Nackt unter Wölfen

Striptease Während Frauen zum Männerstrip gehen, um gemeinsam Spaß zu haben, geht es Männern bei der Fleischbeschau um Macht und Unterwerfung

Was sagen wir über uns selbst, wenn wir anderen dabei zusehen, wie sie sich ihrer Wäsche entledigen? Die Chippendales sind diesen Monat zum Start ihrer Europa-Tournee in Großbritannien und die Stripperinnen in den Nachtclubs können sogar täglich bewundert werden. Vergangene Woche habe ich mir in Edinburgh und London beides einmal angesehen, um herauszufinden, was sich abgesehen von nackter Haut dabei noch so alles offenbart.

Das Chippendale-Publikum strömt in die Halle. Es erweist sich als Mischung aus Barry Manilow-Fanclub, Kaffeekränzchen und Sex and the City: Alte Frauen, junge Frauen, schöne Frauen und wütende Frauen. Alle sind mit einer Gruppe gekommen, niemand ist alleine hier. Und alle wollen in der ersten Reihe sitzen – so nah am nackten Fleisch wie möglich. Ich rechne damit, dass manche Frauen wie Fledermäuse die Wände hochklettern werden, um vom Kronleuchter aus eine bessere Sicht zu haben. Alle sind aufgeregt – und zeigen das auch. Ihr Verhalten entspricht so ziemlich genau dem Gegenteil dessen, was man von Frauen erwartet, denen ein Mann gefällt.

Weswegen seid ihr hier?, frage ich eine Gruppe von Teenagern. „Nackte Männer!“, schreien sie. Und Sie?, frage ich eine Dame, die an die Achtzig sein muss. „Antike Möbel machen sich auf der Bühne ganz ausgezeichnet“, scherzt sie.

Girls' Night

Das Licht wird gedämpft und eine Stimme ruft: Willkommen zur ultimativen Girls’ Night in Edinburgh! Vergesst beim Rausgehen nicht am Stand mit den Fanartikeln vorbeizuschauen! Seid Ihr bereit?“ Ja!!!!, schreien wir und die Chippendales treten als Bauarbeiter verkleidet auf die Bühne. Sie schwenken ihre Oberschenkel hin und her und wirken dabei völlig ekstatisch, wie die Helden aus einem Cartoon.

Es macht Spaß. Ich klatsche. Ich weiß nicht, warum und wann das angefangen hat. Ich glaube aber nicht, dass wir den Chippendales applaudieren, wie sie sich durch jedes noch so abgedroschene Klischee weiblicher Sexual-Phantasien durchnudeln – der Polizist, der Feuerwehrmann, der Soldat, der Gangster. Wir applaudieren uns selbst, weil wir lüstern und bestialisch sein und das überdies auch noch herausschreien können.

Die Chippendales gehen ins Publikum. Ich hatte erwartet, die Frauen seien dreister, würden wie Profisportler nach den T-Shirts der Chippendales hechten, Zungenküsse simulieren und so tun, als wollten sie die Jungs begrabschen. Aber nichts dergleichen geschieht. Wenn sie uns zunahe kommen, werden wir auf einmal schüchtern. Statt auf sie zu zu rennen, entfernen wir uns von ihnen, gehen ihnen aus dem Weg. Es gibt tatsächlich im ganzen Raum keine einzige Frau, die mit einem Chippendale Sex haben möchte. Wir haben nur eine große Klappe, in unseren Schlüpfern tut sich nichts. Sex hat das Gebäude verlassen. Wir wollen Umarmungen, keine Zungenküsse.

Die Chippendales merken das und geben sich daraufhin onkelmäßig und sehr liebenswürdig. Sie umarmen uns und verteilen Handküsse. Von Sex-Göttern haben sie sich in nette Verwandte verwandelt. Vor der Halle treffe ich auf eine Frau, die sich ein T-Shirt erkämpft hat. „Mir ist es jetzt eigentlich gar nicht mehr so wichtig. Wollen Sie es?“, fragt sie mich.

