aus der vergangenen Woche, wonach man die Zustimmung des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad erhalten habe, Grenzübergänge in den von Assad-Gegnern gehaltenen Nordwesten zu öffnen, zog Verachtung auf sich, auch in Jindires. Der Ort ist eine Zuflucht für Vertriebene aus allen Ecken Syriens, besonders für jene, die im Widerstand gegen das Baath-Regime standen und zu Emigranten im eigenen Land wurden. Einer von ihnen ist Tareq Aamer, der meint: „Die Vereinten Nationen bringen uns durch ihre Politik gegenüber Bashar noch mehr in Bedrängnis. Wozu müssen wir darauf warten, dass seine Regierung zustimmt, Grenzübergänge zu öffnen? Sie sind doch bereits offen. Warum fragt die UNO in Damaskus um Erlaubnis? Wo sind die Länder, die stets von sich behaupten, humanitär zu handeln? Sie scheinen sich mehr um Tier- als um Menschenrechte zu kümmern.“Der erste außerplanmäßige UN-Hilfskonvoi überquerte am 14. Februar die Grenze bei Bab al-Salam mit Zelten, Medikamenten und Decken. Das war nicht viel, gemessen an den kollektiven Bedürfnissen einer Provinz, die im zurückliegenden Jahrzehnt von mehr Not und Leid heimgesucht wurde als so viele andere Orte im Nahen Osten. Mouaz Moustafa, Exekutivdirektor der Syrian Emergency Task Force, glaubt, das Bemühen der UNO, sich mit der Assad-Regierung abzustimmen, sei überflüssig gewesen. Dies stütze sich auf eine enge und erbittert umstrittene Interpretation des Völkerrechts. „Das Assad-Regime hat kein Recht, die ultimative Autorität über das Schicksal von Millionen von Zivilisten zu beanspruchen, die in nicht vom Regime kontrollierten Gebieten leben.“ Die UNO brauche keine Resolution des Sicherheitsrates für grenzüberschreitende Hilfe, sie könne umgehend handeln. Warum erlaube sie es Assad dann, sich als der legitime Vertreter seines Volkes hinzustellen?Der 60-jährige Ali Bakr fordert ebenfalls mehr Beistand für die Bewohner von Jinderes – für die wenigen, die noch leben. Er lässt durchblicken, von 18 Familienmitgliedern habe außer ihm nur eines überlebt. „Ich brauche mentale Hilfe, um meine Nerven zu beruhigen. Ich habe ihre Leichen mit meinen eigenen Händen geborgen.“ Neben ihm steht Omran Sido, 36 Jahre alt und Vater von drei Kindern im Alter von vier Monaten, sechs und acht Jahren, die alle unter den Trümmern desselben Gebäude starben. „Wie werde ich mich jemals davon erholen?“, fragt er. „Es wird noch schlimmer, wenn man weiß, dass sein Schicksal niemanden interessiert.“In einer Sporthalle nebenan hat sich Wahid Khalil mit den Resten seiner Familie einquartiert. Die kleine Tochter liegt apathisch auf dem Boden und hat Fieber. Ein junger Arzt trägt sie durch eine Ansammlung von Männern und Frauen, die langsam durch ihre provisorische Unterkunft wandern. Etwas später kehrt er mit dem Kind zurück, das neben Medikamenten auch ein paar Süßigkeiten erhalten hat, ein seltener Hoffnungsschimmer nach einer dunklen Woche. Entlang der Straße nach Jindires, in der Nähe der mehrheitlich von Kurden bewohnten 40.000-Einwohner-Stadt Afrin hat ein Lastwagenkonvoi mit Hilfsgütern aus Saudi-Arabien geparkt. Es wehen Flaggen, die Lieferungen aus Katar ankündigen. Hilfsorganisationen, die in der Provinz Aleppo aktiv sind, haben aus ihren Depots alles verteilt, was es dort an Beständen gab. „Ich war in der Ukraine und sah alle fünf Meter UN-Fahrzeuge“, erzählt ein Mann in Afrin, einer der wenigen mit der Erlaubnis, die benachbarte Türkei zu besuchen und darüber hinaus zu reisen. „Ich verstehe, was sie dort durchmachen, aber geht es uns anders?“In den Hospitälern der Katastrophenzone geht mit den Medikamenten langsam auch die Moral zur Neige. Das Krankenhaus von Afrin, eines der größten in der Gegend, nahm in den Stunden nach dem Beben gut 750 Patienten auf, von denen viele schwer verletzt waren oder im Sterben lagen. Darunter befanden sich viele Kinder, denen Gliedmaßen amputiert werden mussten. „Das sind mit die schwierigsten Behandlungen“, sagt der Arzt Wadan al-Nasr, der die meisten Operationen vornahm. „Ich meine das nicht vom Fachlichen her.“ Auf einer Station liegt die dreijährige Nour, ihr linkes Bein ist in eine Decke gewickelt, das andere musste noch in den Trümmern des Hauses ihrer Familie amputiert werden, als neben dem Kind die geborgene Leiche der Mutter lag. Nours Vater kommt an den meisten Tagen in die Klinik. Nours Trost für die Zeit zwischendurch ist ein zur großen Hand aufgeblasener Luftballon. Die winzige Hand des Kindes hält einen seiner Finger.Placeholder authorbio-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.