Next Level

Jubiläum Vor zwanzig Jahren tauchte in Backstage-Räumen, subversiven Werbespots und Trendmagazinen eine Spielkonsole auf. Die Generation Playstation wurde geboren
1999: Die Generation Playstation bei der Arbeit
1999: Die Generation Playstation bei der Arbeit

Bild: KAZUHIRO NOGI/AFP/Getty Images

Der Raum war schwarz gestrichen und vom Rest des Clubs durch eine kleine, verdunkelte Treppe abgetrennt. Wer herunterkam, sah erst nur eine Reihe flackernder Bildschirme, aber beim Eintreten wurde klar, was hier ablief: Im Londoner Ministry of Sound, Hochburg der Clubkultur der Mitt-90er, gab es einen Bereich voller Leute, die Playstation spielten.

Der Öffentlichkeit präsentiert wurde die Revolution der Videospielindustrie am 3. Dezember 1994 in Japan. Damals teilten sich Hersteller wie Nintendo und Sega den Markt auf, versorgten Kinder und männliche Teenager mit Konsolen, die aussahen, wie Konsolen immer ausgesehen hatten, und auf denen die immer gleiche Art von Spielen lief. Doch nun setzte Sony ihnen ein Gerät mit zukunftsweisendem 32-Bit-Prozessor und stark verbesserter Grafikhardware entgegen, speziell auf 3-D-Bilder in Echtzeit zugeschnitten. Die starren Hintergrundgemälde gehörten der Vergangenheit an. Das Game-Design trat in eine neue Ära ein.

Es ging aber nicht nur um verbesserte Grafik. Mit der Playstation traf Sony in Sachen Technik und Marketing eine ganze Reihe von Grundsatzentscheidungen, die dem Videospiel zu einem ungeahnten Reifeprozess verhalfen. So war es dem zuständigen Entwicklungsingenieur Ken Kuturagi ein Anliegen, die Spiele nicht mehr – wie noch für den Sega Mega Drive – auf Kassette, sondern auf CD zu vertreiben.

„Das ganze Kassettenmodell war ein Alptraum“, sagt Jim Ryan, Europa-Präsident von Sony Computer Entertainment: „Die Dinger waren teuer, und man musste sie bestellen, noch ehe man wusste, wie das fertige Spiel war. Die CD dagegen weckte in den Leuten die Risikofreude.“

Mit dem Siegeszug der Playstation ging ein Boom neuartiger, experimenteller Spiele einher. In Japan unterstützte Sony selbst so ungewöhnliche Projekte wie die Rhythmusspiele PaRappa the Rapper und Vib Ribbon, während andere Studios die erweiterten Audiomöglichkeiten der Konsole für interaktive Tanzspiele wie Bust a Groove und Dance Dance Revolution nutzten. In den USA drangen die Entwickler unterdessen mit Titeln wie Pro Skater und Pro BMX in die aufstrebende Extremsportszene vor. Die Games wurden zum Teil der Lifestyle-Avantgarde.

Eine Schlüsselfigur bei dieser Erschließung neuer Märkte war der Brite Geoff Glendenning. Selbst langjähriger Gamer, sah er, wie die Industrie junge Erwachsene, die mit dem Mega Drive oder der Nintendo SNES aufgewachsen waren, aus den Augen verlor. Während alle anderen sich weiter auf Kinder und Teenager fixierten, entdeckte er die Über-20-Jährigen als neue Zielgruppe. Und er wusste, wie er sie kriegen konnte. „Dem Konzept der großen TV-Werbekampagnen – je öfter der Konsument ein Produkt zu sehen bekommt, desto mehr Wirkung – stand ich eher zynisch gegenüber“, sagt er. „Ich hatte Ende der 80er selbst zur Rave- und Clubszene gehört und wusste, wie sehr sie die jungen Leute prägte. Zwar war die Clubkultur in den frühen 90ern zum Massenphänomen geworden, aber die entscheidenen Impulse gingen immer noch vom Untergrund aus. Und dessen Meinungsführer – DJs, aber auch Leute aus der Musikindustrie, aus der Modebranche und von den Szenemagazinen – mussten wir gewinnen.“

Also sprachen Glendenning und sein Team Clubbesitzer und Festivalorganisatoren an und richteten die speziellen Playstation-Räume ein, in denen die Clubber sich ausruhen und Demoversionen von Spielen testen konnten. Das Ganze aber ohne offizielle PR.

„Marketingbudgets wurden damals weit im Voraus festgelegt, doch wenn es um Jugendkultur geht, kannst du nicht für die nächsten zwölf Monate planen“, erklärt er. „Also machte ich eine grobe Kalkulation und versteckte pro Jahr mindestens 100.000 Pfund in einer schwarzen Kasse. Auf die Weise konnte ich schnell reagieren. Wenn mich am Donnerstag jemand anrief und sagte, wir haben am Samstag ein kleines Snowboard-Event, dann konnte ich sagen, okay, ich geb’ euch 500 Pfund dazu, oder tausend, oder ein paar Preise zum Verlosen.“

1997 gab es allein in Großbtitannien 52 Clubs mit Playstation-Räumen. Sony-Niederlassungen in anderen Ländern folgten dem Beispiel, und bald sponserte der Konzern Musikfestivals rund um die Welt, darunter Big Love, Tribal Gathering und Lollapalooza. Berühmt wurde eine Werbepostkarte für das Glastonbury-Festival 1996, die über dem Playstation-Logo den bunten Schriftzug „More powerful than God“ – „Mächtiger als Gott“ – trug. Die Karte war ‚zufällig’ so perforiert, dass sie sich in lauter perfekt passende Filter für Joints zerlegen ließ. Die größere Kontroverse löste allerdings der Spruch aus. „Er war im ganzen Stadtzentrum von Glastonbury groß plakatiert“, erinnert sich Glendenning. „Sony handelte sich damit Fatwa-Drohungen ein.“

