I’m really a witch“, „Ich bin wirklich eine Hexe“, twitterte Azealia Banks, und sogleich war auf ihrem Twitterkonto die Hölle los. Banks ist für ihre Online-Tiraden bekannt; sie neigt zu steilen Thesen und schlagkräftigen Formulierungen. Und auch wenn viele ihrer Gedanken klüger sind, als es auf den ersten Blick scheint, kann kein Mensch auf Erden ihr immer zustimmen. Aber in diesem Fall wurde es selbst für ihre Verhältnisse bizarr. Es geschah mitten in einem Tweet über schwarze Amerikaner und ihr Verhältnis zum Christentum:
„Ich frage mich, ob die meisten schwarzen Christen in den USA wissen, warum sie Christen sind. Ich frage mich, ob sie zumindest eine Sekunde darüber nachdenken, dass ihre Vorfahren, ehe sie nach Amerika kamen, an etwas anderes geglaubt haben könnten.“
So weit, so gut, doch dann bog Banks scharf ab, und man wusste nicht genau, ob es ein Scherz sein sollte: „Eigentlich dreht sich alles um Magie. Die magischsten Menschen sind die, die unterdrückt werden, denn die nichtmagischen beneiden sie. Darum sind Juden und Schwarze in der Geschichte immer und immer wieder verfolgt worden. Weil sie am meisten Magie haben … Was ich damit sagen will: Schwarze sind geborene Seher, Wahrsager, Hexen und Zauberer. Wir haben echte übernatürliche Kräfte, und je eher wir alle lernen, sie auszubilden und anzuwenden, desto eher können wir wirklich was bewegen.“
Dann witzelte sie noch, dass sich der Rassismus wirksamer bekämpfen ließe, wenn Schwarze ihre Gegner mit Gedanken krank machen oder sogar töten könnten. Die rechtsgerichteten Medien schlugen Alarm.
Neue Glaubensformen
Indem sie sich öffentlich als Hexe bezeichnete, löste Banks echte Ängste aus, auch bei denen, die betonen, dass sie gar nicht an Hexerei glauben. Sie wurde behandelt, als wolle sie ernsthaft Ernten verbrennen oder Gegner lähmen. Die Reaktionen waren so heftig, dass man glauben könnte, Banks sei die erste Frau, die auf die dunkle Seite übergewechselt wäre. Aber weit gefehlt: Wer magische Praktiken ausübt, und seien sie so harmlos wie das Legen von Tarot-Karten, erfreut sich unter politisch engagierten jungen Frauen wachsender Beliebtheit.
Die jüngste Staffel von American Horror Story, in der sich Hexerei und heutige Girlpower verknüpfen, war die bisher erfolgreichste. Das beliebte Tumblr-Blog Charmcore, angeblich von drei Hexenschwestern betrieben, erteilt sarkastisch-magische Lebenshilfe und feiert weibliche Promis als „offensichtliche Hexen“. Das Teenager-Onlinemagazin Rookie bietet neben feministischen Ratschlägen und Modetipps auch Tarot-Lehrgänge an, und selbst Autostraddle, ein linkes Blog für junge Lesben, hat seine Tarot-Kolumnistin. Überhaupt: Tarot-Karten gibt es längst nicht mehr nur im Esoterikhandel zu kaufen, sondern ebenso in trendigen Nippes- oder hippen Klamottenläden. Und niemand wundert sich heute mehr über Heilkräuter oder Zaubertränke.
Azealia Banks’ Bekenntnis knüpft an einen Frauenaktivismus an, der schon in den 70er Jahren die Macht der Hexerei beschwor. „Indem wir das Wort Hexe für uns einfordern, fordern wir unser Recht ein, als Frauen kraftvoll zu sein“, schrieb eine gewisse Starhawk 1979 in ihrem wegweisenden Buch The Spiral Dance. „Eine Hexe zu sein heißt, sich mit 9 Millionen Opfern von Hass und Engstirnigkeit zu identifizieren und Verantwortung zu übernehmen für die Gestaltung einer Welt, in der Vorurteile keine Opfer mehr fordern.“
The Spiral Dance hat sich allein auf Englisch in mehr als 300.000 Exemplaren verkauft. Für viele bedeutete das Buch die Initation in die erdverbunden-spirituelle Bewegung Wicca, die in den 1950ern entstanden war und heute in den USA und vielen anderen Ländern als Religion anerkannt wird. Kulturgeschichtlich ist das Buch eines der besten Dokumente über eine Phase des Feminismus, die vor kurzem noch als gründlich aus der Mode gekommen galt. Es weist in eine Zeit, als „weibliche Spiritualität“ gefeiert wurde und Frauen die Religionen radikal umschrieben oder neue Glaubensformen erfanden.
„Es war, als täte sich ein Vorhang auf, und die Menschen merkten, es gab ja nicht nur Judentum, Christentum und Islam. Es gab eine ganze Welt der östlichen Religionen und Traditionen. Und als in den 70ern die Frauenbewegung neu auflebte, begannen viele von uns die Göttinnen-Traditionen in Europa und im Nahen Osten zu erforschen“, erinnert sich Starhawk.
