Nicht rechts, sondern gar nicht

Wahlverhalten Psychologisch überzeugend, politisch fragwürdig – der Autor Jonathan Haidt bestätigt im Guardian unfreiwillig seine These, wir seien moralisch voreingenommen
Wähler im US-Staat Wisconsin beim versuchten Recall von Gouverneur Scott Walker
Wähler im US-Staat Wisconsin beim versuchten Recall von Gouverneur Scott Walker

Foto: Scott Olson/ Getty Images

So unwahrscheinlich es sein mag: Ich bin mit einem Zeugen Jehovas befreundet. Eines Tages, nachdem wir wir uns schon länger kannten und die anfängliche Befangenheit ein wenig abgelegt hatten, fragte er mich, ob er den Versuch unternehmen dürfe, mich dazu zu bewegen, Jesus in mein Leben zu lassen. Ich versprach, ihm eine Chance zu geben. Einiges von dem, was er sagte, klang plausibel. Doch seine Geschichte fiel in meinen Augen an dem Punkt in sich zusammen, als er behauptete, die Menschen seien in biblischen Zeiten viel moralischer gewesen als heute. Ich hielt dagegen, dass die Hälfte des Alten Testaments sich lese wie eine göttliche Anleitung zum Völkermord.

„Mag sein“, erwiderte mein Freund, „aber es gab viel weniger Unzucht.“ An diesem Punkt wurde mir klar, dass Leute, die im selben Viertel leben, sehr verschiedene Moralvorstellungen haben können. Hier setzt der Psychologe Jonathan Haidt in seinem Buch The Rightous Mind auf faszinierende und überzeugende Art und Weise an. Es ist gleichzeitig aber auch das Thema, bei dem er ins Straucheln kommt und kläglich scheitert, wenn er versucht, seine Erkenntnisse auf die Politik zu übertragen, wie er dies in der vergangenen Woche im Guardian getan hat.

Drei Säulen

Gestützt durch eine Menge von Versuchsdaten stellt Haidt die Behauptung auf, wir würden unsere moralischen Entscheidungen eher auf Grundlage bereits vorhandener Wertvorstellungen treffen als auf der Basis strategischer Überlegungen. Unseren Verstand würden wir erst danach einsetzen, um Rechtfertigungen für die Entscheidungen zu finden, die wir bereits getroffen hätten. „Unser moralisches Denken ähnele sehr viel stärker einem Politiker, der versucht, Wählerstimmen zu gewinnen, als einem Wissenschaftler, der auf der Suche nach der Wahrheit ist.“ Unsere Anschauungen werden von den Gruppen geprägt, zu denen wir gehören, und sie helfen auch, diese Gruppen zusammenzuhalten.

Die moralischen Codes westlicher Linker basieren laut Haidt auf drei Säulen: dem Streben nach Fürsorge und Absicherung statt nach Risiko, nach Freiheit statt Unterdrückung, nach Fairness statt Betrug.
Konservative Politiker hätten im Gegensatz dazu „eine größere Bandbreite an Möglichkeiten, mit ihren potenziellen Wählern in Verbindung zu treten, da ihr moralisches Narrativ zwar auch auf den drei genannten Säulen basiert, darüber hinaus aber noch drei weitere kenne: Loyalität/Betrug, Autorität/Subversion, Unantastbarkeit/ Zerfall. „Die meisten Amerikaner“, so behauptet er, „wollen nicht in einer Gesellschaft leben, die sich in erster Linie auf Fürsorge gründet“.
Die Arbeiter würden sich bei ihrer Wahlentscheidung eher nach „moralischen Interessen“ richten als nach wirtschaftlichen Themen. Wenn Leute befürchteten, dass ihre Gesellschaft kollabieren könnte, hätten sie das Bedürfnis nach „Ordnung und nationaler Größe, nicht danach, dass die Regierung sich mehr um sie kümmert.“ Dies helfe zu verstehen, warum „Leute aus der Arbeiterklasse rechts wählen, wie das bei den meisten in den USA der Fall ist“.

Grassierende Wahlabstinenz

Haidts Analyse wurde auf beiden Seiten des Atlantik mit großer Begeisterung aufgenommen. Doch seine Bewunderer scheinen etwas übersehen zu haben: Während seine psychologischen Befunde durchgehend belegt sind, findet sich nichts dergleichen für seine Behauptungen in Bezug auf das Wahlverhalten, weder in seinem Artikel, noch in seinem Buch. Dass er keine Belege anführt, liegt daran, dass es keine gibt und seine Behauptungen schlichtweg falsch sind.

Larry Bartels, Politologie-Professor in Vanderbilt (Nashville) weist darauf hin, dass die politischen Ansichten der Wähler aus der weißen Arbeiterklasse in den USA „in den vergangenen 30 Jahren praktisch gleich geblieben sind“. Der Anteil derjenigen, die Demokraten wählen, ist unter den Geringverdienern sogar gestiegen. Politische Entscheidungen in dieser Klasse würden nach wie vor überwiegend von ökonomischen Erwägungen geprägt. Es gebe „keinerlei Hinweise“ darauf, dass sich in Bezug auf das, was Haidt moralische Werte nennt, in dieser Bevölkerungsgruppe etwas verändert habe. Die Demokraten hätten nur bei den wohlhabenderen Wählern an Unterstützung verloren. „Der ökonomische Status hat bei der Gestaltung des Wahlverhaltens an Bedeutung gewonnen, nicht verloren.“

Das eigentliche Thema ist sicherlich die Wahlbeteiligung. In den USA ist sie schon seit langem gering und liegt bei Präsidentschaftswahlen im Schnitt zwischen 50 und 60 Prozent und bei den Wahlen zum Kongress zwischen 30 und 40 Prozent. Im Großbritannien ist sie von 84 Prozent im Jahr 1950 auf 65 Prozent 2010 gesunken. Eine Untersuchung des Institute for Public Policy Research zeigt, dass der Einbruch weitgehend auf die Wahlabstinenz von Jüngeren und Ärmeren zurückzuführen ist.

Der Hauptgrund liegt nach Ansicht des Instituts darin, dass es bei den Wahlen um nicht mehr viel geht. Der größte Rückgang in der Wahlbeteiligung in der jüngeren politischen Geschichte Großbritanniens (von 1997 bis 2001) belegt diese These. 1997 hatten die Jungen und Armen noch das Gefühl, wirklich zwischen zwei politischen Modellen wählen zu können. 2001 hatte dann Tony Blair die Labour-Party so weit nach rechts gerückt, dass kaum noch von einer Wahl die Rede sein konnte.
Wenn Haidt und seine Bewunderer Recht hätten, bestünde die richtige Strategie für Labour, die US-Demokraten und andere ehemals fortschrittliche Parteien darin, sogar noch weiter nach rechts zu schwenken. Wenn aber das Problem in Wahrheit nicht darin besteht, dass die abhängig Beschäftigten ihre Wahlpräferenzen gerändert haben, sondern dass sie überhaupt nicht mehr wählen gehen, weil sie zwischen den ihnen offerierten politischen Angeboten keinen Unterschied erkennen, besteht das richtige politische Rezept im genauen Gegenteil: Wieder weiter nach links zu rücken und nicht „Ordnung und nationale Größe“ in den Vordergrund zu stellen, sondern Fürsorge und wirtschaftliche Gerechtigkeit.

Jonathan Haidt The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

George Monbiot | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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