Vor der Playstation hatten sich die japanischen Konsolenhersteller wenig für das kreative Potential Europas interessiert. Sony aber verfügte, anders als Sega und Nintendo, weder über eine große eigene Entwicklungsabteilung noch über feste Geschäftsbeziehungen mit japanischen Studios wie Capcom, Konami und Taito. Darum kaufte der Konzern 1993 das britische Entwicklungsstudio Psygnosis auf und übergab ihm einen der ersten Playstation-Prototypen. Lee Carus, der bei Psygnosis arbeitete, blickt zurück: „Eines Tages wurde ein Büroraum in unserem Gebäude in Liverpool komplett abgeriegelt, Zutritt nur für wenige Auserwählte. Wir konnten es alle nicht abwarten zu sehen, was hinter dieser Tür steckte, und als wir endlich hineindurften, waren wir überwältigt. In dem Raum stand ein glänzender Metallkasten, etwa so groß wie ein Bürokopierer. Wir schalteten ihn ein, drückten ein paar Knöpfe, gingen durch ein paar Menüs. Und plötzlich erwachte auf dem Schirm ein 3-D-Tyrannosaurus zum Leben. Das haute uns um.“

Entsprechend beflügelt arbeitete die Crew an dem Spiel, mit dem die Konsole in Europa eingeführt werden sollte: dem heute legendären „Wipeout“, mit seinen Renn-Raumgleitern, die in hypnotisierender 3-D-Grafik über den Bildschirm rasen. Um das anvisierte club-affine Ü-20-Publikum zu beeindrucken, ließ Sony die damals schwer angesagten Grafiker von The Designers Republic Embleme für „Wipeout“ entwickeln und bediente sich bei der eigenen Musikabteilung für einen zeitgeistnahen Soundtrack – mit Stücken von den Chemical Brothers, Leftfield und Orbital.

„Das war kein wässriger Pop, das war harte Tanzmusik“, sagt Carus. „Die Leute kamen nach Hause, spielten „Wipeout“ und hörten dabei das Gleiche wie vorher im Club. Für damals war das ein ziemlich mutiger Ansatz.“

1994 gingen Sony-Angestellte bei Spielentwicklern in Europa und den USA auf Tour, um sie für die Playstation zu gewinnen. Und während Sega und Nintendo ihre teuren Entwicklungssets nur widerwillig an eine Handvoll westlicher Studios ausgaben und dabei wenig technische Unterstützung boten, wollte sich Sony ein globales Netzwerk aufbauen. Die Playstation wurde entwicklerfreundlich gestaltet, als Programmiersprache kam das weit verbreitete C zum Einsatz, und die Studios konnten auf CD-Roms voller nützlicher Grundprogramme und Grafiksammlungen zurückgreifen.

„Wir waren die ersten in dem Geschäft, die auf drei sehr starke regionale Säulen – Japan, Europa und die USA – setzten“, sagt Sony-Europa-Präsident Ryan. „Das hat entschieden zu unserem Erfolg beigetragen.“

So erhielten die Studios in Europa stets umgehend die neuesten Hardwareversionen und konnten sich ungehemmt von der traditionellen Spielhallengrafik wegbewegen, die in den japanischen Spielen vorherrschte. Die Firma Reflections Interactive schuf wegweisende Rennspiele wie „Destruction Derby“ oder „Driver“. Core Design steuerte den Welterfolg „Tomb Raider“ bei, anfänglich noch parallel für Playstation und Sega Saturn, später exklusiv für Sony. Und Rockstar brachte das anarchische „Grand Theft Auto“ auf die Konsole.

In den USA fühlten sich junge Firmen wir Naughty Dog und Insomniac zu Innovationen im Bereich der Jump’n’Run-Spiele angespornt und entwickelten in den „Crash Bandicoot“– und „Spyro the Dragon“-Serien faszinierende neue Bewegungsabläufe.

„Mit der Playstation ist das Durchschnittsalter der Gamer von 14 auf 23 gestiegen“, resümiert Glendenning. „Sie hat das Spielen cool gemacht, zu einem festen Bestandteil der Jugendkultur. Niemandem ist es mehr peinlich zuzugeben, dass er Konsole spielt. Aber die Wirkung geht auch weit über die Spielindustrie hinaus. Wir konnten zeigen, dass sich Marken nicht dadurch aufbauen, dass man Millionen in Fernsehwerbung steckt. Sondern sie werden durch Mundpropaganda geschaffen. Bei Sony haben wir die ganze Vermarktung hausintern gemacht, all die Stunts und Guerrilla-Ideen. Das Fernsehen diente nur dazu, die schon geschaffene Marke zu fördern.“

1999 war es dann aber doch das Fernsehen, in dem Sony seinen Stolz auf den eigenen, neuen Ansatz im Konsolengeschäft auf den Punkt brachte: in Gestalt des einminütigen TV- und Kinowerbespotts „Double Life“, entwickelt von der Agentur TBWA. Er zeigt eine Abfolge seltsamer, interessanter Personen, und dazu beschreibt eine Off-Stimme, wie die Videospiele es ihnen erlauben, dem Stumpfsinn ihres Alltags zu entfliehen, Armeen zu befehligen, Welten zu erobern. So sprach Sony zur Menschheit: Ihr seid alle komisch, ihr müsst euch alle mal aus der Wirklichkeit ausklinken, und egal, wie alt oder wie cool ihr seid – ihr seid jetzt alle Gamer.

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Übersetzung: Michael Ebmeyer
Geschrieben von

Keith Stuart und Steve Boxer | The Guardian

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