Im Zentrum von Wicca steht eine Göttin, dennoch ist die Lehre recht offen für Interpretationen und damit als Basis für feministische Spiritualität besonders geeignet. Aber auch Frauen, die keine Wicca-Anhängerinnen waren, fühlten sich von hexenhaften Weltbildern angezogen. So fand das „Motherpeace Deck“ weite Verbreitung, ein feministisch inspirierter Satz Tarot-Karten, den nicht zuletzt Bestsellerautorin Alice Walker (Die Farbe Lila) unermüdlich anpries. Psychologinnen wie Jean Shinoda Bolen und Clarissa Pinkola Estés griffen in ihren Büchern auf Göttinnen-Mythen zurück, um weibliche Subjektivität zu erklären.
Dass all das gerne als substanzloser Hokuspokus abgetan wird, als „Esoterik“ eben, ist Starhawk bewusst: „Aber wir sind nicht bekloppter als die meisten anderen Religionen“, sagt sie, „und weit weniger bekloppt als einige davon.“ Ihr The Spiral Dance mischt politische Botschaften unter die Zaubersprüche und Rituale: seien es Betrachtungen zu sexueller Gewalt, zum Umweltschutz und zu anarchistischer Gruppenbildung oder Überlegungen, wie Männer ihre patriarchale Konditionierung überwinden können.
Während Starhawk und andere die Hexerei als Religion betrieben, wählten nichtreligiöse Feministinnen die Hexe zum Symbol für ihre politischen Botschaften. Das Kollektiv WITCH – das diese Buchstaben als Abkürzung immer wieder neu aufschlüsselte, etwa als „Women’s International Terrorist Conspiracy from Hell“ („Internationale terroristische Frauenverschwörung aus der Hölle“) – erregte mit seinen Protestaktionen Aufsehen, etwa als es die New Yorker Börse verhexte. In ihren Gesängen persiflierten die Frauen die Hexen aus Shakespeares Macbeth: „Double bubble, war and rubble / When you mess with women, you’ll be in trouble“ („Doppelt brodelt, Krieg und Trümmer / Wer Frauen dumm kommt, der kriegt Ärger“).
Aus Müll Gold machen
„Solche Aktionen konnten in kleinen Gruppen gemacht werden, sie waren lustig und politisch zugleich, darum breiteten sie sich schnell über die ganzen USA aus“, schreibt die Politologin Jo Freeman. „Frauen in Boston verhexten Kneipen. Frauen in Washington verhexten die Amtseinführung des Präsidenten. Frauen in Chicago verhexten einfach alles.“
Und Beth Maiden, die Kolumnistin von Autostraddle, fügt hinzu: „Wir identifizieren uns gerne mit den Geschichten von Frauen, die in der Vergangenheit verfolgt wurden – mit weisen Frauen, Hexen oder auch den ‚Küchentisch-Heilerinnen‘, die außerhalb des patriarchalen Medizinsystems stehen.“
Heute fließt dieses spirituelle Erbe in den feministischen Mainstream ein, es ist oft leiser (wenn nicht gerade Azealia Banks twittert) und fügt sich in den allgemeinen Trend einer „Spiritualität ohne Religion“. Dabei muss es laut Maiden dann auch gar nicht nebulös zugehen. „Eins der größten Komplotte der männerdominierten Gesellschaft ist die Unterdrückung der weiblichen Intuition. Manchmal findest du doch jemanden auf Anhieb gruselig: Da spricht deine Intuition zu dir.“
In diesem Sinn kann die Hinwendung zur „Hexerei“ für Frauen ein Weg sein, Selbstvertrauen aufzubauen. Und natürlich kommt der Reiz des Unschicklichen dazu, also etwas zu tun, was sich „für eine Frau nicht gehört“. „Es ist ein tolles Gefühl, gerade die Aspekte der Weiblichkeit, die in der herrschenden Kultur als Zeichen von Schwäche gelten, etwa die emotionale Empfindsamkeit oder den Monatszyklus, als Werkzeuge zum Kartenlesen oder für Zaubersprüche anzuwenden“, sagt Marty Windahl, die das Blog Tarotscopes betreibt. „Das ist für mich das Herzstück des Hexeseins: alles auf den Kopf zu stellen. Das – und aus Müll Gold zu machen.“
Ob lesbisch oder hetero, ob weiß oder schwarz, religiös oder atheistisch: Letztlich zieht „die Hexe“ so viele an, weil es ein poetisches Bild ist. Die seltsame Frau am Rand der Siedlung, unheimlich, vielleicht hässlich, vielleicht verhasst, vielleicht verrückt, vielleicht aber klüger als jeder andere in der Stadt: Diese Hexe sind wir alle.
Und die Rapperin Azealia Banks? Die hat ihre Hexen-Rolle ausgebaut und twittert nun über Vollmondpartys, Kartenlesen und ihr Kräuterschränkchen: „Sag den weißen Medien, dass du ein Voodookönig bist, dass du gern Hühnerblut trinkst und Glasscherben kaust. Verstehen werden sie dich eh nicht, hör auf, dich darum zu bemühen. LOL.“
Übersetzung: Michael Ebmeyer
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