Das weinende Nashorn

Szenenwechsel. Der Spearmint-Rhino-Club in London befindet sich unter der Erde und hat keine Fenster. Ein paar wenige Männer sitzen herum und sehen einer nackten Frau beim Tanzen zu. Es ist ein gedankenvoller, fast schon melancholischer Tanz. Im ganzen Raum verteilt, bemühen sich an die zwanzig junge Frauen in winzigen Kleidchen und Porno-Star-Schuhen um die Aufmerksamkeit der Männer. Das ganze macht einen freudlosen Eindruck, wenn das im Namen des Schuppens firmierende Nashorn ein Gesicht hätte, würde es weinen.

Finanziell sieht das schon etwas anders aus. Die Frauen zahlen pro Nacht 85 Pfund an den Club und verdienen 20 Pfund für einen persönlichen Striptease und 400 für einen „sit down“, bei dem sie die Männer bis zu einer Stunde in ein Separee begleiten und für sie tanzen. Um Geld zu verdienen, müssen sie betteln. Sie müssen auf die Männer zugehen und sie überreden zu bezahlen. Jede hat eine andere Technik. Eine lächelt aus der Entfernung. Eine andere wirft sich den Männern auf den Schoß. Wieder eine andere leckt sich die Lippen.

Ich beobachte einen älteren Mann, der ein Gesicht hat wie Graf Dracula und mit einer atemberaubend schönen jungen schwarzen Frau Händchen hält. Er hat ihr bislang noch keinen Tanz abgekauft. Sie hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben und hält deshalb tapfer seine Hand. Er kneift sie in den Oberschenkel. Sie lacht. Ein anderer Mann schaut einer blonden Frau zu, die neben der Bar an einer Stange tanzt. Er starrt sie an und gähnt dabei unverhohlen. Sie legt den Finger auf die Lippen und sagt „Sch!“

Graf Dracula und die Macht

Der Manager bringt zwei Mädchen zu mir, die mit mir reden sollen. Die eine ist ungefähr 30 und hat ein schönes, katzenhaftes Gesicht. Die andere ist jünger und hat das vollkommene, offene Gesicht eines Kindes. Ihre Brüste sind vollständig einzusehen. Ich frage sie, ob es vorkommt, dass sie beim Tanzen selbst Erregung empfindet? „Nie“, sagt die Kindliche. „Das ist ein Job wie jeder andere“, sagt die andere. „Es gibt gute Tage und es gibt schlechte Tage.“

„Es gibt vier verschiedene Typen von Männern, die hierher kommen. Da gibt es die, die glauben, sie würden hier ihre nächste Frau finden. Dann gibt es die neugierigen Männer, die Geschäftsleute, die mit ihren Klienten hierher kommen, um einen Deal zu besiegeln und dann gibt es die, die nie Geld ausgeben.“ Sie deutet in Richtung von Graf Dracula. „Er ist an vier Abenden die Woche hier und hat noch nie für einen Tanz bezahlt.“ Er fummelt immer noch am Schenkel des schwarzen Mädchens herum.

Warum also machen sie es? „Des Geldes wegen“, sagt das jüngere Mädchen. Manchmal macht sie 2.000 Pfund pro Nacht. Was gefällt ihnen daran? „Nichts“, sagt sie. „Stell dir vor, du musst dir vier Jahre lang jede Nacht dasselbe Gespräch reinziehen. Möchtest du 20 Mal pro Nacht gefragt werden, was dein Tattoo bedeutet? „Jeder junge Kerl wünscht sich doch, mal eine Stripperin abzuschleppen“, sagt die Ältere. „Die älteren Männer wissen, dass wir auf sie zugehen. Sie haben die Wahl. Es ist ein Macht-Trip.“

Ich wollte eigentlich nicht zu einem derart prosaischen Ergebnis kommen wie: die Chippendales sind gut, Striplokale sind schlecht. Auch als die Chippendales schmutzige Cowboys gespielt haben, habe ich mich gefragt, was sie antreibt, das zu tun. Aber wenigstens werden sie dafür bewundert und vergöttert. Die Machtverhältnisse im Spearmint Rhino sind völlig andere. Hier können die Männer erleben, dass wundervolle Frauen um ihre Gunst wetteifern, die dies im wahren Leben niemals tun würden. Spaß oder auch nur Wertschätzung sind hier Fremdwörter – eine dunkle Seite menschlicher Sexualität.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Tanya Gold, The Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

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